IM AUFTRAG DER SOCIETE DES AMIS DE L'UNIVERSITE DE PARIS G.W. F. HEGEL DAS LEBEN JESU HARMONIE DER EVANGELIEN NACH EIGENER ÜBERSETZUNG NACH DER UNGEDRUCKTEN HANDSCHRIFT IN UNGEKÜRZTER FORM HERAUSGEGEBEN VON PAUL ROQUES VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS JENA 1906 VORWORT s ist in der letzten Zeit der Wunsch nach einer ungekürzten Ausgabe der von Rosenkranz nur imAuszuge mitgeteilten theologischen Fragmente Hegels (Vgl. Rosenkranz, Hegels Leben, Berlin 1844, S. 490 — 514) mehrmals laut geworden. In dem auf der Königl. Bibliothek zu Berlin befind- lichen Hegeischen Nachlaß nehmen alle theologischen Fragmente aus Hegels Jugendzeit drei Bände ein. (Bd. 7, Das Leben Jesu, Harmonie der Evangelien nach eigener Übersetzung, 1794 — 95. Bd. 8, Verhältnis der Vernunftreligion zur positiven Religion, 1795 — 9^- Bd. II, Theologica, 1793 — 96. Über den Begriff der Religion, 1800). Wir bringen im vorliegenden Bande einen un- gekürzten Abdruck des 7. Bandes des Nachlasses. Ferner sind aus Bd. 1 1 alle Bruchstücke hinzugekommen, die unzweifelhaft zum Thema des Lebens Jesu gehören. Somit dürften alle auf die Person Jesu bezüglichen Fragmente, ausgenommen die in Bd. 8 enthaltenen, zur Herausgabe gelangt sein. Orthographie und Interpunktion haben wir den modernen Regeln angepaßt, sonst aber den Urtext genau wiedergegeben. Die in Kursivschrift stehenden Wörter haben wir zur Ergänzung oder grammatischen Verbesserung des Manuskripts hinzufügen müssen. Die von Hegel ausgestrichenen Stellen sind beibehalten worden, stehen aber in eckigen Klammern. Von Erläuterungen und Ver- gleichen mit Parallelstellen aus dem übrigen noch ungedruckten Material haben wir grundsätzlich abgesehen, da erst nach Heraus- gabe des ganzen Nachlasses an eine erschöpfende Kritik gedacht werden kann. Ebenso haben wir auf eine kritische Anordnung der oft nur lose zusammenhängenden Fragmente verzichtet, viel- mehr dieselben in gleicher Reihenfolge abgedruckt, wie sie im Manuskript zusammengeheftet sind ; denn eine solche Anordnung hätte vielleicht willkürlich geschienen und jedenfalls nur unter Weglassung oder Austrennung von ganzen, schwerlich einzu- fügenden Stellen zustande gebracht werden können. Bruch- stücke, Paralipomena liegen uns vor, die doch einmal ohne jede Veränderung seitens des Herausgebers abgedruckt werden mußten, VI VORWORT die aber jedermann nun für sich deuten und anordnen darf. Für unser Teil haben wir die Lektüre des stellenweise schwerver- ständlichen Textes durch kurze Inhaltsangabe zu erleichtern ver- sucht, sowie ein Register aufgestellt. Möge die vorliegende Aus- gabe des Lebens Jesu dazu beitragen, der Hegeischen Philosophie zu neuer Anerkennung zu verhelfen und manchen Leser zur Durchsicht und weiteren Herausgabe des ungedruckt gebliebenen Hegeischen Nachlasses anregen. Der Generaldirektion der Königl. Bibliothek zu Berlin, die uns bereitM'illigst die Erlaubnis zur Durcharbeitung sämtlicher Hand- schriften und zur Herausgabe des Lebens Jesu erteilte, sprechen wir unsern Dank aus. EINLEITUNG ertvoUe Angaben über das Leben Jesu befinden sich bei Rosenkranz und Haym, denen der ganze Nachlaß vorlag, und zwar hat Rosenkranz (Hegels Leben, 1844, S. 49 — 53) hauptsächlich die Ent- stehungsgeschichte, Haym (Hegel und seine Zeit, 1857, S. 46 — 53) die philosophische Tendenz und das psychologische Interesse von Hegels Jugendwerk berück- sichtigt. Keiner der folgenden Biographen aber hat Einsicht in die Manuskripte genommen. Am gründlichsten haben Caird (1883), K.Fischer (190 1) und Drews (Hegels Religionsphilosophie, Diederichs Verlag, 1905, Historische Einführung S. XL — XLVII) das schon vorhandene Material verwertet. Im Herbst 1793 verließ Hegel nach bestandenem Kandidaten- examen das Tübinger Stift, weilte einige Wochen in seiner Vater- stadt Stuttgart und nahm darauf eine Hauslehrerstelle bei einem Berner Patrizier, Herrn Steiger von Tschugg, an, die er bis Ende 1796 bekleidete. Aus den damals von Hegel an Schelling ge- schriebenen Briefen geht hervor, daß Hegel von seinem Amt in Bern sehr in Anspruch genommen war. «Ganz müßig bin ich nicht, aber meine zu heterogene und oft unterbrochene Be- schäftigung läßt mich zu nichts Rechtem kommen» (an Schelling, 24. Dez. 1794; vgl. Briefe von und an Hegel, herausg. von Karl Hegel, 1887. S. 7). Dazu kam der Mangel an Lektüre in Bern selbst und noch mehr auf dem Lande, denn im Frühling und Sommer wohnte die Familie des Herrn Steiger aufschloß Tschugg, in der Vogtei Erlach, am Bieler See gelegen. «Meine Entfernung von allen Büchern», so klagt Hegel, «und die Eingeschränktheit meiner Zeit erlauben mir nicht, manche Idee auszuführen, die ich mit mir herumtrage» (Jan. 1795 ; vgl. Briefe, S. 12). Daraus erklärt sich die bruchstückartige Form der Notizen, die Hegel in dieser Zeit niederschrieb, und die teils das Wesen der Religion und die Möglichkeit einer Volksreligion, teils die christliche Lehre und die Person Jesu zum Gegenstande haben (Nachlaß, Bd. 7 und 11). Erst nachdem mehrere von diesen Fragmenten aufgezeichnet waren, schrieb Hegel im Frühjahr 1795 das eigentUche «Leben Jesu» nieder. VIII EINLEITUNG Nicht spurlos war die Aufklärung an Hegel vorübergegangen. Er war der kirchlichen Dogmatik, dem dumpfen Beharren «im System des Schlendrians> höchst abgeneigt (vgl. Brief an SchelUng, Jan. 179 5) und bewegte sich ganz in Lessingschen Anschauungen, als er folgende Einleitung zu einer unausgeführt gebliebenen Dar- stellung der christlichen Religion schrieb: «In bezug auf die Sache selbst wird hier bemerkt, daß überall der Grundsatz zum Fun- dament aller Urteile über die verschiedene Gestalt, Modifikationen und Geist der christlichen Religion gelegt worden sei, daß der Zweck und das Wesen aller wahren Religion und auch unserer Religion Moralität des Menschen sei und daß alle speziellen Lehren des Christentums, alle Mittel dieselben auszubreiten, alle Pflichten zu meinen und sonst an sich willkürliche Handlungen zu beob- achten, nach ihrer näheren oder entfernteren Verbindung mit jenem Zweck in Ansehung ihres Wertes und ihrer Heiligkeit ge- schätzt werden» (Nachlaß Bd. 11). Im subjektiven Gefühl schien ihm der Hauptwert der Religion zu liegen : «Inwiefern ist Religion zu schätzen.^ Als subjektive oder als objektive? In Ansehung der Empfindung vorzüglich? Die objektive ist vielmehr Theologie. — Auf subjektive Religion kommt alles an. Diese hat eigentlich wahren Wert. Die Theologen mögen sich über die Dogmen, über das, was zur objektiven Religion gehört, über die näheren Bestimmungen dieser Sätze streiten; jeder Religion liegen einige wenige Fundamentalsätze zugrunde, die nun in den verschiedenen Religionen mehr oder minder modifiziert, verunstaltet, mehr oder weniger rein dargestellt sind, die den Grund allen Glaubens, aller Hoffnungen ausmachen, welche die Religion uns an die Hand gibt. Wenn ich von Religion spreche, so abstrahiere ich schlechter- dings von aller wissenschaftlichen oder vielmehr metaphysischen Erkenntnis Gottes, unseres und der ganzen Welt Verhältnisses zu ihm, usw. Eine solche Erkenntnis bei der sich bloß der räso- nierende Verstand beschäftigt, ist Theologie, nicht mehr Religion. Von objektiver ReUgion spreche ich nur insofern, als sie einen Bestandteil der subjektiven ausmacht» (Bd. 11). Selbst im Jahre 1796, als der Sinn fürs historisch Festgesetzte in ihm lebendig wurde, ließ er zwar der positiven Religion in der Abhandlung : «Über das Verhältnis der Vernunftreligion zur positiven Religion» EINLEITUNG IX (Nachlaß, Bd. 8) gewissermaßen Recht widerfahren, aber er be- tonte nicht sowohl ihren dogmatischen als ihren psychologischen Wert; er erklärte sie aus menschlichen Herzensbedürfnissen und fand sie nur als Volksreligion berechtigt. Er war jedem Dogma- tismus so sehr abgeneigt, daß er auch den aus der Aufklärung entsprungenen bekämpfte, nämlich die Tendenz des Kantischen Moralismus wieder in Dogmatismus umzuschlagen; die Ethiko- theologie schien ihm wieder zur Physikotheologie hinüberzu- leiten: «Zu dem Unfug, wovon Du schreibst, hat unstreitig Fichte durch seine Kritik der Offenbarung Tür und Angel geöffnet; er selbst hat mäßigen Gebrauch davon gemacht, aber wenn seine Grundsätze einmal fest angenommen sind, so ist der theologischen Logik kein Ziel und Damm mehr zu setzen. Er räsoniert aus der Heiligkeit Gottes, was er vermöge seiner moralischen Natur tun müsse und solle und hat dadurch ^die alte Manier, in der Dogmatik zu beweisen, wiedereingeführt» (an Schelling, Jan.1795, Briefe, S. 11). Damit aber war Hegel über die Aufklärung hinaus. Die Auf- klärung trug noch viel Verstandesmäßiges, Positives in sich, viel moralische Wertmaßstäbe und Nutzanwendungen ; Hegels Stand- punkt aber war nicht der der diskursiven, sondern der intuitiven Erkenntnis. Dies erhellt z. B. in seinem «Leben Jesu» aus seiner Besprechung des Eingangs des Johannesevangeliums, wo es heißt: «Im Anfang war der Logos, der Logos war bei Gott und Gott war der Logos»; aber diese Sätze, meint Hegel, sind nicht als gewöhnliche Urteile aufzufassen, in welchen einem Subjekt ein Prädikat hinzugefügt wird; Prädikat und Subjekt sind ein und dasselbe, ein Seiendes, Lebendiges, denn jedes über Göttliches in Form der Reflexion Ausgedrückte wäre widersinnig. Desgleichen ist das Verhältnis Gottes zur Welt kein toter Zusammenhang, keine Entgegensetzung des Vernünftigen gegen das Sinnliche, sondern eine Verbindung, die wahrhaft nur als lebendiger Zu- sammenhang genommen und bei welcher von den Verhältnissen der Bezogenen nur mystisch gesprochen werden kann. Daher durfte sich Jesus als Sohn Gottes bezeichnen ; dies Verhältnis des Sohnes zum Vater ist nicht bloße Vereinigung im Begriffe, sondern lebendige Beziehung Lebendiger, gleiches Leben, nur Modifika- X EINLEITUNG tionen desselben Wesens; Gottes Sohn ist dasselbe Wesen, das der Vater ist, zwar für jeden Akt der Reflexion, jedoch auch nur für einen solchen ein Besonderes. Im selben Sinn leugnete Hegel das Wunder. Er versuchte nicht, es durch verstandesmäßige Reflexion, etwa als von den Jüngern Jesu nicht verstandene Natur- erscheinungen hinzustellen ; er leugnete es einfach deshalb, weil es der Vernunft widerstreite. Im Wunder als einzelnem Gescheh- nisse, meinte er, könne sich unmöglich das Göttliche off"enbaren, denn Göttliches sei nicht Geschehendes, sondern Allgemeinseien- des; es heiße die Vernunft herabwürdigen, wenn man die Wunder exegetisch zu erklären versuche, denn man tue schon dadurch, daß man mit den Wunderverteidigern auf das Feld des Verstandes heruntersteige, der Autonomie der Vernunft Abbruch: «Denn, wenn man auch schon von jedem einzelnen Wunder zeigen könnte, daß es sich natürlich erklären lasse, so hat man dem Verteidiger schon zu viel eingeräumt. Auf die Führung des Streites vor den Richterstuhl des Verstandes sich einzulassen, beweist schon, daß uns die Erzählung von Wunderbegebenheiten stutzig gemacht hat, daß wir es nicht allein vom Standpunkt der Vernunft aus wagen, sie von der Hand zu weisen, sondern daß die Tatsachen, die man uns als Wunder ausgibt, fähig sein könnten, jene Selb- ständigkeit der Vernunft umzustoßen» (Vgl. Rosenkranz, S. 511). Dieselbe Neigung Hegels nur nach dem Ganzen hinzustreben, das Einige, Lebendige hervorzukehren, macht sich auch in seinem Wegwerfen jeder positiven Moral, jeder Sittenrichterei, ja selbst des Kantischen Imperativs geltend. Moralprinzipien sind für den Menschen ein Fremdes, Äußerliches, ein Entgegensetzen des Sein- sollenden und der Natur. Am Kantischen Sittlichkeitsbegriffe hielt doch Hegel insofern fest, als er dem Menschen das Bewußt- sein seines absoluten Wertes, seiner Gottähnlichkeit verschaffe. «Vom Kantischen System und dessen höchster Vollendung er- warte ich eine Revolution in Deutschland. Man wird schwindeln bei dieser höchsten Höhe, wodurch der Mensch so sehr gehoben wird; aber warum ist man so spät daraufgekommen, die Würde des Menschen höher anzuschlagen, sein Vermögen der Freiheit anzuerkennen, das ihn in die gleiche Ordnung der Geister setzt?» (An Schelling, 16. April 1795. Briefe, S. 15). EINLEITUNG XI Aus jenem fortwährenden Betonen des Vernünftigen und jenem Vertrauen auf die Allmacht des menschUchen Geistes läßt sich erkennen, daß Hegel sich schon damals über das Grundproblem seiner spätem Philosophie, nämlich das Wirklichwerden von Vernunft und Freiheit durch Überwindung aller beschränkenden Bestimmungen klar geworden war. Aber er hatte noch nicht die ganze spekulative Kraft seines späteren Denkens erreicht; daher hat die Art, wie er jetzt die das menschliche Denken und Wirken hemmenden Schranken aufzuheben versuchte, noch wenig von der späteren Dialektik an sich. Vielmehr hat sein Philosophieren einen starken Zug ins Mystisch-poetische ; seine Weltanschauung ist eine überwiegend ästhetische; ist doch Schönheit, wie Ver- nunft, Versöhnung der Gegensätze, Offenbarung des Absoluten. Am tiefsten ist Hegel damals von Dichtern beeinflußt worden. Schiller, den er eifrig las, hatte eben durch seinen ästhetischen Idealismus die Gegensätze überwunden, bei denen Kant stehen geblieben war; er hatte im Ideal der «schönen Seele» Sinnlich- keit und Sittlichkeit, Neigung und Pflicht, Notwendigkeit und Freiheit, Natur und Geist versöhnt. Hölderlin, mit dem Hegel sich auf dem Tübinger Stift befreundet hatte, begeisterte ihn für die Schönheit der griechischen Welt; unzweifelhaft schwebte Hegel das Griechentum vor, als er von jeder positiven Religion eine lebendige Harmonie von Kirche und Staat, ein schönes Ver- hältnis des Gottesdienstes und der übrigen Lebensformen, sowie Befriedigung des Gemüts und der Phantasie in den Grenzen ver- nünftigen Glaubens verlangte (Nachlaß, Bd. ii). Mit Schelling endlich, den er ebenfalls auf dem Stifte kennen lernte, hatte er das Bedürfnis nach Totalität, nach Auflösung aller Gegensätze in unmittelbarer Einheit gemein; bekanntlich hörte er erst ums Jahr 1803 ^uf, der SchelHngschen Identitätsphilosophie zu huldigen und versuchte, nicht durch mystische Anschauung des Absoluten, sondern durch schrittweise durchgeführte Dialektik zur Idee vor- zudringen. So mischen sich in Hegels damaliger Bildung der Rationalis- mus der Aufklärung, ästhetische Weltanschauung und über- schwengHche Mystik. Alles dies tritt in den vorliegenden Frag- menten deutlich hervor. Unter denselben nimmt das eigentliche XII EINLEITUNG Leben Jesu eine eigene Stelle ein. Kein Bruchstück ist es, sondern ein vollständiges Manuskript in Reinschriftform. Obgleich Hegels Anlage zum Erzählen gering war, bequemte er sich doch, das rein Faktische des Lebens Jesu vorzutragen, ohne dasselbe begrifflich zu deuten. Die schlichte Erzählung macht eben deswegen einen starken Eindruck, weil Hegel völlig unbefangen die Geschichte Jesu erzählt. Ihm war Jesus ein bloßer Mensch, dem zwar das Gött- liche rein zum Bewußtsein gekommen war, der aber als Mensch lebte und starb. Von den Wundern sah Hegel gänzlich ab, legte aber das Gewicht auf das Predigen Jesu. Er stellte keinen exege- tischen Vergleich der Evangelien an, da ihm wenig am geschicht- lichen Detail lag und er das kirchlich-dogmatische Interesse des Neuen Testaments nicht ins Auge fassen wollte. Nie erregt er durch persönliche Bemerkungen Anstoß; die Erzählung schreitet ruhig vorwärts; in voller Wirkhchkeit erscheint der Mensch Jesus, wie er mitten unter den Juden lebte und webte. Einfach realistisch ist die Darstellung. Nach der Harmonie der Evangelien faßte Hegel die Hauptereignisse des Lebens Jesu und die Hauptzüge seiner Lehre zusammen, als wäre Jesus ein Sokrates gewesen. Auch hier schwebten ihm in der Tat griechische Ideale vor: nicht als Erlöser der leidenden Menschheit im Sinne des Christen- tums, sondern als Philosoph und Held wird Jesus hingestellt. Die Fragmente zerfallen in folgende Teile: i. Moral Jesu, (seine neue Beurteilung menschlicher Werte, Liebe, Versöhnlichkeit). 2. Religion, (Reich Gottes, die Taufe, der Mensch als Sohn Gottes). 3. Geschichte, (Verhältnis Jesu zum Judentum, Ausbreitung seiner Lehre). Meistenteils sind die auf Moral und Religion bezüglichen Fragmente kaum als ein Kommentar zum Leben Jesu zu betrachten. Das Neue Testament gab Hegel nur den Anstoß zur Darlegung eigner Anschauungen allgemeinphilosophischen Inhalts. Hegels Tendenz, das Faktische zu logisieren, tritt deutlich in die Er- scheinung. Es war ihm hauptsächlich darum zu tun, den Text der EvangeUen gedankenmäßig zu verarbeiten. An der Lebens- geschichte und Lehre Christi entwickelt er Begriffe, und zwar überhaupt solche, in die das Element der Empfindung und mysti- scher Anschauung hineinspielt, als da sind die der Liebe, des un- entzweiten Lebens, der Vereinigung mit Gott im Glauben usw. EINLEITUNG XIII Der Inhalt jener Fragmente mag in logischer Anordnung folgen- dermaßen dargelegt werden. Von einem Zustand absoluter Entgegensetzung und Zerrissen- heit ausgehend, versucht Hegel den Weg zum Zustand völliger Einheit und Harmonie zu zeigen. Bei jeder Zerreißung natür- licher Bande trete unausbleiblich dem Menschen das verletzte Leben als Schicksal entgegen, eine feindliche Macht, die es zu versöhnen gelte. Ais solche trete zuerst das Gesetz auf, das durch die Strafe befriedigt werde. Aber das Gesetz sei nur eine Ver- einigung im Begriff, nämlich die Gleichsetzung des verletzten und des eignen verwirkten Lebens. Der Verbrecher bleibe mit der Welt und mit sich selbst entzweit; denn Leben sei von Leben nicht verschieden, und indem der Verbrecher fremdes Leben zu zerstören und sich damit zu erweitern vermeine, habe er sein eignes zerstört und die Freundlichkeit des Lebens in einen Feind verkehrt. Erst dadurch, daß er im Bewußtsein seiner selbst die Zerstörung seines eignen Lebens fühle und sich nach dem Verlorenen sehne, vereinige er sich mit dem verletzten Leben und versöhne das Schicksal. Darin, daß das Feindliche als Leben gefühlt werde, in der Liebe also liege die Möglichkeit der Ver- söhnung. Ein reines Gemüt, eine schöne Seele vergebe die Sünden, trete in die Verhältnisse der Freundschaft und Liebe sogleich wieder ein. Liebe sei völlige Hingebung, Verzichten auf Indivi- dualität, lebendige Vereinigung der Gegensätze. Diese allgemein- philosophischen Motive bilden, sozusagen, selbständige Aufsätze (von Rosenkranz unter dem Titel «Das Schicksal und seine Ver- söhnung», «Die Liebe und die Scham» mitgeteilt; vgl. Hegels Leben S. 493 ff.). Aber Hegel bezog sie in konkreter Form auf die Lehre Jesu. Jesus machte es sich zur Aufgabe, jedes Objektive zu vernichten, jedes äußere Gesetz aufzuheben. Die Wurzel des Judentums war das Objektive, d. h. der Dienst des Fremden; die Juden waren Knechte, sie gehorchten widersinnigen Satzungen und Formeln, sie waren mit sich selbst entzweit. Moralität hebt diese Entzweiung auf, aber Moralität (im Kantischen Sinne) ist nicht lebendige Vereinigung mit dem Gesetz des Lebens, sondern selbst Entzweiung, Entgegensetzung der objektiven Pflicht und der Neigung. Vereinigung findet nur in Liebe statt; reine Tugen- XIV EINLEITUNG den sind nur Modifikationen der Liebe. Durch Liebe also ver- suchte Jesus die Passivität der Juden zu überwinden ; er wollte sie befreien, ihre beschränkten Gesetze zu lebendigen Beziehungen vervollständigen; er strebte danach, jede Beschränkung des ge- wöhnlichen Daseins aufzuheben, stellte also keine neuen Satzungen auf; seine Parabeln enthalten kein Fabula docet, sondern stellen den Fortgang des Lebendigen dar. Das Gesetz als Herrschendes wird also durch Tugend, die Be- schränktheit der Moralität durch Liebe aufgehoben; dies ist der Sinn der Moral Christi. Dennoch, so führt nun Hegel weiter aus, ist die Liebe als Empfindung unvollständiger Natur. Unbefriedigte Liebe ist pathologisch und bleibt als Sehnsucht nach unerreichtem Ideal im Zustand der Trennung und Zerrissenheit. Zwar ist in der glücklichen Liebe kein Raum für Objektivität, aber jede Reflexion stellt die Objektivität wieder her, und damit beginnt wieder das Gebiet der Beschränkungen. Erst Religion hebt die Schranken der Liebe auf, denn Religion ist Reflexion mit Liebe vereint, Er- kenntnis und Verehrung der durch Einbildungskraft objektiv ge- machten Liebe. Wie überhaupt der realistische Sinn Hegels ihn stets dazu trieb, in seinen idealistischen Monismus (Panlogismus oder Pantheismus) einen starken Zug ins Konkrete einzumischen, jedes Vernünftige als in sinnlicher Verkörperung verwirklicht anzusehen, so räumte er auch hier dem Theismus soviel ein, daß Gott objektive Realität habe, freilich nicht in dem Sinne, als wäre er ein Fremdes, wohl aber als die gestaltete Liebe. Wahre Religion war ihm eine Synthese des subjektiven Gefühls und eines objek- tiven Göttlichen, wogegen rein subjektive Religion leicht in Schwärmerei, rein objektive in Knechtschaft übergehe. Die Ge- meine erkennt sich als in Gott vereinigt; Gott ist das Bild ihrer Einigkeit, die sichtbar gewordene Liebe der Gemeine, und die christUche Religion ist die Verehrung des verklärten Jesus als des lebendigen Bildes Gottes. Damit ist Religionsgefühl nicht mehr unauslöschlicher, unbefriedigter Trieb nach Vereinigung, sondern vollendete Harmonie. Daher konnte Hegel im Abend- mahl keine eigentlich religiöse Handlung erblicken, sondern ledig- lich eine Handlung der Liebe. Wein und Brot, meint er, seien kein Göttliches, da sie kein bleibendes Objektives seien. Dadurch, EINLEITUNG XV daß Wein und Brot genossen werden, verschwinde das Bild, worin sich Anschauung und Gefühl, Objektives und Subjektives ver- einigen könnten. Nach dem Genüsse des Abendmahls kehre die an ein Objektives geheftete Empfindung von dieser Objektivität zu ihrer Natur zurück und werde wieder bloß subjektiv ; es ent- stehe bei den Christen ein wehmütiges Staunen ; es war etwas Göttliches versprochen und es ist im Munde zerronnen. Dagegen sei Gott als Darstellung der die Gemeine vereinigenden Liebe ein wahrhaft Objektives; der Zustand vollständiger Vereinigung der Gemeine im Glauben an jenes Objektive sei das von Jesu ange- kündigte Reich Gottes, nicht etwa die von den Juden erwartete Weltherrschaft, sondern ein Lebendigwerden aller menschlichen Beziehungen durch die Liebe, in welcher die Mitglieder der Ge- meine Gott und sich als Gottes Kinder erkennen. Fand aber Hegel in der Religion Jesu die Bestätigung seiner eignen mystischen Anschauungen, so verhehlte er sich doch nicht, daß die Lehre Jesu außerhalb der engeren christlichen Gemeine keinen Anklang gefunden, keinen Zustand schöner Freiheit her- beigeführt habe. Es erübrigt nur noch diese seine Würdigung des der Lehre Jesu beschiedenen Erfolgs, also den historischen Teil seiner Aufzeichnungen kurz darzulegen. Der erhabene Ver- such Jesu, das jüdische Schicksal zu überwinden, mußte in seinem Volke fehlschlagen, und er selbst ein Opfer desselben werden. Die Feindschaften, die Jesus aufzuheben suchte, mußten durch Tapferkeit, nicht durch Liebe überwältigt werden. Bald trat Jesus selbst aus der ganzen Existenz seines Volkes heraus und sprach schonungslos seine ganze Verachtung gegen die jüdische Knecht- schaft unter objektiven Geboten aus. Um nicht in einen Bund mit dem Gewebe jüdischer Gesetzlichkeiten einzutreten, suchte er die Freiheit nur in der Leere; er isolierte sich von seiner Mutter, seinen Brüdern und Verwandten; er durfte nicht Familienvater, nicht Mitbürger werden und verlangte dasselbe von seinen Jüngern ; er kam nicht, der Erde Frieden zu bringen, sondern das Schwert; er lebte ohne Genuß in der negativen Tätigkeit des Kampfes und fand keine Aussöhnung des Schicksals, sondern Schicksalslosig- keit durch Flucht in unerfülltes Leben. Christliche Liebe sollte und konnte nicht eine Vereinigung der Individualitäten sein, XVI EINLEITUNG sondern bloße Vereinigung in Gott, wie denn auch die Liebe der Jünger Christi bloß gegenseitiges Bewußtsein gemeinschaftlichen Glaubens war und in ihrer Religion verwirklicht wurde, sonst aber weltfeindlich blieb und alle schönen natürlichen Verhältnisse des menschlichen Lebens verkümmern ließ, und es ist das Schicksal der christlichen Religion geblieben, daß Kirche und Staat, geistliches und weltliches Tun nie in eins zusammenschmelzen können. Aber auch als Religion verlor bald nach dem Tode Jesu seine Lehre selbst im engen Kreise der Gemeine die Harmonie inniger Vereinigung. Die Jünger Jesu waren wie Schafe ohne Hirten. Jesus war ihr lebendiges Band, das göttliche Bild ihrer Liebe ge- wesen; ihre sehnende Liebe hielt zwar auch ferner an diesem Göttlichen fest, in dem auferstandenen Jesu fanden sie die Dar- stellung ihrer Einigkeit wieder; es kam aber zum Bilde des Auf- erstandenen viel Beiwesen, vollkommen Individuelles, Ungött- liches hinzu, das dem durch Apotheose Vergötterten immer wie Blei an den Füßen hängt und ihn zur Erde herabzieht. Wie Her- kules durch den Holzstoß, hat sich Jesus durch ein Grab zum Gott emporgeschwungen; aber nicht nur der Erstandene, auch der Lehrende, Wunder Verrichtende und am Kreuz Hängende wird angebetet; diese ungeheure Verbindung ist es, über welche seit so vielen Jahrhunderten Millionen gottsuchender Seelen sich ab- gekämpft und gemartert haben, und die Beigesellung des wirk- lichen Jesu zum verklärten gewährte dem Trieb nach Religion keine Befriedigung, denn dem unendlichen, ungestillten Lechzen nach Göttlichem steht immer jenes Positive entgegen, welches nie zu einem Göttlichen werden kann. So wurde nun Hegel, nachdem er die christliche Religion in ihrer ursprünglichen Form als Vernunftreligion ins Auge gefaßt hatte, zur näheren Prüfung der Frage hingedrängt, warum die Lehre Christi sich zu einer positiven Religion entwickeln mußte. Mit diesem Problem befaßte er sich in einer Reihe weiterer, noch ungedruckter Aufzeichnungen, in welchen die vorliegenden Frag- mente ihre natürliche Fortsetzuns: haben. CHARTRES IM APRIL 1906 PAUL ROQ.UES 1 DAS LEBEN JESU on Anbeginn war die Weisheit; sie thronte bei Gott und war Gott selbst. Schon von Anbeginn war die Weisheit bei Gott; sie schuf alles, und nichts von allem, was ist, wurde ohne sie. Diese Weisheit ist eins mit der belebenden Gotteskraft, welche schon früher die Menschen erleuchtete. Nur faßten im Alten Testament die Menschen den göttlichen Strahl nicht, bis Johannes die Erscheinung desselben in Jesu vorbereitete, Joh. I, 14. Aö^a, die moralische Geistesgröße und Hoheit Jesu, von der sich alle seine Schüler und Verehrer aus dem persönlichen Umgang mit ihm überzeugen konnten. II, 19. «Reißet immer diesen Tempel, an dem nun beinahe ein halbes Jahrhundert gebaut wird, ein! Ich baue ihn in drei Tagen.» Das heißt: «Dieser Tempel, das Palladium eurer Theo- kratie, forderte die Kunst eines halben Jahrhunderts; meine Auf- fassung ruht auf keinem Tempel und ist in kürzerer Zeit ge- gründet.» Matth. X, 23. Luk. IX, 20. «Mehrere unter euch werden Zeugen sein, daß meine moralische Gotteslehre über die Staats- religion des Judentums siegt.» — Matth. XIX, 28. Das Sitzen Jesu auf seinem majestätischen Thron drückt auch hier seine un- sichtbare Herrschaft durch die Wahrheit und Göttlichkeit seiner Religion aus. Cf. Luk. XXII, 30, 69. Matth. XXVI, 63. «Freilich bin ich Christus, nur nicht der von euch erwartete Volksmessias, sondern nur der höhere moralische Christus, der eine neue Religion gestiftet hat, und der nun bald, zur Himmelsherrlichkeit erhoben, euch als Richter eurer Bosheit und Hartnäckigkeit erscheinen wird. » Luk. IV, 4. Der Mensch braucht eben nicht irdische Güter zu einem glückseligen Leben; besser sind die geistigen Güter Weis- heit und Tugend. Hegel, Das Leben Jesu 1 G. W. F. HEGEL Joh. I. Die reine, aller Schranken unfähige Vernunft ist die Gottheit selbst. Nach Vernunft ist also der Plan der Welt über- haupt geordnet. Oft ist sie zwar verfinstert, aber doch nie ganz ausgelöscht worden; selbst in der Finsternis hat sich immer ein schwacher Schimmer derselben erhalten. Unter den Juden war es Johannes, der die Menschen wieder auf diese ihre Würde aufmerksam machte, die ihnen nichts Fremdes sein sollte, sondern die sie in ihrem wahren Selbst, nicht in der Abstammung, nicht in dem Triebe nach Glückseligkeit, nicht darin suchen sollten, Diener eines groß geachteten Mannes zu sein, sondern in der Ausbildung des göttlichen Funkens, der ihnen zu- teil geworden ist, der ihnen das Zeugnis gibt, daß sie in einem erhabnem Sinn von der Gottheit selbst abstammen. Ausbildung der Vernunft ist die einzige Quelle der Wahrheit und der Be- ruhigung, die Johannes nicht etwa ausschließend oder als eine Seltenheit zu besitzen vorgab, sondern die alle Menschen in sich selbst aufschließen können. Mehr Verdienst aber um die Besserung der verdorbenen Maximen des Menschen und um die Erkenntnis der echten Moralität und der geläuterten Verehrung Gottes hat sich Christus erworben. Der Ort, wo er geboren wurde, war ein Dorf Bethlehem in Judäa. Seine Eltern waren Joseph und Maria, (die sonst in Xazareth in Galiläa ansässig waren, aber nach Bethlehem, dem Stammort der Familie Josephs, reisen mußten, um sich dort in die Liste, die von der jüdischen Volksmenge im Befehl Augusts gemacht wurde, einschreiben zu lassen), wovon jener sein Geschlecht von David ableitete, nach Art der Juden, die viel auf Ahnentafeln hielten. Jesus wurde nach den jüdischen Gesetzen acht Tage nach seiner Geburt beschnitten (Luk. II, 21). Von seiner Erziehung ist nichts bekannt, als daß er früh (Luk. II, 41) Spuren von einem nicht gemeinen Verstand und Interesse an religiösen Gegenständen genommen habe, wie ein Beispiel davon angeführt wird, daß er sich in seinem zwölften Jahre einst von seinen Eltern verlief, sie dadurch in großen Kummer setzte, aber von ihnen im Tempel zu Jerusalem unter Priestern gefunden wurde, die er durch die für sein Alter ungewöhnlichen Kennt- nisse und Beurteilungsvermöo;en in Verwunderung setzte. Von DAS LEBEN JESU 3 seiner fernem Bildung als Jüngling bis zu der Zeit, da er selbst als gebildeter Mann und Lehrer auftrat, von der ganzen so höchst merkwürdigen Entwicklungsperiode bis zum dreißigsten Jahre sind nur folgende Nachrichten auf uns gekommen, daß er (Luk. III, Matth. III) in Bekanntschaft mit dem obengenannten Johannes kam, der sich der Täufer nannte, weil er die Gewohnheit hatte, diejenigen, die seinen Aufruf, sich zu bessern, annahmen, zu taufen pflegte. Dieser Johannes fühlte den Beruf in sich, seine Lands- leute auf höhere Werke, als bloßen Genuß, aufbessere Erwartungen, als die Wiederherstellung des ehemaligen Glanzes des jüdischen Reiches aufmerksam zu machen. Der Ort, wo er lehrte und sich aufhielt, war gewöhnlich eine abgelegene Gegend, seine sonstigen Bedürfnisse sehr einfach; sein Kleid bestand in einem kamel- härenen Mantel mit einem ledernen Gürtel, seine Speise in Heu- schrecken, die in jenen Gegenden eßbar sind, und Honig von wilden Bienen. Von seiner Lehre ist im allgemeinen nur bekannt, daß er die Menschen zur Sinnesänderung, diese durch Taten zu beweisen aufrief, daß die Juden, die wegen ihrer Abkunft von Abraham derselben nicht bedürften, um der Gottheit wohlgefällig zu sein, im Irrtum seien; und wenn die, welche zu ihm kamen, Reue über ihre bisherige Ansicht zeigten, so taufte er sie, — eine symbolische Handlung, die nach der Ähnlichkeit des Abwaschens der Unreinlichkeiten auf die Ablegung einer verderbten Sinnes- art hindeutete. So kam auch Jesus zu ihm, und ließ sich von ihm taufen. Doch scheint Johannes nicht eine Ehre darein gesetzt zu haben. Jünger zu haben, und sie an sich zu knüpfen, denn als er in Jesu die großen Anlagen entdeckte, die er in der Folge bewies, so bezeugte er ihm, daß er nicht nötig habe, getauft zu werden, und wies auch andere an, sich an Jesum zu wenden und von ihm sich belehren zu lassen, und bezeugte auch nachher (Joh. III, 27) seine Freude darüber, als er hörte, daß Jesus so viele Zuhörer finde, und so viele taufe; doch taufte er selbst nicht, sondern nur seine Freunde. Johannes wurde zuletzt das Opfer der beleidigten Eitelkeit des Herodes, des Fürsten jener Gegenden, und eines Weibes. Er hatte nämlich dessen Umgang mit Herodias, der Schwägerin des Herodes, getadelt und wurde deswegen von ihm ins Gefängnis G. W. F. HEGEL gesetzt; doch wagte es Herodes nicht, ihn ganz aus dem Wege zu schaffen, weil das Volk ihn für einen Propheten hielt. Als er einst an seinem Geburtstag ein glänzendes Fest gab, und eine Tochter jener Herodias Talent im Tanzen zeigte, so wurde Hero- des dadurch so entzückt, daß er ihr erlaubte, sich eine Gnade von ihm auszubitten, und wenn es die Hälfte seines Reiches wäre, er würde sie ihr gewähren. Die Mutter, deren beleidigte Eitelkeit ihre Rache gegen Johannes bisher hatte zurückhalten müssen, gab ihrer Tochter an, sich den Tod des Johannes auszubitten. Hero- des hatte nicht den Mut, zu glauben und es vor den Gästen zu bezeugen, daß in seinem gegebenen Worte kein Verbrechen mit- begriffen sei, und der Kopf des Johannes wurde von dem Kinde in einer Schüssel überreicht, die sie ihrer Mutter brachte. Seinen Körper begruben seine Jünger. Luk. IV, Matth. IV. Außer diesem sind aus dieser Periode seines Lebens nur noch einige schwache Züge von dem Gange der Entwicklung seines Geistes auf die Nachwelt gekommen. In den Stunden seines Nachdenkens in der Einsamkeit kam ihm einst der Gedanke, ob es nicht die Mühe verlohnte, durch Stu- dium der Natur und vielleicht durch \'erbindung mit höhern Geistern es soweit zu bringen, zu suchen, unedlere Stoffe in edlere, für die Menschen unmittelbar brauchbare zu verwandeln, etwa wie Steine in Brot, und sich von der Natur überhaupt un- abhängiger zu machen. Aber er wies diesen Gedanken ab durch die Betrachtung der Schranken, die die Natur dem Menschen in seiner Macht über sie gesetzt hat, durch die Betrachtung, daß es selbst unter der Würde der Menschheit sei, nach einer solchen Macht zu streben, da er in sich eine über die Natur erhabene Kraft besitzt, deren Ausbildung und Erhöhung die wahre Be- stimmung seines Lebens ist. Ein anderes Mal ging auch vor seiner Einbildungskraft alles das vorüber, was unter den Menschen für groß, für würdig gehalten wird, der Gegenstand der Tätigkeit eines Menschen zu sein: über Millionen zu gebieten, die halbe Welt von sich reden zu machen, tausende von seinem Willen, von seinen Launen abhängig zu sehen, oder in fröhUchem Ge- nüsse der Befriedigung reiner Wünsche zu leben, alles, was die Eitelkeit oder die Sinne reizen kann. Als er aber weiter über die DAS LEBEN JESU 5 Bedingungen nachdachte, unter welchen dies alles nur erworben werden kann, selbst wenn man dessen Besitz nur zum Wohl der Menschheit gebrauchen wollte, nämlich sich unter seine und fremde Eigenschaften zu erniedrigen, seiner höheren Würde zu ver- gessen, der Selbstachtung zu entsagen, so verwarf er, ohne sich zu bedenken, den Gedanken, jene Wünsche zu den seinigen zu machen, entschlossen, dem treu zu bleiben, was unauslöschlich in seinem Herzen geschrieben stand, allein das ewige Gesetz der Sittlichkeit und den zu verehren, dessen heiliger Wille unfähig ist, von etwas anderem affiziert zu werden, als von jenem Gesetz. In seinem dreißigsten Jahre erst trat er selbst öffentlich als Lehrer auf. Sein Vortrag scheint im Anfang nur auf Einzelne eingeschränkt gewesen zu sein. Joh. I, 35 — 51. Bald gesellten sich teils durch den Geschmack, den sie an seinen Lehren fanden, teils auf seinen Zuruf, inehrere Jünger, von denen er meist über- all begleitet wurde, und aus denen er durch sein Beispiel und seine Belehrungen den eingeschränkten Geist jüdischer Vorurteile und Nationalstolzes zu vertreiben suchte und er beseelte sie mit seinem Geiste, der nur in Tugend, die nicht an eine positive Na- tion oder positive Einrichtungen gebunden ist, einen Wert setzte. Der gewöhnliche Ort, wo er sich aufhielt, war Galiläa, und darin Kapernaum ; von da aus machte er gewöhnlich an den hohen Festen derjuden, besonders am jährlichen Osterfest, Reisen nachJerusalem. Das erstemal, daß er nach Jerusalem kam (Joh. II, 12 ff.), seit- dem er öffentlich als Lehrer auftrat, machte er durch eine auf- fallende Begebenheit viel Aufsehen. Als er in den Tempel trat, wohin alle Bewohner Judäas zusammenströmten, wo sie in ge- meinschaftlicher Anbetung der Gottheit sich über die kleinen Interessen des Lebens erhoben und sich der Gottheit näherten, traf er eine Menge Krämer an, die auf die Religiosität der Juden Spekulationen machten, und mit allen Arten von Waren Handel trieben, die die Juden zu ihren Opfern gebrauchten, und bei dem Zu- sammenfluß der Menge aus allen Gegendenjudäas zurZeit der Feste und im Tempel ihre Geschäfte machten. Jesus, voll Unwillen über diesen kaufmännischen Geist, jagte die Krämer zumTempel hinaus. Er fand viele, bei denen seine Lehre Eingang hatte. Er kannte die Anhänglichkeit der Juden an ihre eingewurzelten National- G. W. F. HEGEL Vorurteile und ihren Mangel an Sinn für etwas Höheres zu gut, als daß er sich mit ihnen näher eingelassen, Vertrauen in ihre Über- zeugung gesetzt hätte ; er hielt diese nicht für fähig, nicht für von der Art, daß etwas Größeres darauf gebaut werden könnte; und von der Eitelkeit, durch den Beifall einer großen Anzahl von Menschen sich geehrt zu glauben, oder von der Schwäche, da- durch als durch ein Zeugnis in seiner eignen Überzeugung mehr befestigt zu werden, war er zu weit entfernt; er bedurfte keines Beifalls, keiner Autorität, um an die Vernunft zu glauben. Das Aufsehen, das Jesus hier machte, schien (Joh. III) auf die Lehrer des Volkes und Priester wenig Eindruck zu machen, oder sie gaben sich wenigstens die Miene, mit Verachtung auf ihn herabzublicken. Doch fühlte sich einer von ihnen, Nikodemus, dadurch veranlaßt, mit Jesu in nähere Bekanntschaft zu kommen, und sich aus seinem Munde zu überzeugen, worin das Neue und Unterscheidende der Lehre Jesu bestehe, und ob es einer Aufmerk- samkeit würdig sei. Er kam, um sich nicht dem Hasse oder dem Gelächter auszusetzen, in derDunkelheit derNacht zu ihm. «Auch ich, sagte Nikodemus, komme, um von dir belehrt zu werden ; denn alles, was ich von dir höre, beweist mir, daß du ein Gesandter Gottes bist, daß Gott in dir wohnt, daß du vom Himmel kommst.» — «Jawohl, antwortete Jesus. Wer nicht seinen Ursprung aus dem Himmel hat, in wem nicht göttliche Kraft wohnt, ist kein Bürger des Reiches Gottes.» — «Aber, erwiderte Nikodemus, wie sollte der Mensch seinen natürlichen Anlagen entsagen, wie sollte er zu höheren gelangen können? Er müßte in den Leib seiner Mutter zurückkehren und ein Anderer, als Wesen eines anderen Geschlechts geboren werden.» — «Der Mensch als Mensch, ver- setzte Jesus, ist nicht bloß ein ganz sinnliches Wesen. Seine Natur ist nicht bloß auf Trieb nach Vergnügen eingeschränkt; es ist auch Geist in ihm, auch ein Funken des göttUchen Wesens, das Erbteil aller vernünftigen Wesen, ist ihm zuteil geworden. So wie du den Wind zwar sausen hörst und sein Wehen empfindest, aber nichts über ihn vermagst, noch weißt, woher er komme, oder wohin er gehe, so kündigt sich dir unwiderstehlich jenes selbständige unveränderliche Vermögen innerlich an. Aber wie es mit dem übrigen dem Wechsel unterworfenen DAS LEBEN JESU Gemüt der Menschen verknüpft, wie es zu einer Übermacht über das sinnHche Vermögen kommen könne, das ist uns un- bekannt.» Nikodemus gestand, dies seien Begriffe, die er nicht kenne. «Wie, sagte Jesus, du bist ein Lehrer in Jerusalem und das, was ich sagte, begreifst du nicht? In mir ist die Überzeugung davon so lebendig als die Gewißheit dessen, was ich sehe und höre. Wie kann ich euch aber zumuten, es auf mein Zeugnis zu glauben, wenn ihr auf das innere Zeugnis eures Geistes, auf diese himm- lische Stimme nicht achtet? Nur sie, deren Wurzel im Himmel ist, vermag euch über das zu belehren, was höheres Bedürfnis der Vernunft sei, und doch nur im Glauben an sie, durch Gehorsam gegen sie ist Ruhe und wahre Größe, die Würde des Menschen zu finden. Denn so sehr hat Gott den Menschen vor der übrigen Natur ausgezeichnet, daß er ihn mit dem Widerglanz seines Wesens beseelte, ihn mit Vernunft begabte; durch den Glauben an sie er- füllt der Mensch allein seine hohe Bestimmung; sie verdammt nicht die Triebe der Natur, aber leitet und veredelt sie. Nur wer ihr nicht gehorcht, der hat sich dadurch selbst gerichtet, daß er jenes Licht verkannte, es in sich nicht nährte und so durch seine Handlungen zeigte, wes Geistes Kind er sei ; er zieht sich vor dem Glänze der Vernunft, die Sittlichkeit als Pflicht gebietet, zurück, denn seine bösen Werke sträuben sich gegen jene Beleuchtung, die ihn mit Scham, Selbstverachtung und Reue erfüllen würde. Aber wer aufrichtig mit sich zu Werke geht, nähert sich gern dem Richterstuhl der Vernunft, scheut sich nicht vor ihren Zurecht- weisungen, vor der Selbstkenntnis, die sie ihm gibt, und braucht seine Handlungen nicht zu verheimHchen, denn sie zeugen von dem Geiste, der ihn beseelte, dem Geiste der vernünftigen Welt, dem Geiste der Gottheit.» Joh. IV. Jesus verließ Jerusalem wieder, als er hörte, daß die Menge derer, die seiner Lehre Beifall gaben, die Aufmerksamkeit der Pharisäer auf sich zog. Er reiste daher wieder nach Galiläa, wohin der Weg durch Samaria führte. Er hatte seine Jünger vor- aus in die Stadt geschickt, um Speise zu kaufen; er selbst weilte indes an einer Quelle, welche schon Jakob, einer der Stammväter des jüdischen Volks, besessen haben soll. Er traf hier ein sama- G. W. F. HEGEL ritisches Weib an, die er bat, ihm einen Trunk Wassers herauf- zuziehen. Sie wunderte sich darüber, daß er, ein Jude, von einer Samariterin zu trinken begehre; denn beide Völker haben einen solchen Religions- und Nationalhaß gegeneinander, daß sie schlechterdings keinen Umgang miteinander haben. Jesus ver- setzte: «Wenn du meine Grundsätze kenntest, du würdest mich nicht nach dem gemeinen Schlag von Juden beurteilt haben. Du hättest selbst auch kein Bedenken getragen, mich darum zu bitten, und ich hätte dir eine andere Quelle lebendigen Wassers eröffnet. Wer aus derselben schöpft, dessen Durst ist gestillt ; das Wasser, das aus ihr quillt, ist ein Strom, der ins ewige Leben leitet.» — «Ich höre, erwiderte die Samariterin, daß du ein weiser Mann bist; ich wage es, dich um Aufschluß über die wichtigste Frage, den Streit unserer und deiner Religion zu bitten. Unsere Väter verrichten hier auf dem Berge Garizim ihren Gottesdienst, und ihr behauptet, Jerusalem allein sei der Ort, wo man den Aller- höchsten verehren solle.» — «Glaube mir, Weib, antwortete Jesus, es wird eine Zeit kommen, wo ihr keinen Gottesdienst mehr feiern werdet, weder auf Garizim, noch in Jerusalem, wo man nicht mehr glauben wird, der Gottesdienst schränke sich auf vorgeschriebene Handlungen und einen bestimmten Ort ein. Es wird die Zeit kommen, und sie ist eigentlich schon da, wo die echten Verehrer Gottes den allgemeinen Vater im wahren Geist der Religion verehren werden, denn nur solche sind ihm wohl- gefällig, in deren Geist allein Vernunft und ihre Blüte, das Sitten- gesetz, herrscht. Hierauf allein muß die echte Verehrung Gottes gegründet sein.» Die Erzählung der Frau, die sie ihren Mitbürgern von Jesu und ihrem Gespräche machte, brachte ihnen schon eine hohe Meinung von ihm bei. Sie veranlaßte viele Samariter hinauszugehen und Belehrung von ihm zu erhalten. Während sich Jesus mit ihnen unterhielt, boten ihm seine Jünger, die indes zurückgekehrt waren, zu essen an. «Lasset das, antwortete er ihnen, ich denke nicht an leibliche Nahrung; den Willen Gottes zu tun und das Werk der Besserung der Menschen auszuführen ist meine Beschäftigung; eure Gedanken sind auf Speise gerichtet, auf die Ernte, die bevor- steht; erheitert eure Blicke, schauet auf zur Ernte, der das Men- DAS LEBEN JESU schengeschlecht entgegenreift; auch diese Saat zeitiget, in diesen Gefilden habt ihr nicht ausgesäet. Der Keim des Guten, den die Natur in die Herzen der Menschen einsetzte, hat sich hie und da von selbst entwickelt; eure Sache aber ist es, diese Blüten zu pflegen und zu warten, in die Arbeit einzutreten, die die Natur •angefangen hat, und die Saat zur Zeitigung zu bringen.» Auf das Ersuchen der Samariter blieb Jesus zwei Tage bei ihnen, und gab ihnen Gelegenheit, durch eigene Erfahrung die hohe Meinung, die sie von ihm auf die Erzählung der Frau gefaßt hatten, be- stätigt zu finden. Joh. IV, I — 3, Matth. IV, 12, Luk. IV, 14. Nach zwei Tagen setzte er seinen Weg weiter fort nach Galiläa. Wo er hinkam, rief er die Menschen zur Sinnesänderung und Besserung auf (Matth. IV, 17), suchte sie aus ihrem Schlummer und der un- fruchtbaren, untätigen Hoff"nung zu erwecken, ein Messias werde bald erscheinen und den Glanz des jüdischen Gottesdienstes und Staates wiederherstellen. «Wartet nicht auf einen andern, rief ihnen Jesus zu, leget selbst Hand an das Werk eurer Besserung, setzet euch ein höheres Ziel, als das wieder zu werden, was die alten Juden waren; bessert euch, dann bringet ihr das Reich Gottes herbei.» So lehrte Jesus überall (Luk. IV, 16 — 32), in Kapernaum am See Genezareth, in öffentlichen Örtern und den Lehrsälen der Juden; unter anderm auch sprach er über eine Stelle aus den heiligen Büchern seiner Landsleute, in Nazareth, seinem Geburtsort. Da hieß es denn: «Ist dies nicht Josephs Sohn, der unter uns geboren und erzogen wurde.''» Das Vor- urteil der Juden, daß der, den sie als ihren Retter erwarteten, von vornehmer Abkunft sein und mit äußrem Glänze auftreten müsse, war unüberwindlich und zuletzt wurde er von seinen Mitbürgern zur Stadt hinaus weit vertrieben, wobei ihm selbst das Sprichwort einfiel: Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterlande. Hier lud er auch Petrus und Andreas (Matth. IV, 18 — 22), wie auch Jakobus und Johannes ein, ihm nachzufolgen, die er mit Fischfangen, ihrem Handwerk, beschäftigt antraf, wobei er Petrus sagte: «Laß die Fische, ich will dich zu einem Menschenfischer machen.» Die Zahl seiner Anhänger (Matth. IV, 25) fing jetzt an, sehr beträchtlich zu werden. Aus Städten und Dörfern begleiteten 10 G.W. F. HEGEL ihn viele Menschen. Vor einer so zahlreichen Menge wahrschein- lich hielt er einst in dieser Periode seines Lebens auf einem Berge folgende Rede (Matth. V): «Wohl den Demütigen und Armen; das Himmelreich ist ihr Teil. — Wohl denen, die Leid tragen ; sie werden einst getröstet werden. — Wohl den Sanftmütigen, sie werden zum Genuß der Ruhe gelangen. — Wohl denen, die Verlangen tragen nach Gerechtigkeit; ihr Verlangen wird erfüllt werden. — Wohl denen, die mitleidig sind; auch ihrer wird man sich erbarmen. — Wohl denen, die reinen Herzens sind; sie nähern sich dem Heiligen. — Wohl denen, die die Kinder lieben; ihnen kommt der Name Kinder Gottes zu. — Wohl denen, die um der gerechten Sache willen verfolgt werden, die Schmach und Ver- leumdung darob erleiden. Freuet euch und jauchzet: ihr seid Bürger des Himmelreichs!» «Von euch, meine Freunde, wünschte ich sagen zu können: Ihr seid das Salz der Erde. Wenn aber dieses unschmackhaft wird, womit soll man noch salzen? Es verliert sich unfühlbar unter den andern gemeinen Stoffen. Wenn in euch die Kraft des Guten erstürbe, so gingen eure Taten unter mit dem übrigen zwecklosen Dringen und Treiben der Menschen. Zeiget euch, Lichter der Welt, daß eure Taten die Menschen erleuchten und das Bessere, das in ihnen liegt, entzünden, daß sie aufschauen lernen zu höherem Glauben und zum \'ater im Himmel.» «Glaubet nicht, daß ich etwa gekommen sei, Ungültigkeit der Gesetze zu predigen; nicht die \'erbindlichkeit zu denselben auf- zuheben bin ich gekommen, sondern sie vollständig zu machen, diesem toten Gerippe Geist einzuhauchen. Himmel und Erde mögen wohl verejehen, aber nicht die Forderunsjen des Sitten- gesetzes, nicht die Pflicht, ihm zu gehorchen. Wer sich und andere von Befolgung derselben freispricht, ist unwürdig, den Namen eines Bürgers des Reiches Gottes zu tragen, wer sie aber selbst er- füllt und auch andere sie ehren lehrt, der wird angesehen sein in dem Himmelreich. Aber was ich, um das ganze System der Ge- setze auszufüllen, hinzusetze, ist die Hauptbedingung, daß ihr euch nicht mit der Beobachtung des Buchstabens der Gesetze, die allein der Gegenstand menschlicher Gerichte sein kann, begnüget, wie die Pharisäer und die Gelehrten eures Volkes, sondern im Geiste DAS LEBEN JESU ii des Gesetzes aus Achtung für die Pflicht handelt. Um euch dies mit einigen Beispielen aus eurem Gesetzbuch zu erläutern, so ist es euch als ein altes Gebot bekannt: Du sollst nicht töten; wer tötet, der soll vor das Gericht gezogen werden. Ich aber sage euch, daß nicht gerade der Tod des andern das Strafwürdige des Verbrechens ausmacht; wer seinem Bruder ungerechterweise zürnt, kann zwar von keinem weltlichen Gericht gestraft werden, aber dem Geiste des Gesetzes nach ist er so strafwürdig, als jener; wer aber aus Menschenverachtung (Lücke der Handschrift) . . . «Soisteuchbefohlen,zugewissenZeitenOpferdarzubringen. Wenn ihr euch dem Altar nähert und ihr euch dort erinnert, daß ihr einen Menschen beleidigt habt, und dieser deswegen unzu- frieden ist, so lasset eure Gabe vor dem Altar stehen, bietet eurem Bruder die Hand zur Versöhnung, dann nahet euch erst gottwohl- gefällig dem Altar.» «Auch heißt eines eurer Gebote: Du sollst nicht ehebrechen. Ich aber sage euch, daß nicht bloß die wirkliche Tat ein Vergehen ist, sondern die Lüsternheit überhaupt beweist, daß das Herz un- rein ist. Welche Neigung es sei, die natürlichste, liebste, tut ihr Gewalt an, verletzet sie sogar, ehe ihr euch von ihr über die Linie des Rechtes hinüberreißen und dadurch eure Maximen nach und nach untergraben und verderben lasset, wenn ihr bei derBefriedigung eurer Neigung wohl den Buchstaben des Gesetzes nicht verletztet. » «Weiter ist es ein altes Gesetz: Du sollst nicht falsch schwören. Überhaupt aber, wenn ihr Achtung vor euch selbst habt, muß jede Versicherung, jedes Versprechen mit einem bloßen Ja, oder Nein, ebenso aufrichtig, ebenso heilig und unverbrüchlich sein, als ein Schwur bei der Gottheit, denn euer Ja oder Nein müsset ihr nur mit der Überzeugung geben, daß ihr in alle Ewigkeit so handeln würdet. — So ist es auch ein bürgerliches Gesetz: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Aber lasset diese gerichtliche Satzung nicht der Maßstab eures Privatlebens in Erwiderung von Beleidigungen oder in Erv\'eisung von Gefälligkeiten sein. Opfert, gleichgültig gegen den Besitz des Eigentums, den edlen Gefühlen der Sanft- mut und der Güte die Rachsucht und eure eigenen, wenn schon oft gerechten Vorteile auf. Auch ist euch zwar Liebe gegen eure 12 G.W. F. HEGEL Freunde und eure Nation geboten, aber dabei Haß gegen eure Feinde und Fremde erlaubt; ich sage euch dagegen: Achtet auch in euren Feinden die Menschheit, wenn ihr sie nicht Heben könnet, wünschet denen Gutes, die euch fluchen, und tut wohl denen, die euch hassen; bittet bei andern für die, welche euch bei andern verleumden und durch andere euch unglücklich zu machen suchen; so werdet ihr echte Kinder des Vaters im Himmel, ähn- lich dem Allgütigen, der über Gute und Böse seine Sonne scheinen, Redlichen und Ungerechten seinen Regen angedeihen läßt; denn wenn ihr die wieder liebet, die euch lieben, euren Wohltätern Gutes tut oder ausleihet, um den gleichen Wert wieder zu empfangen (Luk. VI, 35), welches Verdienst habt ihr dabei? Dies ist die Empfindung der Natur, die auch von den Bösen nicht verleugnet wird ; für die Pflicht habt ihr damit noch nichts getan; Heiligkeit sei euer Ziel, wie die Gottheit heilig ist.» «Almosen geben und Mildtätigkeit (Matth. VI) sind empfeh- lungswürdige Tugenden, aber sie sind, wenn sie nicht wie die obigen Gebote im Geiste der Tugend, nur um sich sehen zu lassen, ausgeübt werden, ohne Verdienst; wenn ihr also Almosen geben wollt, so lasset es nicht in den Straßen und auf den Kanzeln oder in Zeitungen ausposaunen, wie die Heuchler tun, um von den Leuten hochgepriesen zu werden; tut es im Verborgenen, daß gleichsam die linke Hand nicht weiß, was die rechte gibt. Euer Lohn, wenn ihr die Vorstellung eines Lohns als Aufmun- terung bedürft, ist der stille Gedanke, gut gehandelt zu haben, und daß, so wenig die Welt den Urheber kennt, doch die Wirkung eurer Handlung, sei es auch im Kleinen, die Hülfe, die ihr dem Unglück gebracht, der Trost, den ihr dem Elend gereicht, in Ewigkeit reich ist an wohltätigen Folgen. Wenn ihr betet, so geschehe es ebensowenig nach Art der Heuchler, die in den Kirchen auf den Knien liegen, auf der Straße die Hände falten, oder den Nachbarn mit ihrem Singen beschwerUch fallen, um vor den Menschen sich damit sehen zu lassen ; wahrlich ihr Ge- bet ist ohne Frucht. Euer Gebet, es sei in der freien Natur oder in eurem Zimmer, sei eine Erhebung eures Gemüts über die kleinen Zwecke, die sich die Menschen setzen, und über die Be- gierden, die sie hin und her treiben, durch den Gedanken an den DAS LEBEN JESU 13 Heiligen, der eucli an das Gesetz erinnere, das in eurem Busen gegraben ist, und euch mit Achtung für dasselbe, unverletzbar durch alle Reihe der Neigungen, erfülle.» «Setzet das Wesen des Gebets nicht in viele Worte, wodurch abergläubische Menschen sich bei Gott in Gunst zu setzen oder etwas über ihn und den Plan seiner ewigen Weisheit vermögen zu können vermeinen; gleichet ihnen darin nicht; euer Vater weiß, wessen ihr bedürfet, ehe ihr ihn darum bittet; Bedürfnisse der Natur, Wünsche der Neigungen können also nicht Gegen- stand eures Gebets sein, denn wie könnet ihr wissen, ob die Be- friedigung derselben Zweck des moralischen Planes des Heiligen sei? Der Geist eures Gebetes sei, daß ihr, von dem Gedanken an die Gottheit belebt, vor derselben den festen Vorsatz fasset, euren ganzen Wandel der Tugend zu weihen. Dieser Geist des Gebets würde sich, in Worten ausgedrückt, etwa so darstellen lassen: , Vater der Menschen, dem alle Himmel unterworfen sind, Du, der Alleinheilige, seiest das Bild, das uns vorschwebe, dem wir uns zu nähern trachten; daß Dein Reich einst kommen möge, in welchem alle vernünftigen Wesen das Gesetz allein zur Regel ihrer Handlungen machen 1 Dieser Idee werden alle Neigungen, selbst das Schreien der Natur nach und nach unterworfen ! Im Gefühl unserer Unvollkommenheit gegen Deinen heiligen Willen, wie sollten wir uns zu strengen oder gar rachsüchtigen Richtern unserer Brüder aufwerfen? Wir wollen vielmehr nur an uns arbeiten, daß wir unser Herz bessern, die Triebfedern unsrer Handlungen veredeln und unsre Gesinnungen vom Bösen immer mehr und mehr reinigen, um Dir ähnlicher zu werden, dessen Heiligkeit und Seligkeit allein unendlich istl'» «Ein Kennzeichen eurer Zunahme an moralischer Vollkommen- heit habt ihr; dies ist eure Zunahme an BruderUebe und an Ge- neigtheit für Verzeihung. Nicht Schätze auf der Erde, die ihr nicht einmal ganz euer Eigen nennen könnt, Gold und Silber, oder Schönheit. Geschicklichkeit, die der VergängUchkeit, dem Wechsel der Umstände, sogar dem Rost und dem Zerfressen von Insekten oder der Gefahr, gestohlen zu werden, ausgesetzt sind, nicht solche seien es, die eure Seelen ausfüllen. Sammlet einen unvergänglichen Schatz in euch selbst, einen Reichtum von Mo- 14 G. W. F. HEGEL ralität ; nur einen solchen könnet ihr im vollen Sinne des Wortes euer Eigentum nennen, denn er hängt eurem eigensten Selbst an. Der Zwang der Natur, oder der böse Wille der Menschen, selbst der Tod vermag nichts über ihn. Wie das Auge als Leuchte für den Leib dient und wenn es gesund ist, ihn in allen seinen Ver- richtungen leitet, wenn es aber fehlerhaft ist, der Leib in allem ungeschickt ist, so wenn das Licht der Seele, die Vernunft, ver- dunkelt ist, woher sollte irgend ein Trieb, irgend eine Neigung ihre wahre Richtung erhalten? So wie jemand nicht zwei Herren mit gleichem Eifer dienen kann, so ist der Dienst Gottes und der Vernunft mit dem Dienst der Sinne unvereinbar; der eine von beiden schließt den andern aus, oder es entsteht ein unseliges, unmächtiges Hin- und Herschwanken zwischen beiden. Darum ermahne ich euch: Entreißet euch doch den ewigen Sorgen um Essen und Trinken und Kleidung, Bedürfnissen, die den ganzen Kreis des Bestrebens der meisten Menschen ausmachen, die der Wichtigkeit. nach, die sie darein legen, ihre Bestimmung, den letzten Endzweck ihres Daseins auszumachen scheinen. Liegt im menschlichen Gemüt doch nicht noch ein erhabeneres Bedürfnis, als das um Nahrung und Kleidung? Sehet doch die sorgenfreien Vögel unter dem Himmel; sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln nicht in die Scheuern ; der Vater der Natur hat für ihre Nahrung gesorgt. Ist eure Bestimmung nicht höher als die ihrige? und ihr solltet von der Natur verdammt sein, alle die edlen Kräfte eurer Seele nur dazu anzuschauen, um die Bedürfnisse des Magens zu befriedigen? Ihr wendet so viel Mühe auf Putz und Verschöne- rung der Gestalt, die euch die Natur verlieh. Kann eure Eitelkeit mit allem Aufwand von Sinnen und Sorgen eurer Länge einen Zoll zusetzen? Oder sehet die Blumen der Felder an, die heute so präch- tig blühen und morgen zu Heu gemacht werden; könnte Salomo in all seiner Pracht der freien Schönheit es nachtun? Entschlaget euch also doch ein wenig der ängstlichen Sorgen um Nahrung und Klei- dung; das höchste Ziel eures Bestrebens sei das Reich Gottes und die Sittlichkeit, wodurch ihr allein würdig werdet, Bürger des- selben zu sein; das Übrige wird sich dann von selber geben.» «Seid nicht streng in euren Urteilen über andere, denn eben den Maßstab, den ihr gebraucht, wird man auch auf euch an- DAS LEBEN JESU 15 wenden und dies möchte nicht immer zu eurem Vorteil ausfallen. Warum sehet ihr so gern den geringern Splitter in dem Auge des andern und bemerket nicht den viel größeren in eurem eigenen, und sagt gar etwa noch zu ihm: Halt, mein Bester, laß dir doch diesen Splitter aus deinem Auge nehmen? Und siehe, in eurem eigenen ist der viel größere. Heuchler, zieh zuvor diesen aus, und dann erst denke daran, den andern zu heilen; arbeite zuvor an dir selbst, ehe du an andern arbeiten willst. Wie kann ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden nicht beide in die Grube fallen? Oder kann der Lehrer den Schüler geschickter machen, als er selber ist (Luk. VI, 40)? Wenn ihr nun andere bessern wollt, so wendet euch damit nicht unvorsichtigerweise an einen jeden ohne Unterschied; werfet das Heiligtum nicht vor die Hunde, noch die Perlen vor die Schweine; sie würden es nur unter die Füße treten und euch umstürzen. Nahet euch den Menschen mit Bitten, und sie werden euch oft nach- geben; suchet eine Seite auf, wo ihr ihnen beikommen könnet; ihr werdet eine finden; klopfet leise an und ihr werdet Eingang finden.» «Was ihr wollen könnet, daß es als allgemeines Gesetz unter den Menschen auch gegen euch gelte, nach einer solchen Maxime handelt; dies ist der Grundsatz der Sittlichkeit, der Inhalt aller Gesetzgebungen und der heiligen Bücher aller Völker. Gehet durch [diesen engen, scharf abgesteckten Weg des Rechts], diese Pforte des Rechts ein in den Tempel der Tugend; diese Pforte ist zwar eng, der Weg dahin gefahrvoll, und eurer Gefährten werden wenige sein. Desto gesuchter ist der Palast des Lasters und Verderbens, dessen Tore weit und dessen Straße eben ist. Nehmet euch auf dem Wege besonders in acht vor falschen Lehrern, die sich mit der sanftmütigen Miene eines Lammes sich euch nähern und darunter die Begierden reißender Wölfe verbergen. Ihr habt ein sicheres Merkmal, durch ihre Verstellung leicht durchzudringen; beurteilet sie nach ihren Werken; man Hest ja doch nicht Trauben von Dornbüschen, oder Feigen von Disteln. Jeder gute Baum trägt gute und der schlechte Baum schlechte Früchte. Der ist doch kein guter Baum, der schlechte Früchte trägt, und der kein fauler, der gute Früchte trägt. An i6 G.W. F. HEGEL ihren Früchten also werdet ihr sie erkennen (Luk. VI, 43). Aus dem Reichtum eines guten Herzens schwillt Gutes, aus der Fülle eines schlechten Herzens quillt Schlechtes hervor (Luk. VI, 44). Nicht durch Worte der Frömmigkeit lasset euch täuschen. Nicht jeder, der zu Gott ruft, der ihm Gebete und Opfer darbringt, ist ein Glied seines Reiches, sondern nur der, der den Willen Gottes tut, welcher dem Menschen in dem Gesetz seiner Vernunft ange- kündigt ist. Viele werden in der Ewigkeit vor dem Weltrichter sagen: Herr, Herr, wenn wir Wunder taten, wenn wir böse Geister austrieben, und sonst große Dinge verrichteten, haben wir nicht deinen Namen dabei gebraucht, dich dabei gepriesen, dir dafür als deine Werke gedankt? Dann wird ihnen geantwortet werden: Was sollen nur Wunder und Weissagungen, oder große Taten? war es darum zu tun? Gott erkennt euch nicht als die Seinigen, ihr seid nicht Bürger seines Reiches, ihr Wundertäter, ihr Weis- sager, ihr Verrichter großer Taten I Ihr tatet dabei Böses, und Sittlichkeit ist der einzige Maßstab der Wohlgefälligkeit Gottes I Jeder, der diese Grundsätze gehört hat, und sie zu den seinigen macht, den vergleiche ich mit einem klugen Mann, der sein Haus auf einen Felsen baute; da nun ein Sturm kam, und die Ströme daherrauschten und die Winde wehten, so stießen sie auch aut jenes Haus, aber es fiel nicht, denn es war auf einen Felsen ge- gründet. Der, der diese Lehre zwar hörte, aber sie nicht befolgt, den vergleiche ich mit einem Toren, der sein Haus auf Sand baute; da nun der Sturm kam, so stieß er auch auf dieses Haus und stürzte es mit großem Krachen ein, denn es hatte einen leichten Grund.» Diese Rede machte großen Eindruck auf seine Zuhörer, denn er sprach mit Kraft und Nachdruck, und die Gegenstände waren solche, die das höchste Interesse der Menschheit ausmachen. Der Zulauf, Jesum zu hören (Matth, IX, Mark. II, 13), wurde von dieser Zeit an immer größer, aber auch die Aufmerksamkeit der Pharisäer und der jüdischen Priesterschaft auf ihn wurde ver- mehrt. Um dem Geräusch jener Menge und den Nachstellungen dieser zu entgehen, zog er sich oft in die Einsamkeit zurück. Während seines Aufenthalts in Galiläa kam er einst bei einem Zollhause vorbei und sah dort einen Beamten, namens Matthäus, DAS LEBEN JESU 17 (höchstwahrscheinlich die gleiche Geschichte und gleiche Person wovon bei Luk. V, 27, Mark. II, 14 die Rede ist, nur daß hier der Mann unter dem Namen Levi vorkommt), sitzen, den er auch zu seiner Nachfolge einladete, und ihn auch nachher seines ver- trauteren Umgangs würdigte. Er speiste mit ihm und die Ge- sellschaft bestand aus noch mehreren solchen Beamten; da Zollbe- amter und Sünder bei den Juden gleichbedeutende Worte waren, so bezeugten die Pharisäer den Freunden Jesu ihre Verwunderung darüber. Da dieser es hörte, so sagte er zu ihnen: «Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern nur die Kranken. Überleget aber noch bei euch auf dem Wege, was es heißen wolle, was in euren heiligen Büchern irgendwo steht: Nicht Opfer, sondern Rechtschaffenheit, sind mir wohlgefällig.» Einigen Jüngern des Johannes des Täufers fiel es dagegen auf, daß sie und die Pharisäer so viele Fasten halten, die Freunde Jesu dagegen nicht; auf ihre Frage darüber antwortete ihnen Jesus: «Welchen Anlaß hätten sie auch wirklich zur Traurigkeit? Die Tage werden schon kommen, wo ihnen auch ihr Lehrer, wie euch der eurige, wird entrissen werden. Dann mögen sie fasten. Warum sollte ich überhaupt eine solche Strenge in ihrer Lebens- art von ihnen fordern.'' Es würde weder zu ihrer bisherigen Ge- wohnheit, noch zu meinen Grundsätzen passen, die keinen Wert in ein strenges Äußere legen, und noch weniger mir erlauben, andern eine Beobachtung gewisser Gebräuche aufzuerlegen.» Da jetzt wieder ein Passahfest einfiel (Joh. V, i), so begab sich auch Jesus nach Jerusalem. Während seines Aufenthalts daselbst war es den Juden sehr anstößig, daß er einmal einem armen Kranken an einem Sabbat einen Liebesdienst erwies; sie sahen darin eine Entweihung dieses heiligen Tages und eine Anmaßung, ein Gebot, das Gott selbst gegeben, für nicht verbindlich zu halten, sich gleich- sam ein Recht, das nur Gott zukomme, herauszunehmen und seine Autorität der Autorität der Gottheit gleichzusetzen. Jesus gab ihnen zur Antwort: «Wenn ihr eure kirchlichen Statuten und positiven Gesetze für das höchste Gesetz haltet, das den Menschen gegeben ist, so verkennet ihr die Würde des Menschen und das Vermögen in ihm, aus sich selbst den Begriff der Gottheit und die Erkenntnis ihres Willens zu schöpfen ; wer das Vermögen in Hegel, Das Leben Jesu J i8 G.W. F. HEGEL sich nicht ehrt, der ehrt die Gottheit nicht. Was der Mensch sein Ich nennen kann und wodurch er über Grab und Verwesung er- haben ist und sich selbst seinen verdienten Lohn bestimmen wird, fähig ist, sich selbst zu richten, es kündigt sich als Vernunft an, deren Gesetzgebung von nichts mehr abhängig ist, der keine andere Autorität auf Erden oder im Himmel einen andern Maßstab des Richtens an die Hand geben kann. Das, was ich lehre, gebe ich nicht für meine Einfälle, für mein Eigentum aus; ich verlange nicht, daß irgend jemand auf meine Autorität es annehmen solle, denn ich suche nicht meinen Ruhm, ich unterwerfe es der Be- urteilung der allgemeinen Vernunft, die jeden bestimmen mag, es zu glauben oder nicht. Wie könntet aber ihr Vernunft als höchsten Maßstab des Wissens und des Glaubens gelten lassen, da ihr die Stimme der Gottheit nie vernähmet, auf den Nachhall dieser Stimme in eurem Herzen nie hörtet, auf den nicht achtet, der diesen Ton anschlägt, da ihr euch ausschUeßend im Besitze der Wissenschaft dessen, was Wille Gottes sei, glaubet, und die Auszeichnung, die euch vor allen andern Menschenkindern zu- kommen soll, zum Gegenstande eures Ehrgeizes machet, da ihr euch auf Moses und immer auf Moses berufet und euren Glauben auf fremde Autorität eines einzelnen Mannes gründet? Ja, leset nur eure heiligen Bücher aufmerksam; aber ihr müsset dazu den Geist der Wahrheit und der Tugend mitbringen und ihr werdet in ihnen Zeugnis von diesem Geiste und zugleich eure eigene Anklage darin finden, daß euer Stolz, der sich in seinem eingeschränkten Gesichtskreise gefällt, es euch nicht erlaubt, zu etwas Höherem aufzuschauen, als eure geistlose Wissenschaft und eure mecha- nischen Gebräuche sind.» Noch einige Anlässe gaben (Matth. XII, i — 8, Luk. VI, i — 5) den Pharisäern Veranlassung, Christo und seinen Jüngern Ent- heiligung des Sabbats vorzuwerfen. Er spazierte an einem solchen Tage mit seinen Freunden durch ein Ährenfeld; diese hatten Hunger und rauften Ähren, oder was es sonst für Pflanzen waren, etwa orientalische Bohnen, aus, und aßen die Körner, welches sonst wohl erlaubt war. Pharisäer, die dies sahen, mach- ten Christum darauf aufmerksam, daß seine Jünger etwas tuen, was am Sabbat nicht erlaubt ist. Christus gab ihnen aber zur Ant- DAS LEBEN JESU 19 wort: «Erinnert ihr euch aus der Geschichte eures Volkes, daß David, als er Hunger hatte, die geweihten Brote des Tempels aß und auch seinen Gefährten davon austeilte? oder daß die Priester im Tempel auch am Sabbat mannigfaltige Verrichtungen haben? Soll der Tempel diese Verrichtungen heiligen? Ich sage euch, der Mensch ist mehr als ein Tempel; der Mensch, nicht ein ge- wisser Ort, heiligt die Handlungen oder macht sie unheilig. Wenn ihr überhaupt bedacht hättet, was ich bei einer andern Gelegen- heit einigen eures Standes sagte, was es heißt: Gott verlangt Liebe, nicht Opfer, so hättet ihr Unschuldige nicht so streng getadelt. Der Sabbat ist um des Menschen willen geordnet, nicht dieser um des Sabbats willen gemacht; der Mensch ist auch Herr des Sabbats. t Ebenso fragten ihn die Pharisäer (Matth. XII, 9 — 12) in einer Synagoge an einem andern Sabbat, um einen Grund, ihn anzu- klagen, zu finden, bei der Gelegenheit, daß ein Mann, der eine beschädigte Hand hatte, gegenwärtig war, ob es erlaubt sei, diese Leute zu heilen. Jesus versetzte: «Wer ist unter euch, der nicht sein Schaf, wenn es ihm an einem Sabbat in eine Grube fällt, herausziehe? Und wie viel größeren Wert hat nicht ein Mensch, als ein Schaf? So wird es doch wohl erlaubt sein, am Sabbat eine gute Handlung zu verrichten!» Schon aus mehreren Beispielen haben wir dabei den bösen Willen der Pharisäer gegen Jesum gesehen, und von der Zeit an verbanden sie sich wirklich mit dem Herodes, Jesum womöglich aus dem Wege zu räumen. Wir treffen diesen jetzt wieder in Galiläa an, wo er seinen Aufenthalt wegen jener Nachstellungen verborgen hielt, auch seinen Zuhörern, die sich bei ihm einfanden, es einschärfte, seinen Aufenthalt nicht bekannt zu machen. Aus der Menge seiner Zuhörer (Luk. VI, 12 — 13) sonderte Jesus jetzt zwölf ab, die er seines besonderen Unterrichts würdigte, um sie tüchtig zu machen, ihn in der Ausbreitung seiner Lehre zu unterstützen, und da Jesus nur zu gut einsah, daß das Leben und die Kraft eines Menschen nicht hinreiche, eine ganze Nation zur Moralität zu bilden, um doch einige zu haben, denen er seinen Geist rein einhauchen könnte. Luk. VII, 18. Bei der Gelegenheit, daß Johannes einige seiner Freunde an Jesum geschickt hatte, um ihn über den Zweck seiner 2» 20 G.W. F. HEGEL Rede zu befragen, machte Jesus den Pharisäern Vorwürfe über den Kaltsinn, womit sie den Aufruf des Johannes zur Besserung angenommen hatten. «Welche Neugierde, sagte er, trieb euch? denn Begierde, euch zu bessern, war es doch nicht? Warum seid ihr hinaus in die Wüste gegangen ? Et\va euresgleichen zu sehen, einen charakterlosen Mann, der seine Maximen nach seinem Vorteil ändert? ein Schilfrohr, das vom Winde hin und her getrieben wird? oder einen Mann in prächtigen Kleidern, der viel Aufwand macht? Solche träfet ihr nicht in einer Wüste, nur in den Palästen der Könige an! Oder etw-a einen Wahrsager, einen Wundermann? Johannes war mehr als dies! Beim ge- meinen \'olk fand Johannes noch eher Eingang. Aber die Herzen von Pharisäern und rechtgläubigen Gesetzgelehrten konnte Jo- hannes nicht erschüttern oder sie des Guten empfänglich machen. Mit was soll ich denn diese Menschenart vergleichen? Etwa mit Knaben, die auf dem Markte spielen und den andern zurufen: «Wir haben euch gepfiffen und ihr habt nicht getanzt! Nun haben wir euch traurige Lieder gesungen, aber ihr habt auch nicht geweint!» Johannes aß kein Brot und trank keinen Wein; ihr saget, eine böse Laune plage ihn; ich esse und trinke wie andere Leute, da saget ihr: «der Mann ist ein Fresser und Säufer und geht mit schlechten Leuten um. Doch Weisheit und Tugend werden \''erehrer finden, die ihren Wert rechtfertigen werden.» Ohngeachtet dieser Strafpredigt lud ihn ein Pharisäer, namens Simon, zum Mittagessen ein. Eine Frau, die den Lehren Jesu wahrscheinlich viel zu verdanken hatte, hatte dies erfahren und kam mit einem Gefäß köstlicher Salben in das Zimmer, und näherte sich Jesu. Der Anblick des Tugendhaften und das Ge- fühl ihres schuldvollen Lebens machte sie Tränen vergießen und sich zu seinen Füßen werfen, in der Empfindung dessen, was er zu ihrer Reue und Rückkehr auf den Weg der Tugend beige- tragen hatte; sie küßte seine Füße, benetzte sie mit ihren Tränen, trocknete sie mit ihren Locken und salbte ihn mit köstlicher Salbe. Die Güte, womit Jesus diese Äußerungen, worin ein reu- volles und dankbares Herz Linderung findet, aufnahm, die Güte Jesu, die diese Empfindung nicht zurückstieß, beleidigte die Deli- katesse der Pharisäer. Sie ^aben in ihren Mienen ihr Befremden DAS LEBEN JESU 21 zu erkennen, daß Jesus einer Frau von einem solchen Übeln Rufe so gütig begegne. Jesus merkte es und sagte zu Simon: «Ich hätte dir etwas zu erzählen.» — «Rede nur», sagte Simon. — «Ein Schuldherr, erzählte Jesus, hatte zwei Schuldner, deren einer ihm fünfhundert, der andere fünfzig Denare schuldig war. Da sie außerstande waren, ihm die Schuld heimzubezahlen, so erheß er sie ihnen. Welcher wird ihn von beiden mehr lieben?» — «Wohl der, sagte Simon, dem er am meisten schenkte.» — «Ohne Zweifel, erwiderte Jesus, indem er auf die Frau zeigte: «Schau hieher, fuhr er fort. Ich kam in dein Haus; du hast mir kein Wasser, die Füße zu waschen, angeboten; sie hat sie mit ihren Tränen benetzt und mit den Locken ihres Hauptes abge- trocknet. Du hast mir keinen Kuß gegeben; sie hat es nicht unter ihrer Würde gehalten, mir sogar die Füße zu küssen. Du hast mein Haupt nicht mit Salbe gesalbt; sie hat es mit köstlicher Salbe meinen Füßen getan. Einem Weibe, das solcher Liebe, solcher Dankbarkeit fähig ist, sind ihre Fehler, und wenn es schon viele wären, verziehen. Kälte solcher edeln Empfindungen zeigt keine Rückkehr zur Unbefangenheit der Tugenden an. Ein gött- licher Genuß, sagte Jesus noch zu der Frau, den Sieg des Glau- bens an dich selbst, noch des Guten fähig zu sein, und deines Mutes zu sehen ! Lebewohl!» Jesus zog weiter durch Städte und Dörfer (Luk. VIII, i) und predigte überall. Seine Begleiter waren seine zwölf Apostel, auch einige zum Teil reiche Frauen, die die Gesellschaft aus ihrem Vermögen unterhielten. Einst, in Gegenwart einer großen Versammlung, legte er ihnen folgende Parabel vor (d. i. erdichtete Erzählung, die eine gewisse Lehre sinnlich darstellt; sie unterscheidet sich von den Fabeln da- durch, daß in diesen Tiere, von den Mythen, daß in diesen Dämonen oder allegorische Wesen, in den Parabeln Menschen die handeln- den Personen sind): «Ein Sämann ging aus, seinen Samen zu säen; ein Teil desselben fiel auf den Weg und wurde zertreten und von den Vögeln gefressen; ein anderer Teil fiel auf Felsen- grund, wo er nicht viel Erde hatte ; er ging bald auf, aber von der Hitze welkte er bald dahin, weil er keine tiefen Wurzeln hatte; anderer Samen fiel in Dornhecken, die aufschössen und 22 G.W. F. HEGEL ihn erstickten ; ein Teil fiel aber auf gutes Land und gab dreißig-, sechzig- bis hundertfältige Früchte.» Als seine Jünger ihn darüber befragten, warum er dem Volke die Lehren in Parabeln eingehüllt vortrage, so gab er ihnen zur Antwort: «Ihr habt wohl Sinn für die erhabenen Ideen von dem Reiche Gottes, und von der Sitt- lichkeit, die das Bürgerrecht in demselben gibt; aber die Erfahrung hat mich belehn, daß dies verlorene Worte bei den Juden sind, und doch verlangen sie etwas von mir zu hören; ihre tiefen Vor- urteile lassen die nackte Wahrheit nicht bis an ihr Herz dringen. Wer Anlage hat, ein Besseres in sich aufzunehmen, der kann Nutzen aus meinen Lehren ziehen; wenn aber jener bessere Sinn fehlt, dem dient auch die wenige Erkenntnis des Guten zu nichts, die er etwa haben mag. Sie haben Augen und sehen nicht, Ohren und hören nicht; deswegen habe ich nur ein Gleichnis zu ihnen gesprochen, das ich euch jetzt erklären will. Der ausgesäete Samen ist die Erkenntnis des Sittengesetzes. Wer nun Gelegenheit hat, zu dieser Erkenntnis zu gelangen, sie aber nicht fest auffaßte, dem reißt gar leicht ein Verführer das wenige Gute aus dem Herzen, das etwa darein gesäet war. Dies bedeutet den Samen, der auf die Straße fiel. Der auf einen feisichten Grund gesäet wurde ist die Erkenntnis, die zwar mit Freuden aufgenommen wird, aber weil sie keine tiefe Wurzel geschlagen hat, bald den Umständen nachgibt, und wenn Not und Unglück die Rechtschaffenheit be- drohen, dann scheitert. Der Samen, der in Hecken fiel, ist der Zustand solcher, die zwar wohl auch von der Tugend haben sprechen hören, in denen sie aber von den Sorgen des Lebens und der täuschenden Verführung des Reichtums erstickt wird, und ohne Früchte bleibt. Der Samen, der auf einen guten Grund ge- säet wurde, ist die Stimme der Tugend, die verstanden wurde, und dreißig-, sechzig- bis hundertfältige Frucht trägt.» Erlegte ihnen noch andere Parabeln vor (Matth. XIII, i8 — 23): Das Reich des Guten läßt sich mit einem Acker vergleichen, den der Besitzer desselben mit gutem Samen angesäet hatte. Während die Leute schliefen, kam sein Freund und säete Unkraut unter den Weizen und schlich sich davon. Als nun der Samen in Ähren zu schießen anfing, so zeigte sich auch das Unkraut. Die Knechte frugen den Herrn: «Du hast doch reinen Samen gesäet. DAS LEBEN JESU 23 Wie kommt es, daß so viel Unkraut auf dem Acker ist?» — «Ein Feind von mir wird es wohl gesäet haben, antwortete der Herr.» Die Knechte sagten: «Willst du nicht, daß wir es ausjäten?» — «Nein, antwortete der klügere Herr, denn mit dem Unkraut würdet ihr auch die Weizenähren ausreißen. Lasset beides nur bis zu der Ernte miteinander wachsen; dann werde ich den Schnittern befehlen, das Unkraut zu sondern und wegzuschaffen und den reinen Weizen aufzuheben.» Als Jesus mit seinen Jüngern allein war, und sie ihn um die Erklärung desselben befragten, gab er ihnen folgende Antwort: «Der Säemann des guten Samens sind gute Menschen, die durch ihre Lehren und ihr Beispiel die Menschen auf die Tugend auf- merksam machen; der Acker ist die Welt; der gute Samen sind die besten Menschen, das Unkraut die lasterhaften; der Feind, der Unkraut aussäet, sind Verführungen und Verführer; die Zeit der Ernte ist die Ewigkeit, die Vergelterin des Guten und des Bösen; indessen stehen Tugend und Laster in zu genauer Ver- bindung miteinander, als daß dieses ohne Schaden der erstem schon ausgerottet werden könnte; so werden in der großen Erntezeit gute und böse Menschen sich voneinander unter- scheiden, jene durch die Belohnung, die sie in der Ruhe finden, die die Tugend gibt, diese durch Reue, Selbstanklage und Scham.» Auch verglich er das Reich des Guten mit einem verborgenen Schatz in einem Acker, den einer entdeckt, aber wieder verbirgt und dann in der Freude alles verkauft, was er hat, und jenen Acker kauft, — oder mit einem Kaufmann, der schöne Perlen sucht, und eine sehr kostbare findet, für die er alles verkauft, um Besitzer derselben zu werden, — oder mit einem Fischer, der in seinem Netz Fische aller Art gefangen hat, sie dann am Ufer ausliest, die guten in seine Gefäße legt, die schlechten aber hinauswirft. In einer andren Rücksicht verglich er das Reich des Guten mit einem Senfkorn, das so klein ist, aber zu einer großen Staude aufwächst, daß die Vögel darin nisten können, — oder mit ein wenig ge- säuertem Teig, der unter drei Scheffel Mehl geknetet die ganze Masse durchsäuert. Es geht mit dem Reich des Guten wie mit dem Samen, der in den Boden gesäet keiner weiteren Mühe be- darf; er keimt und treibt sich, ohne daß man es bemerkt; denn 24 G.W. F. HEGEL die Erde hat von Natur eine eigene Triebkraft, wodurch der Same keimt, zu Halmen aufschießt und volle Ähren trägt (Mark. V, 26 ff.). Indessen waren Anverwandte Jesu (Luk. VIII, 19) gekommen, ihn zu besuchen. Vor der Menge Menschen, die ihn umgaben, konnten sie sich ihm nicht nähern. Da man es Jesu sagte, ant- wortete er: «Meine Brüder und Verwandten sind diese, die auf die Stimme der Gottheit hören und ihr folgen.» Auf die Nachricht von der Ermordung des Johannes Heß er sich an das westliche Ufer des Sees Tiberias überschiffen (Luk. VIII, 22, Matth. XIV, 13), hielt sich aber nur eine kurze Zeit unter den Gadarenern auf, und kehrte wieder nach Galiläa zurück. Seine zwölf Apostel schickte Jesus um diese Zeit aus (Luk. IX), um, wie er, die Vorurteile der Juden zu bestreiten, die, stolz auf ihren Namen und auf ihre Abstammung, dies, welches in ihren Augen ein großer Vorzug war, über den einzigen Wert setzten, den die Sittlichkeit dem Menschen gibt. «Ihr brauchet keine große Anstalten zu eurer Reise zu machen, sagte Jesus, euch durch irgend einen Aufwand anzukündigen. Wo man euch Gehör gibt, da haltet euch eine Zeitlang auf; w^er euch ungütig aufnimmt, dem dringet euch nicht auf, sondern verlasset den Ort gleich wieder und setzet euren Weg weiter fort.» Es scheint, sie seien nur wenige Zeit ausgeblieben und haben sich bei Jesu bald wieder eingefunden. Einst befand er sich in einer Gesellschaft (Mark. VII) von Phari- säern und Gesetzgelehrten, die von Jerusalem kamen. Diesen fiel es auf, daß die Jünger sich mit unreinen Händen zu Tische setzten: denn die Juden, nach einer Vorschrift, die sich auf das Her- kommen gründet, essen nichts, ehe sie sich nicht sehr reinlich gewaschen haben; so mußten auch außerdem, daß sie schon rein gemacht waren, vor jedem Essen alle Trinkgeschirre und sonstigen Gefäße, Stühle und Bänke mit Wasser bespritzt werden. Die Pharisäer fragten Jesum : «Warum leben doch nicht deine Schüler nach den Vorschriften unsrer Väter, sondern setzen sich mit ungeweihten Händen zu Tische.''» Jesus antwortete: «Eine Stelle eurer heiligen Bücher läßt sich gut auf euch anwenden; sie heißt: DAS LEBEN JESU 25 Dies Volk dient mir mit den Lippen ; ihr Herz aber ist weit von mir; seelenlos ist ihre Verehrung, denn sie ist eine Befolgung willkürlicher Satzungen. Ihr achtet nicht das göttliche Gebot, sondern haltet euch ganz an menschliche Gebräuche, z. B. an das Weihen der Becher und Stühle durch Wasser, und ähnliche dergleichen Dinge; darin seid ihr genau. Ein göttliches Gebot z. B., das ihr so aufhebet, um euren kirchlichen Statuten getreu zu bleiben, ist das Gesetz: Ehre deinen Vater und deine Mutter, wer gegen Vater und Mutter lieblose Reden ausstößt, soll sterben. Ihr aber habt ein anderes Gesetz aufgestellt. Wenn jemand im Zorn zu seinem Vater oder Mutter gesprochen hat: «Was ich euch noch für Dienste erweisen, oder euch Gutes tun könnte, das soll dem Tempel geweiht sein» — so erkläret ihr ihn dadurch als durch ein Gelübde gebunden, ihnen nichts mehr Gutes zu er- weisen und rechnet es ihm für eine Sünde an, wenn er seinem Vater oder Mutter noch irgend einen Dienst erwiese. So hebet ihr jenes göttUche Gebot durch eure Gebote wieder auf. Auf ähnliche Art habt ihr noch mehrere Satzungen.» Jesus sagte darauf zu der Menge, die um ihn her stand: «Höret mir zu und begreifet, was ich euch sage: Kein körper- liches Ding, nichts, das der Mensch von außen her in sich nimmt, kann ihn verunreinigen, sondern das, dessen Urheber er ist; was aus seinem Munde ausgeht, zeigt an, ob seine Seele rein oder un- rein ist.» Seine Schüler wollten ihn darauf aufmerksam machen, daß die Pharisäer ein Ärgernis an diesen Reden nehmen. «Lasset sie sich ärgern, sagte Jesus; solche Pflanzungen, die von Menschen herrühren, müssen ausgerottet werden. EssindBHnde, die Blinden den Weg weisen, und solchen blinden Wegweisern möchte ich das Volk entreißen; sonst fällt dieses mit denen in die Grube, denen es sich anvertraut.» Als das Volk sich zerstreut hatte, und Jesus in das Haus zurückgekehrt war, so fragten ihn seine Freunde um Erläuterung dessen, was er dem Volke von reinen und un- reinen Dingen gesagt hatte. «Wie? versetzte Jesus. Auch ihr seid noch nicht so weit gekommen, es zu fassen? Begreifet ihr denn nicht, daß das, was durch den Mund des Menschen geht, im Magen und in den Gedärmen verarbeitet und durch die Ab- führungswege fortgeschafft wird? Was aber aus dem Munde geht, 26 G.W. F. HEGEL Worte und Handlungen überhaupt, kommen aus dem Gemüt des Menschen, und diese können rein oder unrein, heilig oder unheilig sein. Aus der Seele entspringen doch die bösen Gedanken, die Mordtaten, die Ehebrüche, die Diebstähle, die falschen Zeugnisse, die Schmähungen, Neid, Hochmut, Schwelgerei, Geiz. Diese Laster sind es, die den Menschen entheiligen, nicht das, wenn er etwa die Hände nicht mit Wasser weiht, ehe er sich zu Tische setzt.» Zur Zeit des Laubhüttenfestes der Juden (Joh. VII) redeten Jesu seine Verwandten zu, mit ihnen nach Jerusalem zu reisen, um dort auf einem größern Schauplatz, als in den galiläischen Städten und Dörfern, sich hören zu lassen und bekannt zu machen. Er gab ihnen aber zur Antwort, für ihn sei es jetzt keine schickliche Zeit; sie können nur immer gehen, sie werden von den Menschen nicht gehaßt, wie er, weil er den Juden das Zeugnis gegeben habe, daß ihre Sitten verderbt und ihre Handlungen böse seien. Erst einige Tage nachdem seine Verwandten aus Galiläa abgereist waren, ging auch Jesus, aber ganz in der Stille, nach Jerusalem. Dort waren schon Nachfragen nach ihm geschehen, denn man hatte ihn als einen Juden erwartet. Das Urteil des Volkes, besonders der Galiläer, fiel verschieden über ihn aus. Ein Teil hielt ihn für einen rechtschaffenen Mann, ein anderer Teil sah ihn als einen Verführer an, doch wagten es die Galiläer aus Furcht vor den Juden nicht, öffentlich von ihm zu sprechen. Einst, in der Mitte der Tage des Festes, begab sich Jesus in den Tempel und lehrte dort. Die Juden wunderten sich hierüber, da sie wußten, daß er nicht studiert habe. Jesus gab ihnen zur Ant- wort: «Meine Lehre ist nicht eine Erfindung der Menschen, die mühsam von andern erlernt zu werden brauchte. Wer ohne Vorurteile dem unverfälschten Gesetze der Sittlichkeit zu folgen sich vorgesetzt hat, der wird meine Lehre gleich prüfen können, ob sie meine Erfindung ist. Wer seinen eignen Ruhm sucht, setzt frei- lich einen großen Wert aufSpekulationen und Gebote der Menschen. Wer aber die Ehre Gottes wahrhaftig sucht, der ist aufrichtig genug, jene Erfindungen, die die Menschen dem Sittengesetz beigesellt, oder gar an seiner Statt gesetzt haben, zu verwerfen. So weiß ich, daß ihr mich hasset und gar mich zu töten trachtet, DAS LEBEN JESU 27 weil ich es für erlaubt erklärt habe, am Sabbat einen Menschen zu heilen. Erlaubte euch doch Moses, den Menschen am Sabbat zu beschneiden I Wie viel mehr, ihn gesund zu machen 1» Einige Jerusalemer, die ihn sprechen hörten, zeigten durch ihre Reden, daß sie von einem Vorhaben des hohen Rats, Jesum aus dem Wege zu räumen, gehört hatten. Sie verwunderten sich, ihn so öffent- lich und frei sprechen zu hören und daß doch noch niemand Hand an ihn lege, da man dies doch im Sinne habe; der Messias, den die Juden erwarteten, um den Glanz ihres Gottesdienstes und die Unabhängigkeit ihres Reiches wiederherzustellen, könne Jesus freilich nicht sein; denn von ihm wissen sie ja, woher er sei; der Messias hingegen werde den Prophezeiungen zufolge plötzlich erscheinen. So standen Jesu immer die Vorurteile der Juden ent- gegen, die wenig nach einem Lehrer fragten, der ihre Sitten zu verbessern und sie von ihren der Moralität entgegengesetzten Vor- urteilen zurückzubringen suchte, sondern einen Messias wollten, der sie von der Abhängigkeit der Römer befreite und einen solchen an Jesu nicht fanden. Den Mitgliedern des hohen Rats gaben ihre Diener bald Nach- richt davon, daß Jesus sich im Tempel befinde; sie bekamen Vor- würfe, daß sie Jesum nicht gleich gefangen mitgebracht hatten. Sie entschuldigten sich damit, daß sie noch niemand so haben sprechen hören und es nicht gewagt haben, ihn zu packen. Die Pharisäer sagten ihnen darauf: «Wie es scheint, auch euch hat er verführt; sehet ihr denn, daß ein Mitglied des Rats oder ein Pharisäer etwas auf ihn hält.-* Nur der unserer Gesetze unkundige Pöbel läßt sich von ihm täuschen.» Als Nikodemus, der Jesum einst bei Nacht besucht hatte, ihnen vorstellte, daß man nach den Gesetzen niemand verdammen könne, ohne ihn vorher gehört und von seinen Handlungen genau sich unterrichtet zu haben, so warfen ihm die andern vor, er sei wohl auch ein Anhänger des Galiläers; aus Galiläa könne doch kein Prophet herstammen. Ohne, wie es scheint, wegen Jesu einen förmlichen Beschluß ge- faßt zu haben, ging der Rat wieder auseinander. Jesus brachte die Nacht auf dem Ölberg (Joh. VIII), vielleicht in Bethanien zu, das an dem Fuß dieses Berges lag, wo er Be- kannte hatte; doch kam er wieder in die Stadt und in den Tem- 28 G.W. F. HEGEL pel zurück. Während er da lehrte, führten einige Gesetzgelehrten und Pharisäer eine Frau, die im Ehebruch enappt worden war, zu ihm, stellten sie in die Mitte, um gleichsam Gericht über sie zu halten, und legten Jesu den Fall vor, daß das Gesetz Moses befehle, eine solche mit Steinen totzuwerfen, und fragten ihn, was seine Meinung sei? Jesus sah ihre Absicht, ihm eine Schlinge zu legen, wohl ein, stellte sich, nichts gehört zu haben, und bückte sich und machte mit dem Finger Figuren in den Sand. Als sie darauf bestanden, seine Meinung zu hören, erhob er sich und sagte zu ihnen: «Wer sich unter euch ohne Vergehen weiß, der werfe den ersten Stein auf sie. » Dann machte er wie vorhin Fi- guren in den Sand. Auf jene Antv.-ort Jesu hatte sich von den Schriftgelehrten einer um den andern davongeschlichen und Jesus blieb mit der Frau allein. Jesus erhob sich jetzt und sah nie- mand mehr als noch die Frau. «Wo sind deine Ankläger, fragte er, hat keiner dich verurteilt?» — «Keiner», sagte sie. «Auch ich, erwiderte Jesus, verdamme dich nicht; lebe wohl, und vergehe dich in Zukunft nimmer.» Joh. VIII, 12 — 20. Als Jesus ein andermal im Tempel einen öffentlichen Vortrag hielt, so hielten ihm die Pharisäer entgegen, welches Zeugnis er aufweisen könne, das ihm selbst und andern die Wahrheit seiner Lehren verbürgen könne; sie genießen das Glück, eine Verfassung und Gesetze zu haben, die durch feier- Hche Offenbarungen der Gottheit legitimiert seien. Jesus gab ihnen zur Antwon: «Glaubet ihr etwa, die Gottheit habe das menschliche Geschlecht in die Welt geworfen und der Natur überlassen, ohne ein Gesetz, ohne ein Bewußtsein des Endzwecks ihres Daseins, ohne die Möglichkeit, in sich selbst es zu finden, wie es der Gottheit wohlgefällig werden könne?* es sei eine Sache des Glückes, daß die Kenntnis der moralischen Gesetze euch allein, diesem Winkel der Erde, man weiß nicht warum, ausschließlich aller Nationen der Erde zuteil geworden sei? Dies macht euch die selbstsüchtige Eingeschränktheit eurer Köpfe zu wähnen. Ich halte mich allein an die unverfälschte Stimme meines Herzens und Gewissens. Wer aufrichtig dieser horcht, dem leuchtet aus * Goethe: Jeder vernimmt sie, dem des Lebens Quelle rein im Busen fließt. (Anmerkung 1) DAS LEBEN JESU 29 ihr Wahrheit entgegen. Auf diese Stimme zu hören fordre ich allein von meinen Schülern. Dieses innerliche Gesetz ist ein Gesetz der Freiheit, dem sich, als von ihm selbst gegeben, der Mensch freiwillig unterwirft. Es ist ewig; in ihm liegt das Ge- fühl der Unsterblichkeit. Für die Pflicht, die Menschen damit bekannt zu machen, bin ich bereit, wie ein treuer Hirt für seine Herde, das Leben zu lassen. Ihr möget mir es nehmen, so raubet ihr mir es nicht, sondern frei opfere ich es selbst auf. Ihr seid Sklaven, denn ihr stehet unter dem Joche eines Gesetzes, das euch von außen aufgelegt ist, und darum nicht die Macht hat, euch durch Achtung für euch selbst dem Dienste der Neigungen zu entreißen.» Die Aufnahme, die Jesus in Jerusalem gefunden hatte, die Stimmung der Juden und besonders der Priesterschaft gegen ihn, welche den Beschluß gefaßt hatten, diejenigen in Bann zu tun, aus der Teilnehmung am Gottesdienst und am öffentlichen Unter- richt auszuschUeßen (Joh. IX), die Jesum für den Messias, den die Juden erwarteten, wofür er sich im öffentlichen ausgegeben hatte, halten würden, — diese feindselige Stimmung gab ihm ein Vorge- fühl von Gewalttätigkeiten (vielleicht dem Tod), die er noch werde zu erdulden haben, und er teilte diese Gedanken auch seinen Jüngern mit. «Wir wollen doch nicht hoffen, sagte Petrus, da sei Gott vorl» «Wie.-' antwortete Jesus, bist du schwach ge- nug, nicht darauf bereitet zu sein, oder etwa mich nicht darauf bereitet zu glauben ? Wie sinnlich denkst du noch I Du kennst die göttliche Kraft noch nicht, die die Achtung für Pflicht gibt, ihr zuliebe die Forderung der Neigungen und selbst die Liebe zum Leben zu besiegen!» Dann wandte er sich zu den übrigen Jüngern: «Wer der Tugend folgen will, muß sich Verleugnungen aufzulegen wissen ; wer ihr unverrückt getreu bleiben will, muß ihr selbst sein Leben aufzuopfern bereit sein. Wer sein Leben lieb hat, wird seine Seele entadeln; wer es verachtet, der bleibt seinem bessern Ich getreu und rettet es aus dem Zwange der Natur. Welcher Wert bliebe dem Menschen, dem die ganze Welt zur Beute würde und der sein Selbst darüber erniedrigte.!* Welchen Preis gäbe es, der eine Entschädigung für die verlorene Tugend wäre.!* Einst wird der Unterdrückte in Herrlichkeit 30 G.W. F. HEGEL glänzen und die in ihre Rechte eingesetzte Vernunft wird selbst jedem den Lohn seiner Taten bestimmen.» Nach längerem Aufenthalt in Jerusalem, als Jesus sonst machte, (denn er blieb vom Laubhüttenfest bis zum Fest der Tempelweihe im Dezember, Joh. X, 22), kehrte Jesus, und zwar zum letzten Male, nach der Gegend, die der gewöhnliche Schauplatz seines Lebens war, nach Galiläa, zurück (Matth. XVII, 22). In dieser Zeit seines dortigen Aufenthalts scheint er nicht mehr, wie vor- hin (Mark. IX, 30), vor einer großen Volksmenge gelehrt, sondern sich vorzüglich mit der Bildung seiner Jünger beschäftigt zu haben. Matth. XVII, 24 — 27. In Kapernaum forderte man von ihm die jährliche Steuer zum Besten des Tempels. «Was meinst du, Petrus, sagte er zu diesem, als er mit ihm ins Haus trat, die Könige der Erde fordern Steuern ein, etwa von ihren Söhnen oder von andern?» — «Von andern», sagte Petrus. — «So wären also die Söhne frei, erwiderte Jesus, und war, die Gott im wahren Geiste des Wortes verehren, brauchten nichts zur Erhaltung eines Tem- pels beizutragen, dessen wir nicht bedürfen, um Gott zu dienen, denn wir suchen dies durch einen guten Lebenswandel zu tun. Doch damit sie kein Ärgernis nehmen und wir keine Verachtung desjenigen zeigen, was ihnen so heilig ist, so bezahle für uns.» Luk. IX, 46 — 50. Unter den Jüngern Jesu entstand ein Streit über den Rang, der einem jeden gebührte, besonders im Reiche Gottes, wenn es einst erscheinen sollte, indem sie damit noch sehr sinnliche Ideen verbanden, von dem jüdischen Sinne eines weltlichen Reiches noch nicht ganz frei waren, noch nicht sich diese Idee des Reiches Gottes als eines Reichs des Guten, worin Vernunft und Gesetz allein gebieten, rein dachten. Jesus hörte mit Wehmut diesen Streit, rief dann ein Kind und sagte ihnen: «Wenn ihr euch nicht ändert, und zu der Unschuld, zu der Ein- falt und Anspruchslosigkeit, die dieses Kind hat, zurückkehret, so seid ihr wahrlich nicht Bürger des Reiches Gottes; wer gegen andere, selbst gegen ein solches Kind fehlt, und sich gegen sie etwas herausnehmen oder sie gleichgültig behandeln zu dürfen glaubt, der ist ein Unwürdiger; wer aber die Heiligkeit der Un- schuld beleidigt und ihrer Reinheit weh tut, dem wäre es besser, DAS LEBEN JESU 31 man hinge ihm einen Mühlstein an den Hals und ersäufte ihn im Meere. In der Welt wird es freilich immer nie an Verletzungen einer reinen Gesinnung fehlen, aber wehe dem Menschen, der zu einem solchen Ärgernis Anlaß gibt! Sehet euch wohl vor, nie- mand, am wenigsten Einfalt des Herzens zu verachten; es ist die zarteste, die edelste Blüte der Menschheit, das reinste Ebenbild der Gottheit; sie allein gibt einen, und zwar den höchsten Rang; diese Einfalt ist wert, daß alles aufgeopfert werde, was eure lieb- sten Neigungen sind, jede Regung von Eitelkeit und Ehrgeiz oder von falscher Scham, alle Rücksichten von Nutzen oder Vor- teil. Wenn ihr derselben nachstrebet, wenn ihr die Würde, zu der jeder Mensch bestimmt und deren jeder fähig ist, zu schätzen wisset, und endlich bedenket, daß nicht allen Bäumen eine Rinde wachsen könne, sondern daß wer in dem, was der Menschheit not tut, nur nicht wider euch ist, im übrigen aber, was gleichgültig ist, andere Sitten, andere Manieren hat, daß der für euch ist, — so wird euch keine Eitelkeit, keine Überhebung über andere an- wandeln.» «Wo ihr aber wirklich etwas verloren glaubet, da gebet euch Mühe, statt es zu verachten, es zu bessern, den Menschen auf den Weg der Tugend zu leiten. Was meinet ihr, wird nicht der Hirt, dem von hundert Schafen eins sich verloren hat, die Ge- birge durchstreifen, um dies verirrte zu suchen? und wenn er das Glück hat, es zu finden, so wird seine Freude über dasselbe größer sein, als über die neunundneunzig, die sich nicht verirrten.» «Wenn aber ein Mensch sich gegen dich verfehlt, so suche es zwischen ihm und dir auszumachen; bringe ihn zur Erklärung und verständige dich mit ihm; hört er dich an, so ist es dein Fehler, wenn du dich mit ihm nicht verständigen kannst ; hört er dich nicht an, so nimm noch einen oder zwei mit dir, um das Mißverständnis zu heben; gelingt auch das nicht, so unterwerfet euren Streit dem Urteil mehrerer Schiedsrichter; beut er euch dann die Hand nicht zur Versöhnung, und du hast von deiner Seite alles getan, so fliehe ihn und habe nichts mehr mit ihm zu schaffen. Beleidigungen und Unrecht, die Menschen einander verziehen und wieder gut gemacht, ersetzt haben, sind auch im Himmel verziehen; wenn ihr so im Geist der Liebe und Ver- 32 G.W. F. HEGEL söhnlichkeit beisammen seid, da ist der Geist unter euch, mit dem ich euch zu beleben wünschte.» Petrus fragte hierauf Jesum (Matth. XVIII, 21 — 35): «Wie oft muß ich einem Menschen vergeben, der mich beleidigt, oder mir Un- recht tut? etwa bis auf siebenmal?» — «Glaubst du etwa, dies sei oft? versetzte Jesus. Ich sage dir, bis auf siebenmal siebenmal. Höret eine Geschichte: Ein Fürst wollte Rechnung halten mit seinen Dienern. Bei einem fand er eine Schuld von zehntausend Talenten; da er diese Summe nun nicht hatte, so hieß er ihm alles, was er sein Eigentum nennen könne, selbst Frau und Kinder als Sklaven zu verkaufen und ihn zu bezahlen. Der Diener fiel ihm zu Füßen, flehte um Geduld und um Frist, er wolle ihm noch alles bezahlen; der Herr fühlte Mitleiden mit seiner Lage und erließ ihm die ganze Schuld. Als dieser Diener von seinem Herrn wegging, traf er einen seiner Mitdiener an, der ihm hundert Denare (eine Summe gegen die andere wie eins zu mehr als einer Million) schuldig war; er fuhr ihn an und ver- langte ungestüm die Bezahlung der Schuld, hörte nicht auf das fußfällige Flehen des andern um Geduld, sondern ließ ihn ins Gefängnis setzen, bis das Ganze abbezahlt sei. Die andern Die- ner, die dies mit ansahen, betrübte diese Behandlung aufs äußerste und sie meldeten es dem Fürsten. Dieser ließ den harten Mann zu sich kommen und sagte ihm: Hartherziger, auf deine Bitten habe ich dir deine große Schuld erlassen; hättest du nicht dich des andern erbarmen sollen, wie ich mit dir Mitleid hatte? Hin- weg mit ihm ! Und der Fürst befahl, ihn im Gefängnis zu be- halten, bis er alles würde abgetragen haben. — In diesem Bilde sehet ihr, daß Versöhnlichkeit ein Kennzeichen einer gereinigten Gesinnung ist, welche allein von der heiligen Gottheit für die oft mangelhafte Tat als vollgültig angenommen wird, welche die einzige Bedingung ist, unter welcher ihr hoffen könnet, von der ewigen Gerechtigkeit Freiheit von Strafe zu erhalten, die euer vorheriger Lebenswandel verdiente, — die Bedingung, durch Sinnesänderung andere Menschen zu werden.» Jesus entschloß sich jetzt, wieder nach Jerusalem zurück zu gehen (Luk. IX, 51), und zwar den Weg durch Samaria zu neh- men, und schickte einige von seiner Gesellschaft voraus, um in DAS LEBEN JESU 33 einem Flecken das Nötige vorzubereiten. Weil aber die Sama- riter ihren Entschluß sahen, auf das Passahfest nach Jerusalem zu reisen, so wollten sie ihnen nicht reine Gastfreundschaft erweisen, oder verweigerten ihnen gar die Durchreise. Einige Begleiter Jesu hatten den Einfall, den Himmel bitten zu wollen, mit seinen Blitzen diesen Flecken zu verzehren. Jesus wandte sich unwillig gegen sie: «Ist dies der Geist, der euch beseelt, der Geist der Rache, der, wenn ihm die Kräfte der Natur zu Gebote ständen, sie anwendete, eine unfreundliche Begegnung mit Zerstörung zu rächen? Zum Reiche des Guten aufzubauen, nicht zu zerstören, sei euer Ziel!» Sie begaben sich sodann wieder zurück. Auf dem Wege bot sich (Luk. IX, 57) ein Gesetzgelehrter zu einem beständigen Begleiter Jesu an. Jesus sagte ihm: «Aber be- denke, daß die Füchse Höhlen und die Vögel Nester haben, ich aber keine Stelle mein Eigen nenne, wo mein Haupt ruhen könnte. » Luk. X. Jesus nahm nun einen anderen, etwas weitern Weg nach Jerusalem, schickte immer zwei seiner Begleiter voraus, um die Leute auf seine Ankunft gefaßt zu machen, denn sein Gefolge war sehr zahlreich. Er gab ihnen Verhaltungsregeln mit auf den Weg, keine Gefälligkeit ertrotzen zu wollen, wo man sie nicht aufnehmen wolle, weiter zu gehen, überall zu ihrem Hauptaugen- merk zu machen, die Menschen zum Guten aufzumuntern ; es sei noch viel hierin zu tun und der Arbeiter so wenige. Luk, X, 17, ff Matth. XI, 25 — 30. Seine jünger brachten ihm die Nachricht, sie haben hier und da guten Eingang gefunden. Jesus brach hiebei in die Worte aus: «Dank und Preis sei Dir, Vater des Himmels und der Erde, daß es nicht ein Eigentum der Gelehrsamkeit und der Kenntnisse ist, zu erkennen, was Pflicht für jeden ist, daß jedes unverdorbene Herz den Unterschied zwischen Gut und Böse selber fühlen kann 1 Ach ! wären die Menschen hiebei stehen geblieben und hätten nicht außer den Pflichten, welche die Vernunft auferlegt, noch eine Menge Laster erfunden, die arme Menschheit damit zu plagen, die eine Quelle von Stolz werden, und in denen keine Beruhigung, außer auf Kosten der Tugend, zu finden ist!» Auf dieser Reise traf Jesus einen Gesetzgelehrten an, der, um die Grundsätze Jesu kennen zu lernen und zu prüfen, sich mit Hegel, Das Leben Jesu 3 34 G.W. F. HEGEL ihm in eine Unterredung einließ: «Was muß ich tun, Lehrer, um der Glückseligkeit würdig zu sein?» — «Was ist dir im Gesetze aufgegeben?» fragte ihn Jesus wieder. «Du sollst, antwortete jener, die Gottheit als das Urbild der Heiligkeit von ganzer Seele und deinen Nächsten lieben, als wenn er du selbst wäre.» — «Du hast gut geantwortet, versetzte Jesus. Befolge dies und du bist der höchsten Glückseligkeit würdig.» Der Gesetzgelehrte wollte zeigen, daß diese einfache Antwort seinem tiefergehenden Geist noch nicht befriedigend sei. «Es bedarf noch einer Erläuterung, wen wir unter dem Nächsten, den zu lieben uns geboten ist, zu verstehen haben.-» — «Ich will dir diese Erklärung durch eine Geschichte geben. Ein Mann reiste von Jerusalem nach Jericho, (ein Weg, der durch eine Wüste führte und unsicher war), und fiel unter Räuber, die ihn auszogen, ihm verschiedene Wunden beibrachten, und ihn halbtot liegen ließen. Von ungefähr kam gleich nach dieser Tat ein Priester dieselbe Straße, sah den Ver- wundeten, setzte aber seinen Weg weiter fort; ebenso ein Levit, der diesen Weg kam, ging ohne Mitleiden vorüber. Ein Samariter aber, der vorbeireiste, erbarmte sich seiner, sobald er ihn sah, ging zu ihm hin, verband seine Wunden und wusch sie mit Ol und Wein darein, nahm ihn auf sein Maultier und brachte ihn in eine Herberge, wo er ihn besorgen ließ, und da er des andern Tages weiter reiste, hinterließ er dem Wirt noch Geld, um davon zu bestreiten, was der Kranke sonst noch nötig hätte; und wenn schon die Kosten dies Geld übersteigen, so solle er nichts sparen, er wolle das Übrige im Rückwege ersetzen. Welcher von diesen dreien nun hat sich als Nächsten gegen den Unglücklichen be- wiesen? Welcher hat ihn für seinen Nächsten angesehen?» Der Gesetzgelehrte antwortete: «Der, welcher sich mitleidig seiner annahm.» — «So sieh auch du, sagte Jesus, jeden für deinen Nächsten an, der deiner Hülfe, deines Mitleidens bedarf, von welcher Nation, von welchem Glauben, von welcher Farbe er sei.» Luk. XI, 1 6, Matth. XVI, i. Die Pharisäer, unzugänglich für die Lehren Jesu, der ihnen die Unzulänglichkeit ihres gesetzlichen Betragens zur Sittlichkeit vorstellte, forderten zu verschiedenen Malen von ihm, als eine Beglaubigung seines Vortrags, der ihrer DAS LEBEN JESU 35 Gesetzgebung den Wert abspreche, irgend eine außerordentliche Lufterscheinung, so wie bei der feierlichen Bekanntmachung, daß ihr Jehova es sanktioniert habe. Jesus gab ihnen zur Ant- wort: «Des Abends saget ihr: Es wird morgen schön Wetter, denn der Himmel hat eine schöne Abendröte. Ist aber der Himmel des Morgens so trüberot, so prophezeiet ihr Regen daraus. So verstehet ihr euch auf das Aussehen des Himmels, um daraus die Witterung zu sagen, aber die Zeichen der gegenwärtigen Zeit verstehet ihr nicht zu beurteilen.? Bemerket ihr nicht, daß höhere Bedürfnisse in dem Menschen, daß die Vernunft erwacht ist, die eure willkürlichen Lehren und Satzungen, eure Herabwürdigung des Endzwecks des Menschen, der Tugend, unter dieselben, den Zwang, womit ihr das Ansehen eures Glaubens und eurer Gebote unter eurem Volke aufrecht erhalten wollet, in Anspruch nehmen wird.-* Kein anderes Zeichen wird euch gegeben als Lehren, von denen auch ihr lernen könntet, was zu eurem und der Mensch- heit Besten diente.» Luk. XI, 37, Matth. XXIII, 25. Ein Pharisäer lud Jesum bei dieser Gelegenheit zum Mittagessen ein. Jener wunderte sich, da er bemerkte, daß Jesus nicht, ehe er sich setzte, die Hände wusch. Jesus sagte ihnen: «Ihr waschet wohl das Äußere des Bechers und der Tafel, aber ist deswegen auch das Innere rein } Wer sein Äußeres gut in Ordnung hat, ist der mit seinem Innern in Richtigkeit? Wo die Seele geweiht ist, da ist schon auch das Äußere geweiht. Ihr gebet richtig den Zehnten vom Majoran und Raute und jedem unbedeutenden Kräutchen, das in euren Gärten wächst. Vergesset ihr über dieser Ängstlichkeit in Klei- nigkeiten, die ihr für Vollkommenheit ausgebet, nicht, daß es noch höhere Pflichten gibt, Gerechtigkeit, Mitleiden und Treue, deren Beobachtung das Wesen der Tugend ausmacht, wobei man das andere dann doch auch tun muß? Sind nicht eure Begriffe von dem, was einen Wert hat, nur aufs Äußere berechnet? So haltet ihr äußerst auf einen hohen Rang in den Lehrsälen, auf den Vorsitz bei Gastmahlen oder darauf, von jedermann auf den Straßen gegrüßt zu werden. Ihr beschweret das Volk mit einer Menge lästiger Gebote und ihr selbst bleibet bei dem Äußern der- selben stehen 1 Ihr maßet euch an, Bewahrer des Schlüssels zum 3« 36 G.W. F. HEGEL Heiligtum zu sein, aber ihr versperrt euch und andern den Ein- gang zu diesem Heiligtum durch eure Gebote.» Solche Vervs'eise, die Jesus oft noch mit stärkeren Ausdrücken an die Pharisäer und Gesetzgelehrten, in deren Händen die Regierung des Landes war, und gegen ihre geheiligten Gebräuche richtete, trugen immer mehr dazu bei, sie zu erbittern und den Entschluß in ihnen zur Reife zu bringen, eine Anklage gegen ihn anhängig zu machen. Vor einer großen Menge Volkes (Luk. XII) sprach er noch dringender von der Gefahr, sich von dem Geiste der Pharisäer anstecken zu lassen. «Nehmet euch in acht, sagte er, vor dem Sauerteige der Pharisäer, der unbemerkbar für sich auch das Äußere des Ganzen nicht verändert, ihm aber doch einen völlig andern Geschmack gibt, ich meine, vor der Heuchelei ! Diese \'erstellung wird das Auge des Allsehenden nicht betrügen. Yor ihm liegt die Gesinnung des Herzens offen, man mag sie noch so sehr ver- bergen. Der Allwissende braucht allein die Menschen nicht nach ihrenTaten, den äußeren für Menschen ofttrüglichen Erscheinungen ihres Charakters zu richten, sondern richtet nach der inneren Güte des Willens. Ich sage euch, meine Freunde, fürchtet euch nicht vor Menschen, die doch nur den Körper töten können, deren Macht sich ja weiter nicht erstreckt; fürchtet euch aber davor, die Würde eures Geistes zu erniedrigen und damit vor der Ver- nunft und vor der Gottheit als des Verlustes der Glückseligkeit würdig erklärt zu werden. Aus Menschenfurcht aber es nicht zu wagen, die Grundsätze der Wahrheit und Tugend in Handlungen auszudrücken, oder sie durch Reden zu bekennen, ist eine ver- ächtliche Heuchelei. Von mir oder einem andern Lehrer der Tugend übel zu sprechen ist noch verzeihliche Sache. Wer aber den heiligen Geist derTugend selbst lästert, deristeinVersvorfener. Habet dabei nicht die kindische Angst, ihr möchtet in Verlegen- heit kommen, wenn man euch vor Gerichten oder in Lehrsälen über euer freies Bekenntnis des Guten zur Rede stellt ; vom Geiste der Tugend beseelt, wird es euch weder an Mut, noch an Worten fehlen, sie zu verteidigen.» Einer aus der anwesenden Menge trat zu Jesu und ersuchte ihn, in der Hoffnung, das Ansehen Jesu werde mehr ausrichten, als er, seinen Bruder zu bewegen, sein Erbgut mit ihm zu teilen. Jesus DAS LEBEN JESU 37 gab ihm aber den Bescheid: «Wer hat mich zum Richter oder Teilerzwischen euch gesetzt?» und wandte sich zu den andern : «Er- gebet euch nicht der Habsucht; durch reicher und immer reicher werden erfüllt der Mensch seine Bestimmung nicht. Ich will euch dies durch ein Beispiel deutlicher machen: Einem reichen Mann trugen seine Güter so viele Früchte, daß er mit der Menge derselben in Verlegenheit kam; er mußte seine Scheunen größer machen lassen, um sie aufzuheben; dann dachte er bei sich: Wenn dies in Ordnung ist, so hebst du alles sehr sorgfältig auf und hast reichlich zu leben auf viele Jahre; dann ruhe aus, iß, trinke und laß dir wohl sein. Aber jetzt vernahm er die Stimme des Todes: «Tor! heute nacht wird man deine Seele von dir fordern; für wen hast du jetzt gesammelt?» So macht sich der für niedrige Zwecke verlorene Arbeit, der Schätze häuft und nicht auf einen Reichtum, auf eine Bestimmung denkt, deren Zweck ewig ist. Die Sorge für Reichtum fülle nicht eure Seele aus; euer Geist sei allein der Pflicht geweiht, eure Arbeit dem Reiche des Guten. So stehet ihr als Männer gerüstet, zum Leben und zum Tode; sonst wird die Liebe zum Leben den Tod mit Schrecken gegen euch waffnen, und die Furcht vor dem Tode euch das Leben stehlen. Schiebet es nicht auf, und denket nicht etwa, es habe keine Eile, sich höhern Zwecken zu widmen, als Schätze zu sammeln und dem Vergnügen zu leben. Jede Zeit, die ihr dem Dienste des Guten entzogen habt, ist für eure Bestimmung verloren. Oder der Tod übereilt euch und ihr gleichet einem Haushalter, dessen Herr abwesend ist und ihm indessen sein Haus- wesen anvertraut hat. Der Aufseher denkt nun bei sich: Mein Herr wird noch lange ausbleiben, und fängt an, das Gesinde zu mißhandeln, zu schwelgen und sich zu betrinken. Aber zu einer Zeit, wo er es am wenigsten erwartet, wird der Herr ihn über- raschen, und ihm seinen verdienten Lohn erteilen. Und wie der Knecht, der den Willen seines Herrn kennt, aber ihn nicht be- folgt, härter gestraft wird, als der so zwar auch strafwürdig handelt, aber den Willen seines Herrn nicht wußte, so wird auch von dem Menschen, dem viel anvertraut wurde, der Talent und Gelegen- heit hatte, viel Gutes zu tun, viel gefordert werden. Glaubet ihr etwa, ich habe euch zu einem ruhigen Lebensgenuß eingeladen. 38 G.W. F. HEGEL eine kummerfreie, glückliche Zukunft sei auch das Schicksal, das ich für mich ervv-arte und verlange? Nein, Verfolgung wird mein Los sein, so wie das eure, Uneinigkeit und Streit die Folge, die meine Lehren haben werden. Dieser Streit zwischen Laster und Tugend und zwischenAnhänglichkeit an hergebrachten Meinungen und Gebräuchen des Glaubens, die durch irgend eine Autorität in den Köpfen und Herzen der Menschen gegründet worden sind, und zwischen der Rückkehr zum wiederauflebenden Dienste der in ihre Rechte eingesetzten Vernunft, — dieser Streit wird Freunde und Familien entzweien. Dieser Streit wird dem besseren Teile der Menschheit Ehre machen, aber unselig wird er sein, wenn die, die das Alte stürzten, weil es der Freiheit der Vernunft Fesseln anlegte und die Quelle der Sittlichkeit verunreinigte, an seine Stelle wieder einen befohlenen Glauben, an Buchstaben gebunden, setzten, der von neuem der Vernunft das Recht nähme, aus sich selbst das Gesetz zu schöpfen und mit Freiheit daran zu glauben und sich ihm zu unterwerfen, ach! und wenn sie diesen be- fohlenen Glauben mit dem Schwert und äußerer Gewalt waffneten, und Väter wider Söhne, Brüder wider Brüder, Mütter wider Töchter hetzten und die Menschheit zur Verräterin an der Mensch- heit machten!» Man erzählte Jesu eine Begebenheit, die sich (Luk. XIII) um diese Zeit zugetragen hatte. Pilatus, der Prokonsul von Judäa, hatte nämlich, man weiß nicht aus welchen Gründen, einige Galiläer, während sie im Opfern begriffen waren, hinrichten lassen. Mit der Denkungsart seiner Jünger bekannt (Joh.IX), die schon ein anderes Mal, als ihnen ein Blindgeborener begegnete, den raschen Schluß gemacht hatte, entweder dieser Blinde oder seine Eltern müssen große Verbrecher sein, nahm hier Jesus Ver- anlassung, ihnen folgende Erinnerung zu geben: «Habt ihr hiebei etwa den Gedanken, diese Galiläer seien die schlimmsten aus ihrem Volke gewesen, daß sie dies Schicksal hatten, oder jene acht oder zehn, die neulich von einem Turm zu Siloha erschlagen wurden, seien die verdorbensten unter den Bewohnern Jerusalems gewesen? Nein, über Menschen, denen ein solches Unglück widerfährt, ein liebloses Urteil zu fällen, ist nicht die Seite, von der ihr eine solche Begebenheit anzusehen habt, aufgeschreckt DAS LEBEN JESU 39 dadurch von der Ruhe, mit der ihr euch eurer Selbstzufriedenheit überlasset, sondern in euren eigenen Busen zu greifen, und euch aufrichtig zu fragen, ob ihr nicht ein solches Schicksal verdient habt. Höret folgende Geschichte: Der Besitzer eines Weinberges hatte auch einen Feigenbaum darin gepflanzt; so oft er kam, um Früchte davon zu pflücken, fand er nie eine; er sagte deswegen zum Gärtner: «Schon drei Jahre komme ich immer vergebens zu diesem Baum, hau' ihn aus, daß der Platz, den er einnimmt, besser benutzt werden könne.» Der Gärtner erwiderte: «Laß ihn noch, daß ich um ihn herum den Boden auflockere und ihm Dünger zugebe, so hoffe ich vielleicht ihm noch Früchte abzu- nötigen; wo nicht, so will ich ihn dann umhauen.» Lange zögert oft so das verdiente Schicksal und gibt dem Verbrecher Zeit, sich aufzurichten, dem Sorglosen, mit höheren Zwecken bekannt zu werden. Versäumt er unbekümmert diese Frist, so ereilt ihn sein Schicksal, und es trifft ihn die strafende Vergeltung.» Indessen setzte Jesus seinen Weg gegen Jerusalem hin immer weiter fort, hielt sich hie und da auf, wo er Gelegenheit fand, den Menschen gute Lehren zu geben. Auf dieser Reise wurde auch die Frage an ihn gemacht, ob deren nur wenige seien, die zur Seligkeit gelangen. Jesus antwortete auf diese Frage: «Ein jeder ringe für sich, den schmalen Weg des guten Lebenswandels zu treffen; viele, die es versuchen, verfehlen ihn. Wenn ein Hausherr einmal seine Türe verschlossen hat, und ihr jetzt an- klopfet und rufet, euch aufzutun, so wird er euch antworten: «Ich kenne euch nicht.» Ihr habt doch sonst schon mit ihm ge- speist und getrunken, und seid seine Zuhörer gewesen. So wird er euch wiederholen: «Wohl habt ihr mit mir gespeist und ge- trunken und wäret meine Zuhörer, wenn ich lehrte. Aber ihr seid lasterhaft geworden; ich erkenne euch nicht für meine Freunde; weg von hier!» So werden viele von Morgen und von Abend, von Mittag und Mitternacht, die den Zeus, oder Brahma, oder Wodan verehrten, vor dem Richter der Welt Gnade finden, und von denen, welche stolz auf ihre Erkenntnis Gottes durch ihr Leben dieser besseren Erkenntnis Schande machten und die ersten zu sein sich einbildeten, viele verworfen werden.» 40 G.W. F. HEGEL Einige Pharisäer warnten Jesum — ob aus guter oder irgend einer anderen Absicht, ist nicht bekannt — das Gebiet des Herodes zu verlassen, weil dieser Anschläge auf sein Leben habe. Jesu Antwort war, seine Verrichtungen seien von der Art, daß sie dem Herodes schlechterdings keine Besorgnisse erregen können, und außerdem wäre es außer der Regel, wenn Jerusalem, der gewöhn- liche Schauplatz des Todes so vieler Lehrer, die das jüdische Volk von seiner Hartnäckigkeit in seinen \'orurteilen und von dem Schwindel, womit es für dieselben alle Regeln der Sittlichkeit und der Klugheit verletzte, zu heilen versuchten, wenn Jerusalem nicht auch der Ort wäre, wo ihn ein solches Los treffen sollte. Er speiste auch wieder (Luk. XIV) bei einem Pharisäer. Hier bemerkte er an einigen eine Sorgfalt, die obersten Plätze auszu- lesen, die sie nach ihrem Range einnehmen zu müssen glaubten, und machte die Bemerkung, sich an die obern Plätze zu drängen sei oft die Schuld an Verlegenheiten geworden, denn wenn noch ein Vornehmerer komme, so müsse man mit Beschämung sich gefallen lassen, seinen Platz abzutreten und ihn mit einem untern zu vertauschen ; da hingegen der, welcher sich untenan setzt und von dem Gastgeber weiter heraufgerufen wird, mehr Ehre davon habe. Überhaupt, wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt, der Bescheidene dagegen wird gehoben werden. Gegen den Gast- geber bemerkte er, er kenne außer der Gastfreundschaftlichkeit, seine Verwandten und Freunde oder seine reichen Nachbarn zu einem Essen einzuladen, von denen ein solcher Beweis der Freundschaft gewöhnlich durch gegenseitige Einladung erwidert werde, außer dieser Freigebigkeit kenne er noch eine andere edlere, nämlich arme Kranke oder andere Unglückliche zu speisen, die eine Wohltat nicht wieder erstatten können, als durch die unver- stellten Ausdrücke ihres Dankes und des Gefühls ihres gelinderten Kummers, als durchs Bewußtsein, das dir solche Handlungen geben, Balsam in die Wunden der Unglücklichen gegossen und dem Elend wohlgetan zu haben. «Wohl dem, rief einer der Mit- gäste aus, der zu dieser Zahl gehört, der ein Bürger des Reiches Gottes ist!» Jesus erläuterte diesen Begriff vom Reiche Gottes durch das Bild eines Fürsten (Matth. XXII), der die Hochzeit seines Sohnes DAS LEBEN JESU 41 durch ein großes Mahl feiern wollte und viele Gäste einlud. Am Tage des Festes schickte er seine Diener zu den Geladenen, um sie zu bitten, jetzt zu kommen, das Mahl warte auf sie. Der eine nun ließ sich entschuldigen, daß er nicht kommen könne, denn er habe Felder gekauft, die er in Augenschein nehmen müsse; ein zweiter habe die fünf Paar Ochsen, die er erst gekauft habe, zu besichtigen; ein dritter entschuldigte sein Ausbleiben mit seiner Heirat, die er erst vollzogen habe; andere behandelten die Diener sogar mit Verachtung, so daß von den geladenen Gästen keiner erschien. Der Fürst, unwillig darüber, befahl seinen Dienern, da der Aufwand schon gemacht sei, auf die Gassen und Plätze der Stadt zu gehen und die Armen, Blinden, Lahmen oder sonst Gebrechlichen einzuladen. Die Diener taten es. Da aber noch Platz übrig war, schickte der Herr die Diener noch einmal, um auf den Landstraßen und an den Zäunen zu suchen, und was sie fänden herzubringen, damit das Haus voll werde. [Jedem wurde ein Feierkleid gegeben, das ihm zugleich zum Merkmal diente, daß er als ein Gast angesehen würde. Der Fürst kam, seine Gäste zu sehen, und bemerkte einen, der kein solches Kleid anhatte. So ist an alle der Ruf der Gottheit er- gangen.] So verhält es sich auch mit dem Reiche Gottes. Vielen sind kleinere Zwecke wichtiger als ihre höhere Bestimmung; viele, in einen größeren Wirkungskreis von der Natur oder dem Glück gesetzt, vernachlässigen unverantwortlich die Gelegenheit, viel Gutes wirken zu können, und oft ist Rechtschaffenheit in niedere Hütten verbannt oder eingeschränkten Talenten überlassen. Auf- opfern zu können ist eine Haupteigenschaft eines Bürgers des Reiches des Guten. Wem die Verhältnisse als Sohn, oder als Bruder, als Ehemann, als Vater, wem seine Glückseligkeit und sein Leben teurer sind, als die Tugend, der ist nicht geschickt dazu, weder der Vollkommenheit entgegen sich selbst durchzu- arbeiten, noch andere dahin zu führen. Besonders wer für andre arbeiten will, prüfe seine Kräfte vorher wohl, ob er es hinaus- zuführen im Stande sei, wie ein Mann, der ein Haus zu bauen anfängt, es aber unvollendet lassen muß, weil er die Kosten des Ganzen vorher nicht berechnete, den Leuten zum Gespötte wird, oder wie ein Fürst seine Stärke vorher prüft, ehe er sich an einen andern wagt, ihm Krieg droht und wenn er seine Kräfte ihm 42 G.W. F. HEGEL nicht gewachsen findet, Frieden mit ihm zu machen sucht, so prüfe sich jeder, der sich der Verbesserung der Menschen weihen will, ob er fähig sein werde, in diesem Kampfe auf alles Verzicht zu tun, was sonst Reize für ihn hatte.» Luk. XV. Auch hier nahmen die Pharisäer wieder einen An- stoß daran, daß sie Zollbediente und schlechte Leute unter den Zuhörern Jesu sahen, und daß er solche nicht von sich wies. Jesus sagte darüber: « Wenn ein Schafsich von der Herde des Hirten verirrte, macht es ihm nicht Freude, es wiederzufinden? oder wenn ein Weib ein Stück Geld verloren hat, sucht sie es nicht sorgfältig, und wenn sie es wiederfindet, ist ihr Vergnügen an dem gefundenen Stücke nicht größer als an den andern, die sie nicht verlor? Ist es nicht auch so eine Freude für gute Menschen, einen Verirrten zur Tugend zurückkehren zu sehen? Ich will euch eine Geschichte erzählen: Ein Mann hatte zwei Söhne. Auf die Bitte des jungem, ihm sein Erbteil herauszugeben, teilte der Vater mit seinen Söhnen. Der jüngere packte seine Sachen nach einigen Tagen zusammen, und um es ungehindert nach seinem Geschmack genießen zu können, reiste er damit in ein entlegeneres Land und durchschwelgte dort sein ganzes \'ermögen. Er befand sich schon im Mangel, als dieser durch eine große Teurung noch vermehrt wurde, und da- durch aufs höchste stieg. Er kam endlich noch bei einem Manne unter, der ihn aufs Feld schickte, um die Schweine zu hüten, mit denen er die Eichelkost teilen mußte. Sein trauriges Schicksal erinnerte ihn jetzt wieder an das Haus seines Vaters. «Wie viel besser, dachte er bei sich selbst, haben es die Tagelöhner meines A'aters, denen es nie an Brot fehlte, als ich, den hier der Hunger aufzehrt! Ich will zu meinem Vater zurückkehren, ihm bekennen: Ach, Vater! ich habe gegen den Himmel und dich gesündigt; ich bin nicht wert, dein Sohn mehr zu heißen; nimm mich nur als einen deiner Tagelöhner an ! » Er führte diesen Gedanken aus ; sein Vater sah ihn schon von weitem kommen, lief auf ihn zu, fiel ihm um den Hals und küßte ihn. «Ach! meine Fehler, sagte der reuige Unglückliche, machen mich unwert, mich deinen Sohn zu nennen!» Der Vater aber befahl seinen Knechten, den besten Rock zu holen, und ihm Schuhe zu geben, und sagte: «Schlachtet das gemästete Kalb, wir wollen alle uns gütUch tun ! Denn mein DAS LEBEN JESU 43 Sohn, der für mich tot war, ist ins Leben zurückgekehrt; er war verloren und ist wiedergefunden.» Indessen kehrte der ältere Sohn vom Felde zurück. Als er sich dem Hause näherte, hörte er die laute Freude und fragte, was es gäbe? Da ein Knecht es ihm sagte, wurde er unwillig darüber, und wollte nicht ins Haus gehen. Der Vater kam heraus und machte ihm Vorstellungen. Der Sohn wollte nichts davon hören: «So lange bin ich bei dir, arbeite dir, befolge überall deinen Willen und du hast mir noch nie es angeboten, mir mit meinen Freunden eine Freude zu machen; und dieser Sohn, der sein Vermögen mit liederlichen Weibern verpraßte, kommt, und du stellst ihm Feste an!» — «Mein Sohn, sagte der Vater, du bist immer bei mir; es gebricht dir an nichts; all das Meinige ist dein; du solltest dich freuen und guter Dinge sein, daß dein Bruder, der verloren war, sich wieder gefaßt hat, den wir aufgegeben hatten, wieder genesen ist. » Bei einer andern Veranlassung (Luk. XVI), die uns aber un- bekannt ist, erzählte Jesus seinen Freunden folgende Geschichte: «Ein reicher Mann hatte einen Verwalter. Dieser wurde bei ihm angegeben als ein Verschwender des ihm anvertrauten Vermögens. Der Herr ließ ihn rufen und sagte ihm: «Was höre ich von dir.^ Lege mir Rechnung von deiner Verwaltung ab, denn du kannst dein Amt nicht länger behalten.» Dieser überlegte jetzt, was zu machen sei; sein Amt verliere er, zum Tagelöhnern habe er nicht Kraft, und zu betteln schäme er sich. Endlich fiel ihm ein Mittel ein, sich aus der Verlegenheit zu helfen, nämlich die Schuldner seines Herrn sich zu Freunden zu machen, damit, wenn er seinen Posten verlassen müsse, sie ihn aufnehmen; er ließ einen nach dem andern kommen und dem einen, der hundert Tonnen Öls schuldig war, ließ er eine andere Schuldverschreibung machen, worin die Schuld nur auf fünfzig Tonnen angegeben war. Einen andern ließ er seine Schuld von hundert Malter Weizen auf achtzig herabsetzen und so machte er es auch mit den übrigen. Der Herr mußte, als er es nachher erfuhr, dem ungetreuen Ver- walter wenigstens das Zeugnis der Klugheit geben, an welcher die guten Menschen meistens von den bösen übertroffen werden, da der letztern Klugheit sich kein Gewissen daraus macht, die Ehrlichkeit zu verletzen. — Ich nehme aus der erzählten Ge- 44 G.W; F. HEGEL schichte für euch den Rat, daß eure Klugheit in Anwendung des Geldes, daß ihr etwa habt, darin bestehe, euch davon Freunde unter den Menschen, besonders unter unglücklichen, zu machen; aber nicht, wie jener Verwalter auf Kosten der Rechtschaffenheit; denn wer im Kleinen ungetreu ist, wird es noch mehr im Großen sein. Wenn ihr in Geldsachen nicht ehrlich sein könnet, wie werdet ihr für das höhere Interesse der Menschheit empfänglich sein? Wenn ihr an etwas, das ihr als euch fremd behandeln solltet, so hängt, daß ihr ihm zuliebe die Tugend vergäßet, was wäre noch Großes von euch zu erwarten? Seinen Vorteil und den Dienst der Tugend zum höchsten Ziele seines Lebens zu setzen, sind zwei Dinge, die unvereinbar sind.» Einige Pharisäer, die dies mit anhörten und das Geld sehr liebten, spotteten darüber, daß Jesus den Wert des Reichtums so sehr herabsetzte. Jesus wandte sich an sie und sagte ihnen: «Ihr legt es nur darauf an, euch in den Augen der Menschen einen Schein von Heiligkeit zu geben, aber Gott kennt eure Herzen. Was nach der sinnlichen Art zu urteilen als groß, als achtungswert vorkommt, verschwindet in sein Nichts vor der Gottheit. — Es war einst ein reicher Mann, der sich in Purpur und Seide kleidete und täglich im Vollauf schwelgte. Vor seiner Türe saß oft ein Armer, namens Lazarus, dessen krankem Körper, der voll Ge- schwüre war, niemand als etwa Hunde durch ihr Lecken einige Linderung gab. Er hätte gern oft seinen Hunger nur mit übrigen Brocken von der Tafel des reichen Mannes gestillt. Der Arme starb und wohnte jetzt in den Gefilden der Seligen, Bald her- nach starb auch der Reiche und ward mit Pomp zur Erde bestattet. Aber das Los des armen Mannes war jetzt nicht sein Los. Als er seine Augen erhob und den Lazarus bei Abraham erblickte, so rief er laut: «Ach, Vater Abraham! erbarme dich meiner und schicke Lazarus, daß er mich in meiner Qual nur mit einem Tropfen Linderung erquicke, wie ein Fieberkranker mit einem Tropfen Wassers gelabt wird!» Abraham antwortete: «Erinnere dich, mein Sohn, daß du dein Gutes in jenem Leben genossen hast, Lazarus hingegen unglücklich war. Dieser wird jetzt ge- tröstet und du leidest.» — «So bitte ich dich nur, Vater, daß du ihn in mein väterliches Haus schickest, denn ich habe noch fünf DAS LEBEN JESU 45 Brüder, damit er sie von meinem Schicksal belehre, und sie warne, nicht auch ein solches zu verdienen.» — «Sie haben in ihrer Ver- nunft ein Gesetz und die Lehre guter Menschen ; die sollen sie hören.» — «Dies ist nicht hinreichend für sie, sagte der Unglück- liche. Aber wenn ein Toter aus seiner Gruft ihnen erschiene, so würden sie wohl sich bessern.» — «Dem Menschen, versetzte Abraham, ist das Gesetz seiner Vernunft gegeben ; weder vom Himmel, noch aus dem Grabe kann ihm eine andere Belehrung zukommen, denn eine solche wäre dem Geiste jenes Gesetzes gänzlich zuwider, welches eine freie, nicht durch Furcht erzwun- gene, knechtische Unterwerfung verlangt.» Luk. XVII, 5 . Bei einer anderen gleichfalls unbekannten Ver- anlassung machten die Freunde Jesu die sonderbare Bitte an ihn, ihren Mut und Standhaftigkeit zu stärken. Jesus gab ihnen zur Antwort: «Dies kann allein der Gedanke an eure Pflicht tun und an da^ große Ziel der Bestimmung, das dem Menschen ge- setzt ist. So werdet ihr nie am Ende eurer Arbeit zu sein und jetzt zum Genuß euch berechtigt zu sein glauben. Wenn ein Knecht vom Felde heimkommt, so wird sein Herr ihm nicht sagen: Gehe jetzt und tue dir gütlich, sondern: So mache jetzt mein Essen fertig und bediene mich dabei; dann kannst auch du essen. Und wenn der Knecht dies getan hat, so wird er ihm nicht Dank dafür schuldig zu sein glauben. So auch ihr, wenn ihr ge- tan, was ihr solltet, so denket nicht: wir haben etwas Übriges getan, die Zeit der Arbeit ist jetzt vorbei und die Zeit des Ge- nusses muß jetzt eintreffen; sondern: wir haben nichts getan, als was unsre Schuldigkeit war.» Ein andres Mal fragten Pharisäer, die ihre sinnliche Vorstellung vom Reich Gottes nicht ablegen konnten, Jesum, der diese Idee oft im Munde führte, wann denn das Reich Gottes komme? Jesus antwortete ihnen: «Das Reich Gottes zeigt sich nicht durch Ge- pränge oder äußerliche Gebärden; man kann auch nie sagen: hier ist es und dort ist es, denn siehe, das Reich Gottes muß inwendig in euch errichtet werden.» Er wandte sich hierauf zu seinen Jüngern: «Ihr werdet oft auch wünschen, das Reich Gottes auf Erden errichtet zu sehen. Oft wird man euch sagen: hier oder dort gibt es eine solche glückliche Verbrüderung von Menschen 46 G.W. F. HEGEL unter Tugendgesetzen. Laufet solchen Vorspiegelungen nicht nach; hoffet das Reich Gones nicht in einer äußeren glänzenden Vereinigung von Menschen zu sehen, etwa in einer äußeren Form eines Staates, in einer Gesellschaft, unter den öffentlichen Ge- setzen einer Kirche. Eher als so ein ruhiger, glänzender Zustand wird Verfolgung das Los der wahren Bürger des Reiches Gottes, der Tugendhaften sein, oft am meisten von denen, die etwa wie die Juden als Glieder einer solchen Gesellschaft sich viel damit wissen. Von zwei, die einerlei Glauben bekennen, zu einerlei Kirche sich halten, kann der eine ein Tugendhafter, der andere ein Verworfener sein. Bleibet also nicht an der äußeren Form hängen; lasset euch nicht durch das Vertrauen, in pünktlicher Beobachtung derselben eure Pflicht erfüllt zu haben, in eine träge Ruhe versenken, wobei auch wohl die Liebe zum Leben und Lebensgenüsse ihre Rechnung fände. Denn wer dies nicht für die Pflicht aufzuopfern vermag, der macht sich eben dadurch des- selben unwürdig. Ebensowenig (Luk. XVIII) darf euch Stand- haftigkeit verlassen, daß, wenn ihr ^wr^ Hoffnungen, durch euren Kampf Gutes auszurichten, so lange nicht in Erfüllung gehen sehet, ihr müde würdet und in verdrießlicher Laune mit dem allge- meinen Strome der Verworfenheit fortzuschwimmen euch ent- schlösset ; wie oft ein Klient nicht von der Rechtschaffenheit des Richters in seiner Angelegenheit gefördert wird, sondern weil er sich von den anhaltenden Bitten des Klienten losmachen wollte, so werdet ihr auch viel Gutes durch Standhaftigkeit ausrichten und dann, wenn ihr die Größe des Ziels, das die Pflicht setzt, mit ganzer Seele aufgefaßt habt, so wird euer Streben wie dieses Ziel für die Unendlichkeit sein und nie ermatten, ihr möget in diesem Leben Früchte reifen sehen oder nicht.» In Beziehung auf die Pharisäer, die sich so vollkommen dünken und die w^gen diesem Eigendünkel die übrigen Menschen ver- achten, erzählte Jesus folgende Geschichte: «Es gingen zwei Menschen in den Tempel zu beten, deren der eine ein Pharisäer, der andere ein Zollbedienter war. Das Gebet des Pharisäers lautete so: «Ich danke Dir, o Gott, daß ich nicht bin wie die übrigen Menschen, ein Räuber, ein Ungerechter, ein Ehebrecher oder einer wie dieser Zöllner; ich faste zweimal in der Woche, besuche DAS LEBEN JESU 47 regelmäßig den Gottesdienst und gebe gewissenhaft meinen Zehnten für deinen Tempel.» Der Zöllner stand weit von diesem Heiligen, wagte seinen Blick nicht gen Himmel zu erheben, sondern schlug auf seine Brust und flehte: «Ach Gott! sei mir Sünder gnädig!» Ich sage euch, dieser ging mit wahrerer Beruhigung des Gewissens nach Hause als jener Pharisäer.» Luk. XVIII, 18. Ein vornehmer Jüngling trat zu Jesu: «Guter Lehrer, was muß ich tun, fragte er ihn, um tugendhaft, um vor Gott der GlückseHgkeit nach diesem Leben würdig zu sein.» — «Warum nennst du mich gut.-* erwiderte Jesus. Vollkommen gut ist niemand als Gott. Übrigens kennst du ja die Gebote eurer Sittenlehrer: Du sollst nicht ehebrechen, nicht töten, kein falscher Zeuge sein, deinen Vater und deine Mutter ehren.» Der Jüngling sagte hierauf: «Ich habe von Jugend auf all diese Gebote ge- halten.» — «Nun, sagte Jesus, wenn du fühlst, daß du noch mehr tun könntest, so wende deinen Reichtum zur Unterstützung der Armen und zur Beförderung der Sittlichkeit an und werde darin mein Gehülfe.» Der Jünghng hörte dies mit Betrübnis, denn er war sehr reich. Jesus bemerkte dies und sagte zu seinen Jüngern : «Wie fest kann doch die Liebe zum Reichtum den Menschen umstricken, welch großes Hindernis zur Tugend für ihn werden! Die Tugend verlangt Aufopferung, die Liebe zum Reichtum immer neuen Erwerb, jene sich auf sich selbst einzuschränken, diese sich auszubreiten, das, was der Mensch sein Eigen nennt, immer zu vergrößern.» Die Freunde Jesu fragten ihn: «Aber wie kann man hoffen, daß dieser Trieb der menschlichen Natur es nicht unmöglich mache, tugendhaft zu sein?» — «Den Wider- spruch dieser Triebe, antwortete Jesus, hebt der Umstand auf, daß Gott dem einen eine eigentümliche gesetzgebende Gewalt verliehen hat, die die Pflicht auferlegt, die Übermacht über den andern zu bekommen, und ihm auch die Kraft beigelegt hat, dies zu können.» Petrus, einer seiner Freunde, erwiderte hierauf: «Du weißt, wir haben alles verlassen, um uns deiner Bildung zu übergeben und uns allein der Sittlichkeit zu weihen.» — «Für das, was ihr aufgegeben habt, sagte Jesus, ist der Erwerb des Be- wußtseins, der Pflicht allein gelebt zu haben, ein reichlicher Er- satz in diesem Leben und in alle Ewigkeit.» 48 G.W. F. HEGEL Luk. XVIII, 31, Matth. XX, 17. Jesus war jetzt mit seiner Be- gleitung, die nur aus seinen zwölf auserlesenen Freunden bestand, in die Nähe von Jerusalem gekommen und machte sie mit den trüben Ahnungen bekannt, die er vor der Art seiner dortigen Aufnahme und Behandlung hatte, Ahnungen, die mit demjenigen sehr in Widerspruch standen, was seine Jünger sich von seiner Ankunft und seinem Aufenthalt in Jerusalem versprachen. Sogar sie, die den täglichen Umgang und die Belehrung Jesu genossen, hatten aus ihren jüdischen Köpfen die sanguinische Hoffnung, Jesus werde bald öffentlich als König auftreten, den Glanz des jüdischen Staats und seine Unabhängigkeit von den Römern wiederherzu- stellen, und sie als seine Freunde und Gehülfen durch Macht und Ehre für das, was sie indes entbehrt hatten, belohnen; diese Hoff- nung hatten sie noch nicht verbannt, sie hatten sich noch nicht den geistigen Sinn des Reiches Gottes, als einer Herrschaft der Tugend- gesetze unter den Menschen zu eigen gemacht. So trat jetzt die Mutter des Johannes und des Jakobus zu Jesu, fiel ihm zu Füßen, und auf die Frage Jesu, was sie verlange, tat sie mit ihnen die Bitte an Jesum, weil sie jetzt die Entwicklung ihrer Hoffnungen herannahen zu sehen glaubten: «Wenn du nur dein Reich er- richtest, so erhebe meine Söhne zum nächsten Rang nach dir.» Jesus gab ihr zur Antwort: «Ihr wisset nicht, um was ihr bittet Seid ihr bereit, der Pflicht, die ihr über euch genommen habt, der \'erbesserung der Menschen zu leben und mein Schicksal zu teilen, es warte auf mich, was es sei?» — Sie antworteten, wahr- scheinlich in der Hoffnung, daß dieses kein anderes als ein glän- zendes sein werde: «Ja, wir sind bereit.» — «Nun, sagte Jesus, so tut eure Pflicht und unterwerfet euch ruhig eurem Schicksal; erwartet aber dabei nicht, die Hoffnungen, die ihr durch eure Bitte gezeigt habt, erfüllt zu sehen ; die Reinheit eurer Gesinnung allein, die vor der Gottheit, nicht vor mir, offen liegt, kann den Wert bestimmen, den ihr vor der Gottheit habt.» Die übrigen Freunde Jesu wurden über diese Bitte der beiden Brüder sehr er- bittert. Jesus gab ihnen die Weisung: «Ihr wisset, daß Herrsch- sucht eine sehr verführerische und sehr allgemeine Leidenschaft unter den Menschen ist. Sie äußert sich in den großen sowohl als in den eingeschränkten Kreisen des Lebens. Aus eurer Ge- DAS LEBEN JESU 49 Seilschaft sei sie verbannt. Setzet eure Ehre untereinander darein, gegenseitig gefällig zu sein und einander zu dienen, so wie der Zweck meines Lebens nie war, über andere zu gebieten, sondern der Menschheit zu dienen und für sie selbst mein Leben aufzu- opfern. i> In Beziehung auf diese EpA'artungen der Begleiter Jesu, seine Freundschaft werde ihnen aus Gunst für sie bei der jetzt heran- nahenden Periode seiner Macht einen glänzenden Anteil daran einräumen, belehrte sie Jesus von dem Unterschiede des Wertes der Menschen durch folgende Parabel: «Ein Fürst verreiste einst in ein entferntes Land, um die Regierung desselben zu überneh- men. Ehe er aus dem Lande abreiste, dessen Regent er schon war, vertraute er seinen Dienern zehn Pfund an, um mehr damit zu gewinnen. Die Bürger schickten ihm eine Gesandtschaft nach, ihm die Erklärung zu machen, daß sie ihn nimmer als ihren Fürsten anerkennen. Ohngeachtet dessen behauptete er bei seiner Zurückkunft den Thron, und verlangte jetzt von seinen Dienern Rechnung über die Anwendung des ihnen zurückgelassenen Geldes. Der erste sagte: «Mit dem Pfunde, das du mir anvertraut hast, habe ich zehn gewonnen.» — «Wohl, versetzte der Fürst, du hast mit wenigem gut Haus gehalten; ich will dich über mehr setzen; ich übertrage dir die Regierung über zehn Städte.» Der andere hatte mit seinem Pfunde fünf gewonnen ; der Fürst gab ihm die Regierung über fünf Städte. Ein anderer sagte: «Ich bringe dir das Pfund unverloren wieder; ich habe es sorgfältig bewahrt; ich fürchtete, es an etwas zu wagen, da du ein strenger Herr bist, willst nehmen, was du nicht hingesetzt, ernten, was du nicht gesäet hast.» — «Deine Rechtfertigung verurteilt dich, antwortete der Fürst. Wenn du wußtest, daß ich ein strenger Mann bin, ernten will, was ich nicht gesäet habe, warum hast du nicht dein Geld den Wechslern gegeben, und hättest mir dann dein Pfund mit den Zinsen zurückgeben können? Du verlierst dein Geld und es sei dessen, der zehn gewonnen hat.» Den andern Dienern fiel es auf, daß der, der schon zehn Pfund habe, dies auch bekommen solle. Der Fürst sagte ihnen aber: «Dem, der das gut angewandt hat, was ihm anvertraut worden ist, wird noch mehr zugelegt werden ; der aber von dem ihm Anvertrauten einen schlechten oder gar keinen Hegel, Das Leben Jesu 4 50 G.W. F. HEGEL Gebrauch gemacht hat, macht sich auch des ihm Anvertrauten unwürdig. Und jetzt führet diejenigen vor mich, die mir den Ge- horsam aufgesagt haben, daß ich sie zur Strafe ziehe.» — Wie dieser Fürst, so richtet Gott den Wert der Menschen nach dem treuen Gebrauch der ihnen verHehenen Kräfte und nach dem Gehorsam gegen die moralischen Gesetze, unter denen sie stehen.» Auch hier (Jesus war in Jericho, etwa sechs Stunden von Jerusalem), zeigten wieder Pharisäer ihre Mißbilligung, daß Jesus in dem Hause eines Zöllners einkehrte; er hieß Zachäus. Um Jesum, dem er sich wegen der Menge Menschen nicht nähern konnte und weil er von Person sehr klein war, zu sehen, war er auf einen Baum gestiegen und war von der Ehre überrascht, daß Jesus sein Hauszum Ausruhen wählte. Da er denken konnte, welche Begriffe von seinem Charakter Jesus sielt aus seinem bisherigen Amte machen würde und es fühlte, daß er ihm in einem nach- teiligen Lichte erscheinen müßte, so machte er Jesum mit der Ver- besserung seiner vormaligen Denkungsart bekannt und sagte ihm: «Von meinem erworbenen Vermögen gebe ich die Hälfte den Armen, und wen ich über\'orteilt habe, dem erstatte ich den Schaden vierfach.» Jesus bezeugte ihm sein Gefallen über diese Rückkehr zur Rechtschaffenheit, und daß seine Absicht auf der Erde sei, die Menschheit auf diesen Weg zu führen. Joh. XI, 55. Das Passahfest war jetzt wieder eingefallen, und die meisten Juden hatten sich deswegen schon in Jerusalem einge- funden. Jesus hielt sich noch einige Tage in der Nähe von Jeru- salem auf, in einer Stadt namens Ephrem, und besonders zu Bethanien (Joh. XII). Bei einem Gastmahl, das ihm hier gegeben wurde, war auch ein Frauenzimmer, Maria, eine Freundin Jesu, zu- gegen. Sie salbte seine Füße mit einem kostbaren Balsam und trocknete sie mit ihren Haaren. Ein Apostel Jesu, Judas, der das Geld der Gesellschaft verwaltete, bemerkte darüber, man hätte diese Salbe besser anwenden können, w^nn man sie verkauft und das Geld den Armen ausgeteilt hätte. Judas hatte gehofft, dies Geld alsdann in seinen Beutel zu bekommen und bei der Ver- teilung desselben unter die Armen würde er sich nicht vergessen haben. Jesus gab ihm aber die Weisung, er würde durch seinen Tadel dem Herzen der Maria nicht weh getan haben, wenn er DAS LEBEN JESU 51 den Ausdruck ihrer Freundschaft in ihrer Handlung empfunden hätte, die dem ähnHch sei, wenn man den Toten seine Liebe durch Einbalsamieren zeige. Seine vorgegebene Mildtätigkeit gegen Arme werde er sonst jederzeit Gelegenheit haben zu zeigen. Indessen hatte der hohe Rat von Jerusalem (Matth. XXVI, 3), der erwartete, Jesus werde, wie jeder Jude, auf das Fest kommen, den Beschluß gefaßt, Jesum bei dieser Gelegenheit gefangen zu nehmen und dahin zu bringen, daß er am Leben gestraft würde; das Letztere aber ward ausgemacht bis nach dem Feste zu ver- schieben, weil sie fürchteten, seine während dieser Zeit anwesen- den Landsleute, die Galiläer, möchten etwa einen Versuch machen, Jesum zu befreien. Es wurde daher (Joh. XI, 56 — 57) die Ver- anstaltung von dem hohen Rat gemacht, daß es ihm sogleich an- gezeigt würde, wenn Jesus im Tempel bemerkt würde, und die- jenigen, die diesen Auftrag hatten, waren in den ersten Tagen des Festes verlegen, als sie in diesem Jesum nirgends sahen. Sechs Tage nach jenem Mahle ging Jesus nach Jerusalem selbst. Als er die Stadt zu Gesichte bekam, traten ihm Tränen in die Augen: «Ach! sagte er, wenn du es einsähest, was zu deinem Wohle diente! So aber ist es dir verborgen. Denn euer Stolz, eure Hartnäckigkeit in euern Vorurteilen, eure Intoleranz werden eure Feinde gegen euch reizen und sie werden euch umlagern und an allen Orten ängstigen, bis euer Staat, eure Verfassung, der Gegenstand eures Stolzes zernichtet und ihr unter seinen Ruinen begraben werdet, ohne das Gefühl, ohne den Ruhm zu haben, in einer edlen Verteidigung einer guten, einer großen Sache ge- storben zu sein!» Jesus ritt nach Art der Morgenländer auf einem Esel. Eine Menge Volkes, die ihn kannte, kam ihm entgegen und begleitete ihn mit Ölzweigen in der Hand und unter den Jubelgesängen der- selben zog er in die Stadt. Jesus blieb nicht in Jerusalem, sondern in Bethanien über Nacht (Matth. XXI, 17), kehrte aber des Morgens dorthin wieder zurück, zeigte sich öffentlich im Tempel und lehrte. Seine Feinde (Luk. XX) suchten ihn durch verfängliche Fragen zu veranlassen, stVÄ eine Blöße zu geben, um teils einen Vorwand, ihn anzuklagen, zu finden, teils ihn bei dem Volke verhaßt zu machen, wegen dessen 52 G.W. F. HEGEL sie nicht ruhig waren ; besonders hatte der große Zulauf bei seiner Ankunft in der Stadt ihre Besorgnisse noch vermehrt. So fragten sie ihn einmal, als er vor einer großen Menge Zu- hörern im Tempel saß, aus welcher Vollmacht er dies Amt, öffent- lich zu lehren, verrichte. Jesus sagte: «Lasset mich eine Gegen- frage an euch tun: Die Beweggründe des Johannes, öffentlich zu lehren, waren sie Eifer für Wahrheit und Tugend oder hatte er selbsüchtige Absichten dabei?» Diejenigen, die ihn gefragt hatten, dachten: «Antworten wir das erstere, so fragt uns Jesus wieder: warum habt ihr ihm nicht Gehör gegeben? Antworten wir das letztere, so bringen wir das Volk gegen uns auf.» Sie antworteten also, sie wissen es nicht. «Nun, sagte Jesus, so kann ich euch auf eure Frage nicht antworten. Urteilet aber einmal ! Ein Mann (Matth. XXI, 28 ff.), der zwei Söhne hatte, hieß den einen heute in den Weinberg gehen und arbeiten; dieser gab zur Antwort, er gehe nicht, bereute dies aber hernach und ging. Eben diesen Befehl gab der Vater dem zweiten, der gleich Bereit- willigkeit zeigte und zu gehen versprach, aber dann doch nicht ging. Welcher hat nun dem Vater Gehorsam bewiesen?» Sie antsvorteten : «Der erste.» — «Ebenso, antwortete Jesus, geht es unter euch. Menschen, die im allgemeinen Rufe der sittlichen Verdorbenheit standen, haben auf die Aufforderung des Johannes der Stimme der Tugend Gehör gegeben und übertreffen euch jetzt in guter Gesinnung, euch, die ihr den Namen Gottes immer im Munde führet und seinem Dienste allein zu leben vorgebet.» Jesus legte ihnen noch eine andere Geschichte vor: «Ein Mann legte einen großen Weinberg an, umgab ihn mit Mauern, be- festigte ihn und gab ihn Winzern zum Bauen und reiste weg. Zur Herbstzeit schickte er Leute hin, um das, was der Weinberg getragen hatte, einzunehmen. Sie wurden aber von den Winzern auf alle mögliche Art mißhandelt. Ebenso ging es den zweiten, die der Besitzer des Gutes schickte. In der Hoffnung, sie werden Ehrfurcht vor seinem Sohne haben, schickte er jetzt diesen; allein die Winzer lachten, dieser sei der Erbe und durch seinen Tod setzen sie sich in den völligen Besitz des Gutes. Sie ermor- deten also auch diesen. Was wird nun der Herr des Weinbergs tun?» fragte Jesus die Umstehenden. Diese sagten: «Er wird die DAS LEBEN JESU 53 Winzer mit der Strenge, die sie verdienen, strafen und den Wein- berg andern Winzern geben, von denen er die Früchte riciitig erhält.» — «So, sagte Jesus, haben die Juden das Glück gehabt, früher als manche andern Nationen würdigere Begriffe von der Gottheit und von dem zu erlangen, wasihrWille an dem Menschen ist. Aber ihr erzeuget nicht die Früchte, die den Menschen in den Augen der Gottheit wohlgefällig machen. Darum ist es ein eitler Wahn, euch durch jenen Vorzug allein Lieblinge der Gott- heit zu glauben, und ein Verbrechen, Menschen zu mißhandeln, die es fühlen und es auch sagen, daß es etwas Höheres ist, das dem Menschen einen wahren Wert gibt.» — Die Mitglieder des hohen Rats, die Veranlassung zu diesem ihnen gemachten Vor- wurf gegeben hatten, würden die Hände gleich an Jesum gelegt haben, wenn sie es wegen des Volkes gewagt hätten. Joh. XII, 20. Einige griechische Juden, die auch aufs Fest ge- kommen waren, wünschten Jesum zu sprechen und wandten sich daher an einige von den Freunden Jesu, um sich von Jesu, wie es scheint, eine Privatunterredung auszubitten. Jesus bezeugte, wie es scheint, keine Lust dazu, weil er dachte, sie bringen die gewöhnlichen jüdischen Messiasideen und wollen sich ihm, als dem zukünftigen König und Herrscher der Juden, zum voraus empfehlen. In Beziehung hieran sagte er bei dieser Gelegenheit zu seinen Jüngern: «Diese Menschen irren sich, wenn sie mir den Ehrgeiz zutrauen, mich zu einem Messias aufwerfen zu wollen, wie sie einen erwarten, wenn sie glauben, ich verlange, daß sie mir dienen sollen, oder ich finde mich dadurch geschmeichelt, wenn sie sich anerbieten, mein Gefolge vermehren zu wollen. Wenn sie dem heiligen Gesetze ihrer Vernunft gehorchen, so sind wir Brüder, so sind wir von einer Gesellschaft. Wenn sie Macht und Ruhm für meinen Zweck halten, so verkennen sie die erhabene Bestimmung des Menschen oder glauben, ich ver- kenne sie. — Wie ein Saatkorn, das in die Erde gelegt wird, erst abstirbt, daß sein Keim zu einem Halm aufschieße, so verlange auch ich nicht die Früchte von dem zu erleben, was der Zweck meiner Arbeit war, so hat auch mein Geist in der Hülle dieses Körpers seine Bestimmung nicht vollendet. Um dieses Leben zu erhalten, sollte ich dem ungetreu werden, was ich als Pflicht er- 54 G.W. F. HEGEL kenne; ich sehe es mit Betrübnis, wohin die Anschläge des Re- genten dieses Volkes gehen; sie wollen mir das Leben nehmen, aber sollte ich darum wünschen oder bitten : Vater, entreiße mich dieser Gefahr! Nein, mein Bestreben, die Menschen zum wahren Dienste der Gottheit, zur Tugend zu rufen, hat mich in diese Lage gebracht und ich bin bereit, mich jeder Folge, die daraus entspringen mag, zu unterwerfen. Widerspricht dies wieder euern Erwartungen, daß der Messias, auf den ihr hoffet, nicht sterben werde, so ist euch das Leben für sich so etwas Großes und der Tod so etwzs Fürchterliches, daß ihr diesen an einem Menschen nicht reimen könnet, der eure Achtung verdienen sollte! Ver- lange ich denn aber Achtung für meine Person? oder Glauben an mich? oder will ich einen Maßstab, den Wert der Menschen zu schätzen, und sie zu richten, als eine Erfindung von mir euch aufdringen? Nein, Achtung für euch selbst, Glauben an das heilige Gesetz eurer Vernunft und Aufmerksamkeit auf den inne- ren Richter in euerm Busen, auf das Gewissen, einen Maßstab, der auch der Maßstab der Gottheit ist, dies wollte ich in euch en\^ecken.» Es wurden jetzt wieder (Luk. XX, 20) von den Pharisäern und Anhängern des Herodischen Hauses einige an Jesum geschickt, um sich mit ihm in ein Gespräch einzulassen, in dem sie einen Grund finden könnten, ihn bei der römischen Obrigkeit anzu- klagen. Um einzusehen, wie verfänglich die Frage war und wie leicht Jesus sich in der Antwort entweder gegen diese Obrigkeit oder gegen die Vorurteile der Juden hätte verstoßen können, so muß man sich an die jüdische Denkungsart erinnern, die es ganz unerträglich fand, einem fremden Fürsten Abgaben zu bezahlen, weil sie solche ihrem Gott und seinem Tempel bezahlen wollte. Die an ihn Abgeschickten redeten ihn also an: «Wir wissen, Lehrer, daß du in dem, was du sagst, aufrichtig bist, dich an die unverfälschte Wahrheit hältst und niemand zu Gefallen etwas be- hauptest. Sage uns, ist es recht, daß wir dem römischen Kaiser Auflagen entrichten?» Jesus merkte ihre Absicht und sagte: «Ihr Heuchler, was suchet ihr mir eine Falle zu legen? Zeiget mir einen Denarius. Wessen ist dies Bild und die Umschrift (Legende)?> — Sie antwoneten: «Des Kaisers». — «Wenn ihr denn dem DAS LEBEN JESU 55 Kaiser, sagte Jesus, das Recht einräumet, Münzen zu eurem Ge- brauch zu prägen, so gebet denn dem Kaiser, was des Kaisers ist, und eurem Gotte, was zu seinem Dienste erfordert wird.» Sie mußten mit dieser Antwort zufrieden sein, ohne ihm etwas an- haben zu können. Auch die Sadduzäer, eine Sekte unter den Juden, die nicht an UnsterbUchkeit der Seele glaubte, wollten ihre Einsichten auch gegen Jesum wagen, und sagten ihm daher: «Nach unsern Gesetzen muß ein Mann, dessen Bruder ohne Kinder stirbt, die hinterlassene Witwe heiraten. Nun geschah es, daß eine Frau auf diese Art sieben Brüder nacheinander heiratete, da einer nach dem andern starb, ohne Kinder mit ihr zu erzeugen. Wessen sollte nun, wenn die Menschen nach dem Tode fort- dauerten, die Frau sein?» Jesus antwortete auf diesen abge- schmackten Einwurf: «In diesem Leben verheiraten sich wohl die Menschen. Aber die Unsterblichen, die jetzt in die Gesell- schaft der reinen Geister getreten sind, werden mit dem Körper solche Bedürfnisse ablegen.» Ein Pharisäer, der die guten Antworten Jesu auf die Fragen der andern mit angehört hatte, tat (wie es scheint mit einer bösen Absicht) auch eine Frage an Jesum, welches der höchste Grund- satz der Sittlichkeit sei. Jesus antw^ortete ihm: «Es ist Ein Gott, und diesen sollst du von ganzem Herzen lieben und ihm deinen Willen, deine ganze Seele, alle deine Kräfte weihen; dies ist das erste Gebot. Das zweite ist diesem an Verbindlichkeit ganz gleich und lautet so: Liebe jeden Menschen, als wenn er du selbst wäre; ein höheres Gebot gibt es nicht.» Der Pharisäer bewunderte die Vortrefflichkeit dieser Antwort und erwiderte: «Du hast der Wahrheit gemäß geantwortet. Gott seine ganze Seele weihen und den Nächsten als sich selbst lieben ist mehr als alle Opfer und Räucherungen.» Jesum freute die gute Gesinnung des Mannes und er sagte ihm: «In dieser Gesinnung bist du nicht weit entfernt, ein Bürger des Reiches Gottes zu sein, wo nicht durch Opfer oder Abbüßungen oder Lippendienst oder Entsagung der Vernunft um seine Gunst geworben werden soll.» In einem Teile des Tempels war (Luk. XXI, i) eine Büchse aufgestellt, wo man die Geschenke für den Tempel einlegte. Jesus beobachtete unter denen, die ihren Beitrag gaben, neben 56 G.W. F. HEGEL den Reichen, die große Summen steuerten, auch eine arme Witwe, die zwei Heller einlegte. Er sagte darüber: «Diese hat mehr ein- gelegt als alle anderen. Denn alle haben aus ihrem Überflüsse ge- geben, diese aber gab in diesem Wenigen ihr ganzes Vermögen.» Matth. XXIII. Auf Veranlassung von diesen Versuchen der Pharisäer gegen Jesum nahm er Gelegenheit, das Volk und seine Freunde vor den Pharisäern zu warnen. «Die Pharisäer und Ge- setzgelehrten haben sich, sagte er, auf den Stuhl Moses gesetzt. Die Gesetze nun, die sie euch gebieten zu halten, die haltet. Aber ihrem Beispiele, ihrer Handlungsweise folget nicht. Denn sie handhaben zwar die Gesetze des Moses, aber sie selbst halten sie nicht. Ihre Handlungen haben allein den Zweck, sich vor den Menschen einen äußeren Schein der Rechtschaffenheit zugeben.» — «Ihr verzehret das Gut der Witwe und tut euch gütlich bei ihnen, unter dem Vorwand, mit ihnen zu beten. Ihr gleichet übertünchten Gräbern, deren Äußeres bemalt ist, und in deren Innerem die Verwesung haust. Äußerlich gebet ihr euch den Schein der Heiligkeit; euer Inneres ist Heuchelei und Ungerechtigkeit.» Er faßte noch manche Züge zusammen, die er einzeln bei den Gelegenheiten, die sich angeboten hatten, schon an ihnen ge- rügt hatte. Matth. XXIV. Unter dem Herumspazieren in den verschiedenen Teilen des Tempels unterhielten sich die Freunde Jesu über die Pracht desselben. Jesus sagte dabei, es ahne ihm, dieser pomp- volle Gottesdienst und diese Gebäude selbst werden ihr Ende er- reichen. Den Freunden Jesu war dies sehr aufgefallen und als nachher sie allein mit ihm auf dem Ölberg waren, von wo aus sie die Aussicht auf die schönen Tempelgebäude und einen großen Teil der Stadt hatten, so fragten sie ihn: «Wann wird dieses, wo- von du uns vorhin sprachst, geschehen,'' und an welchem Zeichen werden wir die Annäherung der Vollendung des Reiches des Messias erkennen.?» Jesus antwortete ihnen: «Diese Erwartung eines Messias wird meine Landsleute noch in große Gefahren stürzen und verbunden mit ihren übrigen Vorurteilen und dieser blinden Hartnäckigkeit ihren völligen Untergang graben ; diese chimärische Hoffnung wird sie zum Spiel listiger Betrüger oder kopfloser Schwärmer machen. Nehmet euch in acht, daß auch DAS LEBEN JESU 57 ihr dadurch euch nicht in Irrtum führen lasset. Oft wird es heißen : Hier oder dort ist der erwartete Messias. Viele werden sich für den Messias ausgeben, unter diesem Titel sich zu Anführern von Empörungen machen und Häuptern religiöser Sekten aufwerfen, Weissagungen verkünden und Wunder verrichten, um womög- lich auch die Guten irre zu machen. Oft wird es heißen: Dort in der Wüste zeigt sich der erwartete Messias, hier in Grüften hält er sich noch verborgen. Lasset euch dadurch nicht verführen, ihnen nachzulaufen. Solche Anmaßungen und Gerüchte werden zu politischen Aufruhren und Spaltungen des Glaubens Anlaß geben. Man wird Partei nehmen und in diesem Parteigeist ein- ander hassen und verraten und diesem bUnden Eifer für Namen und Worte die heiligsten Pflichten der Menschlichkeit aufzuopfern sich berechtigt glauben. Zerrüttung des Staates, Auflösung aller Bande der Gesellschaft und der Menschlichkeit und in ihrem Gefolge Pest und Hungersnot wird dies unglückliche Land leicht zur Beute auswärtiger Feinde machen. Lasset euch in diesen Stürmen nicht verführen, Partei zu nehmen. Viele werden von diesem Schwindelgeiste angetastet, ohne selbst recht zu wissen, wie ihnen geschah, im Wirbel fortgerissen mit jedem Schritte von der Mäßigung sich entfernen und am Ende sich in die Verbrechen und den Ruin ihrer Partei sich ohne Möglichkeit der Rückkehr verwickelt sehen. Fliehet, fliehet vielmehr, wenn ihr könnt, diesen Schauplatz der Zerrüttung und Lieblosigkeit, entreißet euch allen häuslichen Verhältnissen, zaudert nicht, um noch dies oder das zu bewegen oder zu retten. In jedem Fall bleibet unver- rückt euren Grundsätzen getreu. Ihr Zelotengeist mag euch an- fallen und mißhandeln, prediget Mäßigung und ermahnet zu Liebe und zum Frieden und interessiert euch für keine dieser religiösen und politischen Parteien. Glaubet nicht, in solchen Zusammen- rottungen oder in Verbindungen, die auf den Namen und Glauben einer Person schwören, den Plan der Gottheit vollendet zusehen; er schränkt sich nicht auf ein Volk, einen Glauben ein, sondern umfaßt mit unparteiischer Liebe das ganze menschliche Geschlecht. Dann könnet ihr sagen, er ist vollendet, wenn der Dienst nicht von Namen und Worten, sondern der Dienst der Vernunft und der Tugend auf der ganzen Erde anerkannt und geübt wird. Diese 58 G.W. F. HEGEL Hinsicht auf diese Hoffnung der Menschheit, nicht die eitle Na- tionalhoffnung der Juden wird euch frei von Sektengeist, sowohl als immer aufrecht und mutvoll erhalten. Unter diesen Spaltungen gründe sich eure Ruhe; euer Mut auf unverfälschte Tugend wird wachsen, daß nicht eine falsche, träge Beruhigung sich in euer Herz einschleiche. [Seid immer wachsam, lasset euch nicht in eine träge Ruhe versinken, durch eine falsche Beruhigung], die sich auf Anhänglichkeit an Glaubensformeln, auf Lippendienst und pünktliche Beobachtung der Zeremonien einer Kirche gründet. Es würde (Matth. XXV) dem ähnlich sein, wie wenn zehn Jung- frauen den Bräutigam mit Lampen erwarten, der die Braut heim- führt; wovon fünf sich klüglich mit Öl versahen, fünf aber töricht dies vernachlässigten. Nach langem Warten kommt endlich spät in der Nacht der Bräutigam; sie wollen ihm entgegen; die fünf, die kein Öl hatten, wollten in der Eile fort, um sich noch welches zu kaufen ; die andern konnten ihnen nichts leihen, weil sie gerade für sich genug hatten. In ihrer Abwesenheit kommt indes der Bräutigam an die fünf Klugen ; sie begleiten ihn ins Haus zum Hochzeitsmahl; die andern aber, die auf die Einladung sich ver- ließen, aber von ihrer Seite an dem Wesentlichen es fehlen ließen, wurden ausgeschlossen. So glaubet auch ihr es nicht hinreichend, einen Glauben ergriffen zu haben, wenn ihr es am Notwendigsten, an der Übung der Tugend fehlen laßt, und dann etwa in der Not oder beim Herannahen des Todes noch geschwind einige Grund- sätze zusammenzuraffen oder mit fremdem Verdienst, woran jeder für sich genug hat und andern nichts zukommen lassen kann, euch auszuschmücken gedächtet. Ihr würdet mit eurem Kirchen- glauben allein und der Vertröstung auf fremdes Verdienst vor dem heiligen Richter der Welt nicht bestehen. Ich vergleiche sein Gericht mit dem Gerichte eines Königs, der seine Völker ver- sammelt und wie ein Hirt die Böcke von den Lämmern, die Guten von den Bösen sondert. Zu jenen spricht er: Nähert euch mir, ihr meine Freunde, genießet des Glücks, dessen ihr euch würdig gemacht habt; denn ich hungerte und ihr gäbet mir zu essen; ich litt Durst und ihr tränktet mich; wenn ich als Fremder unter euch war, so nähmet ihr mich auf; wenn ich nackt war, kleidetet ihr mich; wenn ich krank war, pflegtet ihr mich; im Gefängnis DAS LEBEN JESU S9 besuchtet ihr mich. Sie werden voll Verwunderung fragen : Herr, wann sahen wir dich hungrig oder durstig, daß wir dich gesättigt hätten, oder nackt, oder als einen Fremden, oder krank, oder im Gefängnisse, daß wir dich bekleidet, aufgenommen oder besucht hätten ? Der König aber antwortet ihnen : Was ihr einem der ge- ringsten meiner oder eurer Brüder tatet, das belohne ich, als mir erwiesen. Zu den andern aber wird er sprechen: Entfernet euch und empfanget den Lohn eurer Taten ; wenn ich hungerte oder dürstete, speistet, tränktet ihr mich nicht; wenn ich nackt, oder krank oder im Gefängnis war, nähmet ihr euch meiner nicht an. Diese werden ihn auch fragen: Wo sahen wir dich hungrig, oder durstig, oder nackt, oder krank, oder im Gefängnis, daß wir dir einen Dienst hätten erweisen können? Der König wird ihnen die gleiche Antwort geben: Was ihr dem Geringsten nicht getan habt, das vergelte ich, als hättet ihr es mir nicht getan. So spricht auch der Richter der Welt das Urteil der Verwerfung denen, die die Gottheit nur mit den Lippen und andächtigen Mienen, nicht in ihrem Bilde, der Menschheit, ehren.» Des Tages über pflegte Jesus sich in den Gebäuden und Höfen des Tempels, und des Nachts außerhalb der Stadt bei dem Oliven- berge aufzuhalten. Der hohe Rat wagte es nicht, seinen Schluß, Jesum gefangen zu nehmen, öffentlich auszuführen. Nichts kam ihnen daher erwünschter, als das Anerbieten des Judas, eines der zwölf vertrautern Freunde Jesu, ihnen für eine Summe Gelds den Nachtaufenthalt Jesu zu verraten und ihnen behilflich zu sein, ihn da heimlich gefangen zu nehmen. Habsucht scheint die Hauptleidenschaft des Judas gewesen zu sein, die durch seinen Umgang mit Jesu nicht einer besseren Gesinnung Platz gemacht hatte und die wohl sein ursprünglicher Grund, Jesu Anhänger zu werden, gewesen sein mochte, indem er sie befriedigen zu können hoffte, wenn Jesus sein Messiasreich aufgerichtet haben würde. Da Judas einzusehen anfing, daß ein solches Reich der Zweck Jesu nicht sei und daß er sich in seiner Hoffnung betrogen. habe, so suchte er noch aus seiner Freundschaft mit Jesu durch Verräterei an demselben den größtmöglichsten Nutzen zu ziehen. Jesus ließ, nach Gewohnheit der Juden, in Jerusalem ein Passah- mahl, wobei ein Schaf das vorzüglichste Gericht war, zubereiten. 6o G.W. F. HEGEL Es war der letzte Abend, den er mit seinen Freunden zubrachte, Er widmete ihn denselben ganz, um einen tiefen Eindruck von demselben in ihnen zu hinterlassen. Joh. XIII. Bei dem Anfang des Essens stand Jesus noch ein- mal auf, legte seine Oberkleider ab, schürzte sich auf, nahm ein Leintuch und wusch seinen Freunden die Füße, eine Verrichtung, die gewöhnlich von Dienstboten geschah. Petrus wollte dies nicht geschehen lassen. Jesus sagte ihm, er werde den Grund davon gleich erfahren. Als er mit allen fertig war, so sagte er: «Ihr sehet, was ich tat. Ich, den ihr euren Lehrer nennet, habe euch die Füße gewaschen. Ich wollte euch damit ein Beispiel geben, wie ihr euch gegeneinander betragen sollet (Luk. XXII, 25 ff.). Fürsten lieben die Herrschaft und lassen sich dafür Wohl- täter des menschlichen Geschlechts nennen. Ihr nicht also; keiner erhebe sich über den andern, nehme sich etwas heraus über ihn, sondern als Freunde sei jeder gefällig und dienstfertig und mache seine Dienste nicht als eine Wohltat oder als eine Herablassung gegen andere geltend. Ihr wisset dies ; wohl euch, wenn ihr es auch tut. Ich spreche dabei nicht von euch allen, denn ich kann hier das anwenden, ivie er irgend heißt: Einer der mit mir Brot ißt, stößt seinen Fuß gegen mich ; denn einer unter euch wird mich verraten.» Dieser Gedanke machte Jesum trau- rig und ebenso seine Freunde verlegen. Johannes, der Jesu zu- nächst lag, fragte ihn leise, welcher es doch sei? Jesus sagte ihm: «Dem ich dieses Stück Brot gebe, der ist es», und reichte es dem Judas dar mit den Worten: «Was du tun willst, das tue bald.» Von den andern verstand keiner, was dies sagen wollte. Sie meinten, es betreffe sonst einen Auftrag, weil Judas die Kasse der Gesellschaft verwaltete. Judas, vielleicht in der Furcht, von Jesu öffentlich beschämt zu werden, (weil er sah, daß sein Vorhaben Jesu nicht unbekannt sei.) oder durch längere Gegenwart in seinem Vorsatz wankend gemacht zu werden, verließ eilig die Gesellschaft. Jesus sprach jetzt weiter: «Euer Freund, meine Lieben, hat bald seine Bestimmung vollendet. Ihn nimmt der Vater der Menschen in die Wohnungen seiner Seligkeit auf; nicht lange mehr, so werde ich euch entrissen werden. Als Vermächtnis an DAS LEBEN JESU 6i euch hinterlasse ich euch das Gebot, euch untereinander zu heben, und das Beispiel meiner Liebe an euch. Nur durch diese gegen- seitige Liebe sollet ihr euch als meine Freunde auszeichnen.» Petrus fragte Jesum: «Wo gedenkst du denn hinzugehen, daß du uns verlassen willst?» — «Auf den Weg, den ich gehe, sagte Jesus, kannst du mich nicht begleiten.» — «Warum, antwortete Petrus, sollte ich dir nicht folgen können? Ich bin bereit, es mit Gefahr meines Lebens zu tunl» — «Dein Leben willst du mir auf- opfern ? sagte Jesus. Ich kenne dich zu gut, daß du dafür noch nicht Stärke genug hast. Ehe es wieder Morgen wird, kannst du dar- über auf die Probe gesetzt werden. Werdet nicht bestürzt darüber, daß ich von euch getrennt werde. Ehret den Geist, der in euch wohnt, höret auf seine unverfälschte Stimme; durch ihn lernet ihr den Willen der Gottheit kennen, durch ihn seid ihr mit ihr verwandt, ihres Geschlechts, nur in ihm ist euch der Weg zu ihr und zur Wahrheit aufgeschlossen. So sind zwar unsere Personen verschieden und getrennt, aber unser Wesen ist eins und wir sind einander nicht fern. Bisher war ich euer Lehrer, und meine Gegenwart leitete eure Handlungen. Da ich euch verlasse, so lasse ich euch nicht als Waisen zurück. Ich hinterlasse euch einen Führer in euch selbst. Den Samen des Guten, den die Vernunft in euch legte, habe ich in euch aufgedeckt, und das Andenken an meine Lehren und an meine Liebe zu euch wird diesen Geist der Wahrheit und der Tugend in euch aufrecht er- halten, dem die Menschen nur deswegen nicht huldigen, weil sie ihn nicht kennen und nicht in sich selbst suchen. Ihr seid Männer geworden, die ohne fremdes Gängelband sich endlich selbst anzuvertrauen sind. Wenn auch ich nicht mehr bei euch bin, so sei von nun an eure entwickelte Sittlichkeit euer Weg- weiser. Ehret mein Andenken, meine Liebe zu euch dadurch, daß ihr den Weg der Rechtschaffenheit verfolget, auf den ich euch geleitet habe. Der heilige Geist der Tugend wird euch noch vollständiger das lehren, für was ihr jetzt noch nicht empfänghch wäret und euch vieles ins Gedächtnis zurückrufen und ihm Be- deutung geben, was ihr noch nicht verstandet. Ich hinterlasse euch meinen Segen, nicht den Gruß, der bedeutungslos gegeben wird, sondern der reich an Früchten des Guten sei. Daß ich 62 G.W. F. HEGEL euch verlasse, ist selbst für euch besser, denn nur durch eigene Erfahrung und Übung werdet ihr Selbständigkeit bekommen und lernen, euch selbst zu führen. Daß ich von euch gehe, soll euch nicht mit Betrübnis, sondern mit Freude erfüllen, denn ich trete eine höhere Laufbahn in besseren Welten an, wo der Geist schrankenloser sich zum Urquell alles Guten emporschwingt und in seine Heimat, in das Reich der Unendlichkeit eintritt!» «Mit Verlangen habe ich dem Genüsse dieses Mahles in eurer Gesellschaft entgegengesehen. Lasset die Speisen und den Becher herumgehen. Lasset uns hier den Bund der Freundschaft er- neuern.» Und dann teilte er nach der Sitte der Morgenländer (wie noch heutigentags bei den Arabern durchs Essen vom gleichen Brot und Trinken aus demselben Kelche unverbrüchliche Freundschaft gestiftet wird,) einem jeden Brot aus und nach dem Essen ließ er ebenso den Kelch umhergehen und sagte dabei: «Wenn ihr wieder so in freundschaftlichem Kreise zusammen- speiset, so erinnert euch auch eures alten Freundes und Lehrers, und wie euch das Passah ein Bild des Passahs war, das eure Väter in Ägypten aßen und das Blut eine Erinnerung des Opferblutes bei dem Opfer, wodurch Moses einen Bund zwischen Jehova und seinem Volke stiftete (IL Mos. XXIV, 8), so gedenket in Zu- kunft bei dem Brote an seinen Leib, den er aufopferte, und bei dem Becher Weines an sein vergossenes Blut. Behaltet mich in eurem Angedenken, der sein Leben für euch gab, und mein An- denken, mein Beispiel, sei euch ein kräftiges Stärkungsmittel zur Tugend. Ich sehe euch um mich wie die Schosse eines Wein- stocks, die von ihm genährt Früchte tragen und jetzt bald, von ihm abgenommen, durch eigne Lebenskraft das Gute zur Reife bringen. Liebet einander, liebet alle Menschen, wie ich euch liebte; daß ich mein Leben zum Wohl meiner Freunde hingebe, ist der Beweis meiner Liebe. Ich nenne euch nicht mehr Schüler oder Zöglinge; diese folgen dem Willen ihrer Erzieher, oft ohne den Grund zu wissen, warum sie so handeln müssen. Ihr seid zur Selbständigkeit des Mannes, zur Freiheit eignen Willens er- wachsen, aus eigner Tugendkraft werdet ihr Früchte tragen, wenn schon der Geist der Liebe, die Kraft, die euch und mich begeistert, dieselbe ist.» DAS LEBEN JESU 63 «Wenn man euch verfolgt und mißhandelt, so erinnert euch an mein Beispiel, daß es mir und Tausenden nicht besser gegangen ist. Würdet ihr euch auf die Seite der herrschenden Laster und Vorurteile schlagen, so würdet ihr Freunde genug finden, so aber wird man euch hassen, weil ihr Freunde des Guten seid. Das Leben eines Rechtschaifenen ist ein beständiger Vorwurf für den Bösen, der dies fühlt und dadurch erbittert wird; und wenn ihm kein Vorwand übrig bleibt, den guten, vorurteilsfreien Mann zu verfolgen, so wird er die Sache der Vorurteile, der Unterdrückung und des Lasters zur Sache Gottes machen und sich und die Men- schen überreden, er tue mit dem Haß des Guten der Gottheit einen Dienst. Aber der Geist der Tugend wird, wie ein Strahl aus bessern Welten, euch beseelen und euch über die kleinlichen und lasterhaften Zwecke der Menschen erheben. Ich spreche euch im voraus hiervon, damit es euch nicht unerwartet kommt. Wie die Angst der Gebärerin in Freude verwandelt wird, wenn sie einen Menschen in die Welt geboren hat, so wird der Kummer, der eurer wartet, einst in Seligkeit übergehen.» Dann erhob Jesus seine Augen gegen Himmel: «Mein Vater, sagte er, meine Stunde ist gekommen, die Stunde, den Geist, dessen Ursprung Deine Unendlichkeit ist, in seiner Würde zu zeigen, und heimzukehren zu Dir! Seine Bestimmung ist die Ewigkeit und Erhebung über alles, was Anfang und Ende hat, über alles, was endlich ist; meine Bestimmung auf Erden, Dich, Vater, und die Verwandtschaft meines Geistes mit Dir zu erkennen und durch Treue gegen dieselbe mich zu ehren und die Menschen durch das erwachte Bewußtsein dieser Würde zu veredeln. Diese Bestimmung auf Erden habe ich vollendet. Die Liebe zu Dir hat mir Freunde zugeführt, welche es einsehen gelernt haben, daß ich nicht etwas Fremdes oder Willkürliches den Menschen auf- dringen wollte, sondern daß es Dein Gesetz ist, was ich sie lehrte, das still und verbannt von den Menschen in aller Busen wohnt. Nicht durch etwas Eigentümliches oder Auszeichnendes mir Ehre zu erwerben, sondern die verlorene Achtung gegen die wegge- worfene Menschheit wiederherzustellen, war meine Absicht, und der allgemeine Charakter vernünftiger Wesen, die Anlage zur Tugend, die allen zuteil geworden ist, mein Stolz. Voll- 64 G.W. F. HEGEL kommenster, bewahre sie, daß nur Liebe zum Guten das höchste Gesetz in ihnen sei, das sie beherrsche! So sind sie eins, so blei- ben sie vereinigt mit Dir und mit mir. Ich gehe zu Dir, und richte dies Gebet an Dich, daß die freudige Stimmung, die mich belebt, auch sie durchströme. Ich habe sie mit Deiner Offenbarung be- kannt gemacht, und weil sie sie ergriffen haben, so haßt sie die Welt, wie mich, der ich ihr gehorche. Ich bitte Dich nicht, daß du sie von der Welt nehmest — eine Bitte dieser Art kann nicht vor Deinen Thron gebracht werden — aber heilige sie durch Deine Wahrheit; nur aus Deinem Gesetze strahlt sie. Deinen hohen Ruf, die Menschen zur Tugend zu bilden, dem ich folgte, habe ich in ihre Hände niedergelegt. Mögen sie auch in ihrem Teil ihn vollenden und Freunde erziehen, die vor keinem Götzen mehr die Knie beugen, keine Worte, keinen Glauben zum Bande ihrer Vereinigung machen, als die Tugend und Annäherung zu Dir, dem Heiligsten.» Luk. XXII. 39 ; cit. loc. Parallelstellen. Nach diesen Gesprächen stand die Gesellschaft auf, verließ Jerusalem — die Nacht war an- gebrochen — wie gewöhnlich, ging über den Bach Kedron, nach einem Meierhofe, namens Gethsemane, in der Gegend des Ol- bergs. Dieser Ort des nächtlichen Aufenthalts Jesu war auch dem Judas bekannt, weil er oft mit Jesu dort gewesen war. Er hieß seine Jünger beisammen bleiben und er selbst ging mit dreien an einen abgelegenen Ort, um sich seinen Gedanken zu überlassen. Hier trat die Natur auf einige Zeit in ihre Rechte ein. Der Ge- danke der Verräterei seines Freundes, der Ungerechtigkeit seiner Feinde und der Härte seines bevorstehenden Schicksals bemäch- tigte sich des Jesus hier in der Einsamkeit der Nacht, erschütterte ihn und erfüllte ihn mit Angst. Er bat seine Jünger, bei ihm zu bleiben und mit ihm zu wachen, ging unruhig hin und her, sprach bald einiges mit ihnen, ermunterte sie wieder, wenn sie in Schlaf gefallen waren, ging von Zeit zu Zeit auf die Seite und betete einigemal: «Mein Vater, laß, wenn es möglich ist, den bitteren Kelch des Leidens, der mir bevorsteht, bei mir vorübergehen! Doch nicht mein Wille, sondern Dein Wille geschehe! Wenn es nicht sein soll, daß ich dieser Stunde überhoben sei, so ergebe ich mich in Deinen Willen.» Der Schweiß lief ihm in großen DAS LEBEN JESU 65 Tropfen herunter. Als er wieder einmal bei seinen Jüngern stand, und ihnen zuredete, zu wachen, so vernahmen sie das Kommen von Menschen: «Wachet auf, lasset uns gehen, rief er zu seinen Jüngern, mein Verräter naht!» Judas näherte sich jetzt mit Bewaffneten und Fackeln. Jesus hatte seine Standhaftigkeit gesammelt, ging ihnen entgegen: «Wen suchet ihr.f*» fragteer. Sie sagten: «Jesum den Nazarener.» — «Ich bin's», antwortete Jesus. Sie waren verlegen, ob sie am Rechten seien. Er fragte sie noch einmal und erwiderte das Gleiche mit dem Zusatz: «Wenn ihr mich suchet, so lasset diese meine Freunde verschont.» Jetzt nahte sich Judas und gab seinen Begleitern das Zeichen, das er mit ihnen verabredet hatte, um ihnen Jesum kenntlich zu machen. Er sagte nämlich: «Sei ge- grüßt, Lehrer», und umarmte ihn dabei. Jesus erwiderte: «Wie, Freund, mit einem Kusse verrätst du mich?», ward dann von den Soldaten ergriffen. Als Petrus dies sah, zog er sein Schwert, schlug darein und hieb einem Knechte des Hohenpriesters das Ohr ab. Jesus verwies ihn zur Ruhe: «Laß das, und ehre das Schicksal, das die Gottheit mir bestimmt.» Die übrigen Freunde Jesu flohen und zerstreuten sich, als sie sahen, daß die Schar sich Jesu bemächtigt, ihn gebunden hatte und jetzt wegführte, außer ein Jüngling, vom Schlafe aufgeschreckt, der in der Eile nichts als einen Mantel um sich geworfen hatte ; er wollte Jesu folgen, wurde aber von den Soldaten ergriffen und rettete sich dadurch, daß er ihnen entschlüpfte und den Mantel in den Händen ließ. Im Gehen sagte Jesus zu seinen Führern: «Ihr kommet zu mir gewaffnet, mich wie einen Räuber zu packen und doch saß ich alle Tage unter euch öffentlich im Tempel, und ihr ergriffet mich nicht. Aber die Mitternacht ist eure Stunde und die Finsternis euer Element.» Jesus wurde zuerst zu Hannas, dem alten Hohen- priester und Schwiegervater des Kaiphas, und dann zu dem letzteren, der dieses Jahr Hohepriester war, geführt, wo der ganze hohe Rat von Jerusalem versammelt den Gefangenen erwartete und wo Kaiphas diese Maxime eingeschärft hatte, einen zum Besten des ganzen Volkes aufzuopfern sei Pflicht. Petrus war nur von fern den Häschern gefolgt und hätte es nicht gewagt, in den Palast selbst einzutreten, wenn nicht Johannes, der mit dem Hohen- Hegel, Das Leben Jesu S 66 G.W. F. HEGEL priester wohl bekannt war und freien Zutritt in seinem Hause hatte, der Türhüterin gesagt hätte, den Petrus auch einzulassen. Diese machte die Bemerkung gegen den letzteren: «Bist du nicht einer von den Anhängern dieses Mannes?» Petrus leugnete dies geradezu und stellte sich an das Kohlenfeuer unter die Gerichts- diener und Knechte, um sich da, wie sie, zu wärmen. Der Hohepriester, vor dem jetzt Jesus stand, tat verschiedene Fragen an ihn, die seine Lehre und seine Schüler betrafen. Jesus antwortete hierauf: «Ich habe frei und öffentlich vor jedermann geredet, ich habe im Tempel und in den Synagogen gelehrt, wo die Juden alle hinzugehen pflegen; ich habe keine geheimen Lehren; warum fragst du also mich? Frage die, die mich gehört haben, um was ich lehrte; es werden alle es dir sagen können.» Einem der Häscher schien diese Antwort Jesu gegen den Hohen- priester unbescheiden: «So antwortest du dem Hohenpriester?» sagte er, und gab ihm einen Schlag. Jesus sagte mit ruhiger Fassung zu ihm: «Habe ich nicht recht geantwortet, so sage mir den Fehler; habe ich aber gut geantwortet, warum schlägst du mich?»* Viele Zeugen waren aufgeboten worden, um Aussagen gegen Jesum vorzubringen, aber die Priester konnten keinen Ge- brauch davon machen, teils weil sie nicht entscheidend genug waren, teils nicht übereinstimmten. Endlich traten einige auf, die aussagten, sie haben ihn unehrerbietig vom Tempel sprechen ge- hört; aber auch diese stimmten in den näheren Ausdrücken nicht miteinander. Jesus schwieg zu allen still. Endlich trat der Oberpriester un- geduldig hervor. «Antwortest du zu allen diesen Anklagen nichts, so beschwöre ich dich bei dem lebendigen Gotte, uns zu sagen, ob du ein Geweihter, ein Sohn der Gottheit bist.» — «Ja, ich bin es», antwortete Jesus, und diesen verachteten Menschen, der der Gottheit und der Tugend geheiligt war, werdet ihr einst mit Herrlichkeit bekleidet und über die Sterne erhaben erblicken.* Der Hohepriester zerriß sein Kleid und rief: «Er hat Gott ge- * Nach Joh. XVIII, 24 schiene dies in dem Palast des Hannas vorgefallen zu sein; war aber bei Kaiphas der Rat versammelt und geschah dort das eigent- liche Verhör, so stimmte derOrt, wo Petrus Jesum verleugnete, nicht zusammen; bei Kaiphas, allein es heißt überall c/f-y.if il:, im Plural. DAS LEBEN JESU 67 lästert I Was brauchen wir andere Zeugnisse? Ihr habt sein eigenes gehört. Was ist eure Meinung?» — «Er hat des Todes sich schuldig gemacht», war ihr Urteil. Dieser Ausspruch war für die Häscher ein Signal zu Mißhandlungen und Verhöhnungen Jesu, der jetzt in ihren Händen blieb, da der hohe Rat jetzt auf einige Stunden auseinander ging, um früh morgens sich wieder zu ver- sammeln. Petrus hatte indessen immer bei dem Feuer gestanden (Mark. XIV, 66) und noch eine andere Weibsperson, die auch im Dienst des Hohenpriesters stand, erkannte den Petrus und sagte zu den Umstehenden: «Gewiß, dieser ist auch einer der Begleiter des Gefangenen.» Petrus antwortete wieder mit einem unbedingten: Nein! Aber ein Knecht des Hohenpriesters, ein Anverwandter dessen, den Petrus einige Stunden später verwundet hatte, sagte: «Habe ich dich nicht bei Jesu im Meierhofe gesehen?» Auch die Übrigen stimmten ein, auch seine Mundart verrate ihn, daß er aus Galiläa sei. Bei so vielen Umständen, die gegen ihn zeugten, vergaß sich Petrus in der Verlegenheit und Angst so weit, daß er hoch beteuerte und beschwor, daß er nicht begreife, was sie wollen, daß er den Menschen, für dessen Freund sie ihn ansehen, ganz und gar nicht kenne. Indessen fingen die Hähne an, den werden- den Morgen anzukündigen, und gerade unter diesen Beteuerungen wurde Jesus an ihm vorbeigeführt, der sich gegen ihn zuwandte und einen Blick auf ihn warf. Petrus fühlte diesen tief, fühlte jetzt das Verächtliche seines Betragens, fühlte es, wie sehr Jesus in der Abendunterredung berechtigt gewesen war, zu zweifeln, ob die Standhaftigkeit, deren sich Petrus so sehr gerühmt hatte, die Probe aushalten würde, entfernte sich eilig und vergoß bittere Tränen der Selbstbeschämung und Reue. Als jetzt Judas der Verräter sah, daß es mit Jesu so weit ging, daß er zum Tode verurteilt worden war, so reute ihn seine Tat, Er brachte sein Geld (dreißig Silberlinge) den Priestern wieder zurück und sagte: «Ich habe unrecht getan, euch einen Un- schuldigen in die Hände zu liefern.» Man antwortete ihm aber, dies sei seine Sache, sie gehe seine Tat nichts an. Judas warf das Geld in die Tempelbüchse und erhängte sich. Die Priester hatten nun Gewissensskrupel darüber, dies Geld, weil es Blutgeld sei, zu 5» 68 G.W. F. HEGEL dem Gelde des Tempels zu fügen und kauften einen Acker dafür, den sie zum Begräbnisplatz für Fremde bestimmten. Die wenigen übrigen Stunden der Nacht verflossen und der hohe Rat hatte sich wieder versammelt, und da dieser ihn für des Todes schuldig erkannte, aber das Recht nicht mehr hatte, ein solches Urteil zu fällen und zu vollziehen, so verfügte sich die Versammlung gleich des Morgens mit Jesu zu Pilatus, dem römi- schen Statthalter dieser Provinz, um demselben Jesum zu über- geben und dadurch es unmöglich zu machen, daß ein Aufruhr zu Gunsten Jesu unter dem Volke entstünde, wenn er noch in ihren Händen wäre. Sie gingen nicht in den Palast selbst hinein, weil dies noch ein Tag des Festes war, um sich nicht zu verun- reinigen. Pilatus kam heraus in den Vorhof und fragte sie: «Welcher Verbrechen klaget ihr diesen Menschen an, daß ihr seine Verurteilung verlangt?» — «Wäre er nicht ein Verbrecher, so hätten wir dir ihn nicht überliefert», antworteten die Priester. Pilatus en^'iderte: «Nun, so machet ihm den Prozeß und richtet ihn nach euren Gesetzen.» — «Wir dürfen ja kein Todesurteil fällen», versetzten sie. Als Pilatus also hörte, daß das Verbrechen des Todes würdig sein sollte, so konnte er es nicht mehr ablehnen, der Richter über Jesum zu sein und ließ sich jetzt die Anklagen des Rats gegen ihn vortragen. — Mit dem, was nach jüdischen Begriffen eine Lästerung der Gottheit war, daß Jesus für einen Sohn derselben sich bekannt hatte und was der Rat für das todes- würdige Verbrechen hielt, mit dieser Anklage wußte der jüdische Rat wohl, konnte er von Pilatus kein Verdammungsurteil zum Tode erhalten. Sie klagten Jesum also an, daß er das Volk ver- führe, es zur Gleichgültigkeit gegen die Staatsverfassung verleite, woraus zuletzt die Weigerung entstehen werde, dem Kaiser den Tribut zu bezahlen, und daß er sich für einen König ausgebe. Als Pilatus diese Anklagepunkte angehört hatte, verfügte er sich in seinen Palast zurück, ließ Jesum vor sich rufen und fragte ihn: «Gibst du dich wirklich für den König der Juden aus?» Jesus fragte ihn dagegen: «Bist du für dich selbst veranlaßt geworden, den Verdacht zu haben, daß ich mich dafür ausgebe, oder fragst du mich nur, weil andere dessen mich beschuldigten?» Pilatus antwortete: «Bin ich denn ein Jude, daß ich für mich selbst einen DAS LEBEN JESU 69 König eurer Nation erwartete? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich bei mir dessen angeklagt. Was hast du getan, das sie dazu veranlaßte?» Jesus antwortete: «Sie beschuldigen mich, ich maße mir ein Reich an. Aber dieses Reich ist nicht das, was man sonst für einen Begriff mit einem Reiche verbindet. Wäre es dies, so würde ich Untergebene und Anhänger haben, die für mich gekämpft hätten, daß ich nicht in die Hände der Juden gefallen wäre.» — «So gibst du dich doch, erwiderte Pilatus, für einen König aus, da du von einem Reiche sprichst?» — «Wenn du es so nennen willst, ja, antwortete Jesus ; ich glaube mich dafür ge- boren, dies für meine Bestimmung in der Welt, Wahrheit zu lehren und ihr Anhänger zu werben. Und wer sie liebte, der hörte auf meine Stimme.» — «Was ist Wahrheit?» erwiderte Pilatus mit der Miene des Hofmanns, die kurzsichtig, doch lächelnd, des Ernstes Sache verdammt, und hielt wohl Jesum für einen Schwärmer, der sich für ein Wort, für eine Abstraktion aufopferte, die in der Seele des Pilatus bedeutungslos war, und betrachtete das Ganze als eine Sache, die bloß auf die Religion der Juden Bezug habe und die weder ein Verbrechen gegen bürgerliche Gesetze betreffe, noch dabei für die Sicherheit des Staates Gefahr sei. Er verließ Jesum und ging hinaus zu den Juden und sagte ihnen, er finde keine Schuld an dem Menschen. Diese wieder- holten ihre Anklagen, daß er durch seine Lehre im ganzen Lande, von Galiläa an bis nach Jerusalem, Unruhe stifte. Pilatus, auf- merksam dadurch gemacht, daß sie Galiläa als die Gegend nannten, von wo er zu lehren angefangen habe, erkundigte sich, ob der Mann ein Galiläer sei. Da er dies hörte, so schien er froh zu sein, diesen verdrießlichen Handel sich von dem Halse zu schaffen, weil Jesus, als Galiläer, unter Herodes, dem Fürsten dieser Gegend stand, und schickte ihn daher diesem zu, der sich des Festes wegen gerade in Jerusalem befand. Dem Herodes machte es Freude, Jesum zu sehen. Er wünschte dies schon längst, weil er so viel von Jesu reden gehört hatte und etwas Außerordentliches von ihm zu sehen hoffte. Er tat viele Fragen an ihn ; auch die Hohenpriester und ihre Begleiter wieder- holten hier ihre Anklagen. Jesus antwortete nichts zu allem; ebenso gelassen blieb er, als Herodes und seine Höflinge in Spott 70 G.W. F. HEGEL sich gegen ihn ergossen und ihm zuletzt ein Kleid, das ein Zeichen der fürstlichen Würde war, anlegten. Da Herodes nichts mit ihm zu machen wußte und ihm Jesus nur ein Gegenstand des Spottes, nicht einer Strafe zu sein schien, so schickte er ihn zu Pilatus wieder zurück. Übrigens hatte diese Aufmerksamkeit des Pilatus, die Gerichtsbarkeit des Herodes über Jesumals einen Gali- läer zu respektieren, die Wirkung, die Freundschaft zwischen beiden, die vorher unterbrochen worden war, wieder herzustellen. Pilatus war in der vorigen Verlegenheit, berief die Hohenpriester und Ratsglieder zusammen und erklärte ihnen, sie haben diesen Menschen als einen Unruhstifter bei ihm angeklagt, er finde aber nichts, aus dem sich eine Schuld ergebe, die den Tod verdiene, ebensowenig als auch Herodes; weiter als ihn geißeln zu lassen könne er nichts tun und dann werde er ihm die Freiheit wieder- geben. Die Juden waren mit dieser Strafe nicht befriedigt, sondern drangen auf die Todesstrafe. Pilatus, der die Ruhe Jesu bei allen diesen Verhandlungen bewunderte und äußerst ungern daran kam, ein Werkzeug zu sein, dem jüdischen Religionshaß Jesum aufzu- opfern, schlug einen neuen Ausweg vor. Da auch seine Frau zu ihm schickte und sich für Jesum interessierte, so brachte Pilatus einen andern Ausweg auf die Bahn. Es war nämlich eine Gewohn- heit, daß der römische Statthalter am Osterfeste einem jüdischen Gefangenen Freiheit und Leben schenkte. Außer Jesu war noch ein anderer Jude damals im Gefängnis, namens Barrabas, den die Juden wegen verübter Räubereien und Totschläge angeklagt hatten. Pilatus, in der Hoffnung, die Juden werden dies Herkommen aus- zuüben nicht unterlassen wollen und eher die Freiheit Jesu als des Mörders verlangen, überließ ihnen die Wahl zwischen beiden, zwischen Barrabas und dem König der Juden, wie er Jesum spottend nannte. Die Priesterschaft überredete leicht das um- stehende Volk, die Loslassung des Barrabas und den Tod des Jesus zu begehren. Als sie Pilatus noch einmal fragte, zu was sie sich entschlossen hätten, welchen er ihnen frei geben sollte, so riefen sie: «Den Barrabas I» Unwillig rief Pilatus: «Und was soll ich denn mit Jesu anfangen?» — «Laß ihn kreuzigen!» war ihr Ge- schrei. — «Aber was hat er denn Böses getan?» frug Pilatus wieder. Sie riefen stärker: «Ans Kreuz, ans Kreuz mit ihm!» Pilatus ließ DAS LEBEN JESU 71 hierauf Jesum geißeln. Die Soldaten flochten eine Krone von Dornen (Bärenklau, Heracleum), setzten sie ihm aufs Haupt und riefen: «Sei gegrüßt, König der Juden!» und gaben ihm Stöße dabei. Pilatus hoffte ihre Wut dadurch gesättigt zu sehen, sagte ihnen : «Ich wiederhole es euch, daß ich nichts Schuldiges an ihm finde», ließ ihn in die Vorhalle herausführen und sagte: «Da sehet ihn, weidet eure Augen an diesem Schauspiel!» Dieser Anblick be- sänftigte sie nicht. Sie verlangten lärmend seinen Tod. «So nehmet ihn, rief Pilatus noch ungeduldiger, kreuziget ihn! Ich finde ihn nicht schuldig.» Die Juden versetzten: «Er ist nach unsern Ge- setzen des Todes schuldig, denn er hat sich für einen Sohn der Gottheit ausgegeben.» Den Pilatus, der sich hierbei nach römischen Begriffen einen Göttersohn dachte, wandelte noch mehr Bedenk- lichkeit an, und er fragte Jesum: «Woher bist du eigentlich?» Jesus gab aber keine Antwort darauf «Wie, sagte Pilatus, auch mir antwortest du nicht? Weißt du, daß dein Leben und dein Tod ganz von mir abhängt?» Jesus erwiderte: «Nur soweit, als mein Leben und mein Tod in den Plan der Gottheit paßt. Doch ver- mindert dies die Schuld derer nicht, die mich überlieferten.» Pilatus war immer mehr für Jesum eingenommen und geneigt, ihn frei zu lassen. Die Juden, die dies sahen, warfen sich jetzt in die Rolle getreuer und für Cäsars Interesse allein besorgter Unter- tanen, eine Rolle, die ihnen sauer genug ankommen mußte, die aber ihren Zweck nicht leicht verfehlen konnte. «Läßt du diesen los, riefen sie, so bist du nicht ein Freund Cäsars, denn wer sich für einen König ausgibt, ist ein Rebell gegen unsern Fürsten. Pilatus setzte sich jetzt feierlich zu Gericht, ließ Jesum vorführen: « Sehet hier euern König. Soll ich euern König ans Kreuz schlagen lassen.» — «Kreuzige ihn! wir erkennen keinen König als Cäsar!» Als Pilatus den Lärm und das Getümmel immer größer werden sah und Unruhen, vielleicht einen Aufstand zu befürchten hatte, dem die Juden einen für Pilatus höchst gefährlichen Anstrich des Eifers für die Ehre Cäsars geben konnten, und sah, daß die Hart- näckigkeit der Juden unbezwinglich war, ließ er sich ein Gefäß mit frischem Wasser bringen, wusch seine Hände vor dem Volke und sagte: «Ich bin unschuldig an dem Blute dieses Gerechten! 72 G.W. F. HEGEL Ihr habt es zu verantworten ! » Die Juden riefen : «Ja, sein Tod werde an uns und unsern Kindern gestraft!» Der Sieg der Juden war entschieden, Barrabas freigegeben und Jesus zum Tode am Kreuze verurteilt, (eine römische, aber so entehrende Todesart, als heutzutage der Tod am Galgen). Jesus blieb dem rohen Spott und den Mißhandlungen der Soldaten ausgesetzt, bis er hinaus zum Richtplatz geführt wurde. Der Verurteilte mußte den Pfahl sonst selbst hinausschleppen. Doch wurde er Jesu abgenommen und einem Manne mit Namen Simon, der eben in der Nähe stand, zu tragen gegeben. Der Zu- lauf der Menge war sehr groß. Seine Freunde wagten es nicht, sich ihm zu nähern, sondern folgten und sahen der Hinrichtung nur zerstreut und aus der Ferne zu. Ihm näher waren mehrere Frauen, die ihn gekannt hatten und jetzt weinten und sein Schick- sal bejammerten. Jesus wandte sich im Gehen zu ihnen und redete sie an: «Beweinet mich nicht, ihr Frauen von Jerusalem, vielmehr euch selbst und eure Kinder. Es werden Zeiten kommen, wo man die Kinderlosen, die Brüste, die nie säugten, die Leiber, die nie gebaren, glücklich preisen wird. Ihr sehet, wie es mir geht; ziehet den Schluß, wohin ein solcher Geist unter einem Volke es noch bringen w4rd.» Jesus wurde in Gesellschaft zweier Verbrecher gekreuzigt. Sein Kreuz kam in die Mitte zu stehen. Während man ihn daran be- festigte (durch Annagelung der Hände und Anbindung der Füße*), rief Jesus aus: «Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun.» Seine Kleider verteilten wie gewöhnlich die Soldaten unter sich. Pilatus ließ in hebräischer, griechischer und lateinischer Sprache die Aufschrift über sein Kreuz heften: Dies ist der König der Juden. Die Priester verdroß dies und sie meinten, Pilatus hätte schreiben sollen, dass Jesus sich nur dafür ausgegeben habe. Pilatus, der unwillig wegen der ganzen Anklage über sie war, sah gern, daß sie das Demütigende, das für sie in seiner Überschrift lag, empfanden, und gab ihnen, auf ihr Ansuchen, es zu ändern, zur Ant\vort: «Es bleibt bei dem, was ich geschrieben habe.» Indessen war Jesus außer dem körperlichen Schmerz, dem triumphierenden Spotte des jüdischen vornehmen und gemeinen Pöbels wie auch Nur wahrscheinlich; s. Paulus' Memorabilien 2. DAS LEBEN JESU 73 dem rohen Witze der römischen Soldaten ausgesetzt. Auch den einen Verbrecher, der mit Jesu gekreuzigt worden war, machte die Gleichheit ihres Schicksals nicht freundschaftlicher gegen Jesum; es hinderte ihn nicht, auch seinen Spott in den Hohn der Menge zu mischen. Dem andern aber war menschHchere Empfin- dung und Gewissen bei seinen Verbrechen nicht ganz fremd gewor- den ; er verwies es jenem, daß er noch in solchen Umständen gegen einen, der in gleichem Leiden mit ihm sich befinde, bitter sein könne und setzte hinzu: «Unser Los ist gerecht, denn wir empfangen, was unsere Taten verdienten ; und diesem ist schuldlos ein gleiches Schicksal zuteil geworden! Gedenke meiner, sagte er zu Jesu, wenn du in deinem Reiche bist.» — «Bald werden uns zu- sammen, erwiderte Jesus, die Gefilde der Seligkeit aufnehmen.» Unter dem Kreuz stand in tiefer Betrübnis die Mutter Jesu, mit einigen ihrer Freundinnen. Johannes allein von allen Vertrauten Jesu war bei ihnen und teilte ihre Schmerzen. Jesus erblickte sie beisammen und sagte zu seiner Mutter: «Siehe, da ist ein Sohn statt meiner», und zu Johannes: «Sieh diese als Mutter an!» Johannes nahm sie auch dem Wunsche seines sterbenden Freundes gemäß in sein Haus und in seine Pflege auf. Nach einigen Stunden, die er schon am Kreuze hing, rief er überwältigt vom Schmerz aus: «Mein Gott, mein Gott! warum hast du mich verlassen?» Nachdem er noch gerufen, es durste ihn und von ein wenig Essig, den man ihm in einem Schwamm reichte,* zu sich genommen hatte, sprach er noch: «Es ist voll- endet», und zuletzt mit lauter Stimme: «Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist», neigte das Haupt und verschied. Selbst der römische Hauptmann, der bei der Hinrichtung kommandierte, bewunderte die ruhige Fassung und die sich gleich bleibende Würde, mit welcher Jesus starb. Seine Freunde hatten dem Ende ihres teuern Lehrers von ferne zugesehen. Weil die Gekreuzigten sonst nur langsam abstarben und oft noch mehrere Tage am Pfahle lebten und der folgende Tag bei den Juden ein Festtag war, so baten sie Pilatus, damit morgen die * Ae'(cuv • ct^sTs loojjicv et ip/ETczi 'HXci'czc xa&sXstv «ütöv. Lasset ihn nun, quälet ihn nicht weiter, daß er etwa zu zeitig stirbt; wir brächten uns ja nur um den Spaß, wenn Elias kommt und ihm hilft. Mark. XV, 36. 74 G.W. F. HEGEL Körper nicht am Kreuze seien, den Gerichteten die Beine zer- schlagen zu lassen und sie abzunehmen. Bei den Missetätern, die mit Jesu gerichtet worden waren, geschah dies, weil sie noch lebten. Bei Jesu selbst sahen sie, daß dies nicht nötig war. Sie stießen ihm also nur einen Speer in die Seite, woraus ein Wasser (eine Lymphe) mit Blut vermischt herausfloß. Joseph von Arimathia, ein Mitglied des hohen Rats zu Jerusalem, ein sonst unbekannter Freund Jesu, bat es sich von Pilatus aus, ihm den Leichnam Jesu anzuver- trauen. Pilatus erlaubte dies. Joseph in Gesellschaft des Niko- demus, eines andern Freundes, nahm den Toten also ab, balsamierte ihn mit Myrrhe und Aloe, umwickelte ihn mit Leinwand (Linnen) und setzte ihn in seiner Familiengruft bei, die in seinem Garten in Felsen gehauen war und die nahe bei der Gerichtsstätte war, wo sie also um so eher mit diesen Zurüstungen fertig werden konnten, noch vor dem Anfang des Festes selbst, an dem es nicht erlaubt gewesen wäre, mit Toten zu tun zu haben. 24.JuU 95 LI der Zeit, da Jesus unter der jüdischen Nation auftrat, befand sie sich in dem Zustande, der die Bedingung einer früher oder später nachfolgen- den Revolution ist, und immer die gleichen all- gemeinen Charaktere trägt. Wenn der Geist aus einer Verfassung, aus den Gesetzen gewichen ist, und jener durch seine Veränderung zu diesen nicht mehr stimmt, so entsteht ein Suchen, ein Streben nach etwas Anderem, das bald von jedem in etwas anderem gefunden wird, wodurch denn eine Mannigfaltigkeit der Bildungen, der Lebensweise, der An- sprüche, der Bedürfnisse hervorgeht, die, wenn sie nach und nach so weit divergieren, daß sie nimmer nebeneinander bestehen können, endlich einen Ausbruch bewirken und einer neuen allgemeinen Form, einem neuen Bande der Menschen ihr Dasein geben. Je loser dieses Band ist, je mehr es unvereinigt läßt, desto mehr Samen zu neuen Ungleichheiten und künftigen Explosionen liegt darin. So gibt das jüdische Volk zur Zeit Jesu uns nicht mehr das Bild eines Ganzen. Ein Allgemeines hält sie notdürftig noch zu- sammen, aber es ist so viel fremdartiger und mannigfaltiger Stoff, so vielerlei Leben und Ideale vorhanden, so viel unbefriedigtes und nach Neuem neugierig umherschauendes Streben, daß jeder mit Zuversicht und Hoffnungen auftretende Reformator sich eines Anhangs für ebenso versichert halten kann, als einer feindlichen Partei. Die äußere Unabhängigkeit des jüdischen Staates war verloren. Die Römer und von Römern geduldete oder gegebene Könige vereinigten darum ziemlich den allgemeinen, heimlichen Haß der Juden gegen sich. Die Forderung der Unabhängigkeit lag zu tief in ihrer Religion, die andern Völkern kaum das Neben-ihr-Bestehen gönnte; wie sollte sie die Herrschaft eines derselben über ihre Kinder erträglich finden? Das Volk, dessen sonstige Wirklichkeit noch ungekränkt blieb, war noch nicht auf dem Punkt, diese auf- opfern zu müssen, und wartete daher auf einen fremden, mit Macht ausgerüsteten Messias, der für dasselbe täte, was es selbst nicht wagte, oder es zum Wagen begeisterte und durch diese Ge- walt fortrisse. 76 G.W. F. HEGEL Es zeichneten sich viele durch strengere und genauere Beob- achtung aller religiösen Pünktlichkeiten aus, und schon daß sie sich dadurch auszeichneten, zeigt uns den Verlust der Unbefangen- heit, die Mühe und einen Kampf, etwas zu erreichen, was nicht aus sich selbst hervorging. Der Dienst in dem sie standen, war der Dienst gegen ein blindes, nicht wie das griechische innerhalb der Natur liegendes Fatum, und ihre größere Religiosität ein be- ständigeres Anhängen und Abhängen von Mannigfaltigerem, das sich auf das Eine bezöge, aber jedes andere Bewußtsein ausschlösse. Die Pharisäer suchten mit Anstrengung vollkommene Juden zu sein und dies beweist, daß sie die Möglichkeit kannten, es nicht zu sein. Die Sadduzäer ließen sich ihr jüdisches Dasein als ein Wirkliches in sich bestehen, weil es einmal da war, und waren mit wenigem zufrieden, aber es schien für sie unmittelbar kein Interesse zu haben, als nur insofern, als es einmal Bedingung ihres übrigen Genusses w-ar. Sonst waren sie und ihr Dasein sich selbst höchstes Gesetz. Auch die Essener ließen sich nicht in Kampf mit ihm ein, sondern ließen es beiseite liegen, denn dem Streite zu entfliehen warfen sie sich in ihre einförmige Lebensart. Es mußte endlich einer auftreten, der das Judentum selbst ge- radezu angriff"; aber weil er in den Juden nichts fand, das ihm ge- holfen hätte, es zu bestreiten, das er hätte festhalten und mit welchem er es hätte stürzen können, so mußte er untergehen und unmittelbar nur eine Sekte gestiftet haben. Die Wurzel des Judentums ist das Objektive, d. h. der Dienst, die Knechtschaft des Fremden. Dies greift Jesus an. Nur dann kann zwischen Zeremonien und moralischen Gesetzen unter- schieden werden, wenn Moralität vindiziert ist; in der jüdischen Religion war Moralität unmöglich, weil keine Freiheit darin war, sondern durchgängige Herrschaft. a) Knechtschaft gegen ihr Gesetz, den Willen des Herrn; — ihm entgegengesetzt Selbstbestimmung, Selbsttätigkeit. Was ist Knechtschaft gegen das Gesetz? «. Willenslosigkeit. "p. In Be- ziehung auf andere Menschen Gefühllosigkeit, Mangel schöner Beziehungen, Trennung. 7. Gottlosigkeit. b) Der Herr, ein unsichtbarer Herr; — ihm entgegengesetzt Schicksallosigkeit, entweder der Unschuld, oder der Selbstmacht; DAS LEBEN JESU 77 jene nicht möglich; er konnte in sie nicht die beiden Entgegen- gesetzten vereinigen, weil eigentUch nur eins der Entgegenge- setzten ohne Widerstreit herrschte; diese nichts als Gottlosigkeit; also die Herrschaft gemildert in Vaterschaft, Abhängigkeit von einem Liebenden in Ansehung der Not. c) Andere bestimmt, «. entweder von mir; diesem entgegenge- setzt Moralität; — oder ß. von einem andern; Verachtung der Menschen, Egoismus und Hoffen auf objektive Hülfe; diesem entgegengesetzt Achtung anderer, Berichtigung oder Vernichtung dieser Hoffnung. Autorität gegen Autorität; allein die Autorität des Glaubens an Menschennatur. Er wußte, welche Kraft im Menschen war. Wunder. Er hoffte auch auf ihre Wirkung. Reelles, nicht Polemisches. Die Anregung des Subjekts in mancherlei Rücksichten, eine schöne Religion zu stiften. Das Ideal davon, findet man es? Im allgemeinen das Subjekt gegen das Gesetz. Dem Gesetz setzte er Moralität entgegen. Moralität ist nach Kant die Unter- jochung des Einzelnen unter das Allgemeine, der Sieg des Allge- meinen über sein entgegengesetztes Einzelnes. Eher Erhebung des Einzelnen zum Allgemeinen, Vereinigung, Aufhebung der Entgegengesetzten durch Vereinigung. «. Einigkeit im Bestimmten setzt Freiheit voraus; denn ein Beschränktes hat ein Entgegenge- setztes, und die Einigkeit selbst ist auf diese Art beschränkt. .Nicht des Verstandes Einheit, die auch eine unvollständige Einheit ist; durch die Verstandseinheit werden die Getrennten als getrennt gelassen, die Substanzen bleiben getrennt. Die Vereinigung ist ob- jektiv in der Willenseinigkeit. Da sind die Getrennten keine Sub- stanzen. Von den Entgegensetzen wird eins völlig ausgeschlossen ; das andere wird gewählt, d. h. es geht eine Vereinigung des Vor- gestellten und des Vorstellenden vor; das Vorstellende und das Vorgestellte sind eins; dies ist die Handlung. Das Moralische der Handlung ist in der Wahl ; die Vereinigung in der Wahl ist, daß das Ausgeschlossene ein Trennendes ist, daß das Vorgestellte, das in der Handlung vereinigt wird mit dem Vorstellenden, der Tätig- keit, selbst schon ein Vereinigtes sei ; unmoralisch wenn es ein Trennendes ist. Die Möglichkeit des Entgegensetzens ist Freiheit; G.W. F. HEGEL das Entgegensetzen selbst ein Akt der Freiheit. Die moralische Handlung ist dann unvollständig und unvollkommen, weil sie die Wahl, weil sie Freiheit, Entgegengesetzte, Ausschließung eines Entgegengesetzten voraussetzt. Je verbundener dies Ausge- schlossene ist, desto größer die Aufopferung, die Trennung, desto unglücklicher das Schicksal; desto größer dieses Einzelne, desto zerrissener die Idee des Menschen; desto intensiver sein Leben, desto mehr verliert es an Extension und es trennt sich wieder desto mehr. Moralität ist Angemessenheit, Vereinigung mit dem Gesetz des Lebens; ist dieses Gesetz aber nicht Gesetz des Lebens, sondern selbst ein Fremdes, so ist es die höchste Trennung, Objek- tivität. H- Einigkeit des ganzen Menschen. T. Ideal der Einigkeit. Die Idee des Willens ist das Gegenteil des Willens, ihr Zweck, nicht zu wollen; aber das Objekt der Handlung, der Gedanke, der Zweck, immer ein Trieb, eine Tätigkeit, eine reflektierte freilich, aber nicht des passiven Menschen, also eines fremden Willens. Zur bestimmten Handlung ein bestimmter Wille, Trieb not- wendig. Aber dieser bestimmte Wille nicht im passiven Menschen wirklich, also nicht in der Idee, in der Vorstellung. Dieser fremde Wille ein objektives Gesetz. Von moralischen Geboten sind nur die Verbote fähig, objektiv zu werden. Die moralischen Gebote sind Vereinigungen als Regeln ausgedrückt. Regeln sind die Beziehungen der Objekte aufeiiiander. Die äußere Beziehung Getrennter kann nur negativ, d. h. als Verbot angesehen werden, und lebendige Vereinigung, Einigkeit in der moralischen Handlung ist keine äußere, d. h. die Bezogenen sind keine Getrennten mehr. Moralität ist Aufhebung von Trennung im Leben, Theoretische Einheit ist Einheit Entgegengesetzter. Das Prinzip der Moral ist Liebe. Beziehung in Trennung, Bestimmen oder Bestimmtwerden, jenes unmoralisch gegen andere, dies gegen sich selbst; denn beides ist nur Bewirkung einer theoretischen Einheit. Wollen ist das AusschHeßen des Entgegengesetzten; die Tat ist das Aufheben der Trennung zwischen dem Gewollten, jetzt noch Vorgestellten und dem Streben, der Tätigkeit, dem Trieb, dem Wollenden. Bei einem positiven Gesetz ist die Handlung keine Vereinigung, sondern ein Bestimmtwerden, das Prinzip nicht Liebe; das Motiv DAS LEBEN JESU 79 ist ein Beweggrund im eigentlichen Sinne; es verhält sich als Ur- sache, Wirkendes, es ist ein Fremdes, nicht eine Modifikation des Wollenden. Dadurch, daß er ihnen zeigte, sie haben einen schlechten Willen, zeigte er ihnen, daß sie einen Willen haben. In der Bergpredigt immer ein Gegenüberstellen des objektiven Gebotes und der Pflicht. Ein Opfer nicht deswegen, damit etwas geschenkt und verziehen wird, sondern ihr sollt verzeihen; Eid nicht wegen des Tempels heilig, sondern ihr sollt wahrhaftig sein; die Handlung und eure Absicht sollen eins sein; ihr sollt die Handlung in ihrem ganzen Umfang tun; jede Handlung stammt aus einem Gesetz, dies Gesetz soll euer eignes sein. Mit der Veränderung des objektiven Gesetzes mußten sich auch die andern Seiten der Verhältnisse der Juden ändern. Hat der Mensch selbst Willen, so steht er in ganz anderm Verhältnis zu Gott als der bloß passive. Zwei unabhängige Willen, zwei Sub- stanzen gibt es nicht; Gott und der Mensch müssen also eins sein. Aber der Mensch ist der Sohn und Gott der Vater; der Mensch nicht unabhängig und auf sich selbst bestehend; er ist nur, insofern er entgegengesetzt, eine Modifikation ist, und darum auch der Vater in ihm. In diesem Sohne sind auch seine Jünger, auch sie sind eins mit ihm, eine wirkHche Transsubstantiation, ein wirkliches Einwohnen des Vaters im Sohne und des Sohnes in seinen Schülern. Diese alle nicht Substanzen, schlechthin getrennt und nur im allgemeinen Begriffe vereinigt, sondern wie ein Wein- stock und seine Reben; ein lebendiges Leben der Gottheit in ihnen. Diesen Glauben an ihn forderte Jesus, Glauben an den Menschen- sohn, daß der Vater in ihm wohne; und wer an ihn glaube, in dem wohne auch er und der Vater. Dieser Glaube ist der Objek- tivität der Passivität unmittelbar entgegen, und unterscheidet sich von der Passivität der Schwärmer, die ein Einwohnen Gottes und Christi in sich hervorbringen oder empfinden wollen, indem sie hier sich und dieses in ihnen regierende Wesen unterscheiden, also wieder die von einem Objekt Beherrschten sind. Uns von einem objektiven historischen Christus und der Abhängigkeit von demselben dadurch befreien wollen, daß er so subjektiv gemacht wird, daß er ein Ideal sei, heißt eben, ihm das Leben zu einem 8o G.W. F. HEGEL Gedanken machen, dem Menschen gegenüber zur Substanz, und ein Gedanke ist nicht der lebendige Gott. Ihn zu einem bloßen Lehrer der Menschen machen, heißt die Gottheit aus der Welt der Natur und dem Menschen nehmen. Jesus nannte sich der Messias, ein Menschen-Sohn, und kein anderer konnte er sein; nur Unglaube an die Natur konnte einen andern, einen übernatürlichen en-varten; das Übernatürliche ist nur beim Unternatürlichen vorhanden, denn das Ganze, obzwar getrennt, muß immer da sein. Gott ist die Liebe, die Liebe ist Gott; es gibt keine andere Gott- heit als die Liebe. Nur was nicht göttlich, was nicht liebt, muß die Gottheit in der Idee haben, außer sich. Wer nicht glauben kann, daß Gott in Jesu war, daß er im Menschen wohne, der ver- achtet die Menschen. Wohnt die Liebe, wohnt Gott unter den Menschen, so kann es Götter geben; wo nicht, so sind keine Götter möglich. * Die Objektivität der Gebote, der Gesetze zerstören, zeigen, daß etwas auf einem Bedürfnisse des Menschen, auf der Natur ge- gründet ist, Sünden vergeben [a-^zho.'.), erlassen, die Strafen der Sünden aufheben, dies ist ein Wunder; denn die Wirkung kann nicht von der Ursache getrennt werden; vorzüglich aber kann das Schicksal nicht zernichtet werden. Denkt man sich eine Auf- hebung der Strafe, so ist die Strafe etwas ganz Objektives, von einem Objekt Kommendes, nicht ganz notwendig mit der Schuld Zusammenhängendes. Überhaupt, wenn man auch die Strafe als etwas von der Schuld ganz Untrennbares nimmt, so ist sie doch soweit objektiv, dass sie Folge eines Gesetzes ist, von dem man sich in der Übertretung losgemacht hat, aber doch noch von ihm abhängt. Bei einem objektiven Gesetz und Richter ist das Gesetz befriedigt, wenn ich mißhandelt worden bin, wie ich mißhandelt habe, wenn die Trennung, die ich gemacht, ebenso auf mich zurückgewirkt hat. In der moralischen Strafe ist das Getrennte nicht ein Äußeres, dem ich entfliehen, das ich überwältigen kann; die Tat ist die Strafe in sich selbst; soviel ich mit der Tat anscheinend fremdes Leben verletzt habe, so viel habe * Götter sind die einzelnen Ideale der Trennungen; ist alles getrennt, so ist nur ein Ideal. DAS LEBEN JESU ich eignes verletzt. Leben ist als Leben nicht von Leben ver- schieden; das verletzte Leben steht mir als Schicksal gegenüber; befriedigt ist es, wenn ich seine Macht, die Macht des Toten ge- fühlt habe, so wie ich im Verbrechen bloß als Macht handelte. Versöhnt kann das Gesetz nicht werden, denn es beharrt immer in seiner furchtbaren Majestät und läßt sich nicht durch Liebe bei- kommen. Denn es ist hypothetisch und die Möglichkeit kann nie aufgehoben, die Bedingung, unter der es eintritt, kann nie un- möglich werden. Es ruht, so lange diese Bedingung nicht eintritt, aber ist nicht aufgehoben. Aber diese Ruhe ist keine Versöhnung, weil das Gesetz zwar kein so Bestehendes ist, daß es immer wirk- sam sein und trennen müßte, aber weil es bedingt, weil es nur unter einer Trennung möglich ist. Das Schicksal hingegen kann versöhnt werden, weil es selbst eins der Glieder, ein Getrenntes ist, das nicht als Getrenntes durch sein Gegenteil vernichtet, aber durch Vereinigung aufgehoben werden kann. Schicksal ist das Gesetz selbst, das ich in der Handlung (diese sei Übertretung eines andern Gesetzes) aufgestellt habe, in seiner Rückwirkung auf mich. Die Strafe ist nur die Folge eines andern Gesetzes ; die notwendige Folge kann nicht aufgehoben werden; die Handlung müßte un- geschehen gemacht werden ; wo nichts als Ursachen undWirkungen, als Getrennte sind, da ist keine Unterbrechung der Reihe möglich. Das Schicksal hingegen, d. h. das rückwirkende Gesetz selbst kann aufgehoben werden; denn ein Gesetz, das ich selbst aufge- stellt habe, eine Trennung, die ich selbst gemacht habe, kann ich auch vernichten. Da Handlung und Rückwirkung eins ist, so versteht es sich von selbst, daß die Rückwirkung nicht einseitig aufgehoben werden kann. Die Strafe ist das Bewußtsein einer fremden Macht, eines Feindseligen ; wenn sie ausgewirkt hat unter der Herrschaft des Gesetzes, so ist dieses Gesetz befriedigt und ich bin befreit von einem Fremden, das von mir abläßt und sich wieder in die drohende Gestalt zurückzieht, das ich aber nicht zum Freunde gemacht habe. Das böse Gewissen ist das Bewußtsein einer bösen Handlung, eines Geschehenen, einesTeils eines Ganzen, über das ich keine Macht habe, eines Geschehenen, das nie un- geschehen gemacht werden kann, denn es war ein Bestimmtes, Beschränktes. Das Schicksal ist das Bewußtsein seiner selbst Hegel, Das Leben Jesu 6 82 G.W. F. HEGEL (nicht der Handlung), seiner selbst als eines Ganzen, dies Bewußt- sein des Ganzen reflektiert, objektiviert. Da dieses Ganze ein Lebendiges ist, das sich verletzt hat, so kann es wieder zu seinem Leben, zu der Liebe zurückkehren; sein Bewußtsein wird wieder Glaube an sich selbst ; und diese Anschauung seiner selbst ist eine andere geworden, und das Schicksal ist versöhnt. Liebe ist aber alsdann Bedürfnis; in sich selbst ist die Ruhe ver- loren; dies ist die Wunde, die zurückbleibt, die Anschauung seiner selbst als eines Wirklichen, dem die Anschauung seiner als eines Strebenden, das von dieser Wirklichkeit sich entfernt, entgegen ist. Weil aber eben hier nur ein Streben ist, so ist es Bedürfnis und mit einer Wehmut verknüpft, die in der Liebe, dem be- friedigten Streben allein wegfällt. Vergebung der Sünden ist daher nicht Aufhebung der Strafe (denn jede Strafe ist etwas Positives, Objektives, das nicht ver- nichtet werden kann), nicht Aufhebung des bösen Gewissens, denn keine Tat kann zur Nichttat werden, sondern durch Liebe versöhntes Schicksal. Daher die Regel Jesu: «Wenn ihr die Fehler vergebet, so sind euch die eurigen vom Vater auch vergeben». Andern verzeihen kann nur die Aufhebung der Feindschaft, die zurückgekehrte Liebe, und diese ist ganz. Die Verzeihung der Fehler kommt aus ihr; diese Verzeihung ist nicht ein Fragment, eine einzelne Handlung. «Richtet nicht, daß ihr nicht gerichtet werdet; stellt ihr keine Gesetze auf, denn diese gelten auch für euch». Jesu zuversichtlicher Ausspruch: «Dir sind deine Sünden vergeben», wo er Glauben und Liebe fand, wie bei Maria Magdalena. Die Vollmacht, die er seinen Freunden gab, zu binden und zu lösen, wenn er in ihnen den hohen Glauben an ihn als einen Menschen gefunden hatte, — einen Glauben, der die ganze Tiefe der Menschennatur gefühlt hatte, — dieser Glaube schließt die Fähigkeit in sich, andere durchzufühlen und die Harmonie oder Disharmonie ihres Wesens zu empfinden, ihre Schranken und ihr Schicksal, ihre Bande zu erkennen. Rückkehr zur Moralität hebt die Sünden und ihre Strafen, das Schicksal nicht auf Die Handlung bleibt; im Gegenteil wird sie nur um so zwingender. Je größer die Moralität, um so tiefer wird das Unmoralische derselben gefühlt. Die Strafe, das Schicksal w^ird DAS LEBEN JESU 83 nicht aufgehoben, weil die Moralität noch immer eine objektive Macht sich gegenüberstehen hat. Die Aufhebung der Handlung, Schadenersatz ist eine ganz objektive Handlung. (Lücke der Handschrift)^) . . . Joh. V, 26. "Öoirap ■[dp o TraTr^p aysi C<'jv;v iv iauiu) ,ou':(tJC zat tw uiu) £0(oxcv C"J^(V i/ätv iv iß'jTio.xcä i^ouatfzv ioioxsv cüiio xpt'aiv zoiciv ,ö-i utöc c(v9pojxou ioTtv. Jener das Einige, Ungeteilte, Schöne; dieser das Modifizierte, utoc av()^p(ijTOu, das Herausgegangene aus der Einigkeit. Darum hat er Macht gegen ein FeindHches, Gegenüberstehendes, das Gericht, ein Gesetz gegen solche, die von ihm abtrünnig sind. Reich der Freiheit und Wirklichkeit. Joh. XII, ^6. 'Sc to ^w; 'i'/y^^, ziaTcüsis v.:, TÖ (fwc , Iva uJot 'fwTOQ 'f3VT;a9-c. In Matthäus, Markus und Lukas Christus mehr im Gegensatz gegen die Juden, mehr Moral. In Johannes mehr er selbst, seine Beziehung auf Gott und seine Gemeine; mehr religiösen Inhalts. Seine Einheit mit dem Vater und wie seine Anhänger mit ihm und unter sich eins sein sollen. Er ist der Mittelpunkt und das Oberhaupt; wie bei der lebendigsten Vereinigung mehrerer Menschen immer noch Trennung stattfindet, so auch in dieser Vereinigung. Dies das Gesetz der Menschheit; im Ideal das völlig vereinigt, was noch getrennt ist, die Griechen in Nationalgöttern, die Christen in Christo. a) Moral, b) Liebe, c) Religion. Ich Christus, Reich Gottes, Gestalt desselben unter diesen Umständen. Wunder. Gesinnung hebt die Positivität der Gebote auf, Liebe die Schranken der Gesinnung, Religion die Schranken der Liebe. In der objektiven Welt ist der Mensch der Macht entgegenge- gesetzt, die ihn beherrscht, und ist insofern leidend, sofern er tätig ist. Er verhält sich ebenso ; es ist ihm ein Leidendes gegen- über. Er ist immer Sklave gegen einen Tyrannen und zugleich Tyrann gegen einen Sklaven. Durch die Gesinnung ist nur das objektive Gesetz aufgehoben, aber nicht die objektive Welt. Der Mensch steht einzeln und die Welt ihm gegenüber. Die Liebe knüpft Punkte in Momenten zusammen, aber die Welt, in ihr der Mensch und ihre Beherrschung besteht noch. 6* 84 G.W. F. HEGEL In einer positiven Religion der Mensch einerseits bestimmt, Gott der Herrscher; auch sein Entgegengesetztes, Objektives nicht allein, einsam, auch ein Beherrschtes von Gott. Die tyrannische Idee zugleich schützend, denn jeder ist der LiebUng seiner Idee: die Idee beherrscht mich, ist gegen mich, aber zugleich in meiner Entgegensetzung gegen die Welt ist sie auf meiner Seite.* Die Beherrschung der Juden vom Tyrannen verschieden, weil der Tyrann ein wirklicher ist; ihr Jehova ein Unsichtbares; der wirk- liche Tyrann ist feindselig. Mit dem objektiven Gesetze fällt ein Teil des Beherrschens und des Beherrschtwerdens weg. Ein Gesetz ist eine Tätigkeit als Wirkung, also bestimmte, beschränkte Tätigkeit, die die Wirkung bei einer eintretenden Bedingung ist, oder vielmehr der Zusammen- hang selbst zwischen den Bedingungen und der Tätigkeit als Wirkung. Ist der Zusammenhang notwendig, so ist er ein Muß ; ist die Möglichkeit der Nichtäußerung der Tätigkeit möglich, ein Sollen. Ist der Zusammenhang so notwendig, keine Freiheit. Dies auf zweierlei Art: der vollständige Grund, d. i. der vollständige Zusammenhang in der Bedingung selbst, lebendige Wirkung, oder nicht in der Bedingung, tot zwischen beiden. Freiheit und Ge- setz, a) Tauglichkeit zur Bekämpfung des Gesetzes, b) Mangel- haftigkeit. Das Objekt der Handlung ist im Positiven nicht der reflektierte Trieb selbst, oder der Trieb als Objekt, sondern ein Fremdes, von dem Triebe Verschiedenes. Kants praktische Vernunft ist das\'ermögen der Allgemeinheit, d. h. das Vermögen auszuschließen ; die Triebfeder Achtung ; dies Ausgeschlossene in Furcht unterjocht; eine Desorganisation, das Ausschließen eines noch \''ereinigten ; das Ausgeschlossene ist nicht ein Aufgehobenes, sondern ein Getrenntes, noch Bestehendes. Das Gebot ist zwar subjektiv, ein Gesetz des Menschen, aber ein Gesetz, das anderm in ihm Vorhandenen widerspricht, ein Gesetz, das herrscht. Es gebietet nur die Achtung, ist das Gegenteil des * In der Beherrschung das wirkliche A tätig, das wirkliche B leidend ; die Synthese C der Zweck; C eine Idee in A und insofern B ein Mittel; aber auch A das dem C Gehorchende, von C Bestimmte; A ist in Rücksicht auf C be- herrscht, in Rücksicht auf B beherrschend; da C zugleich ein Zweck A's, so dient C dem A und beherrscht das B. DAS LEBEN JESU 85 Prinzips, dem die Handlung gemäß ist; das Prinzip ist allgemein; Achtung ist dies nicht; die Gebote sind für die Achtung immer ein Gegebenes. Moralität ist Abhängigkeit von mir selbst, Ent- zweiung in sich selbst. Die Moralität hebt nur das Beherrschtwerden des Ich auf, und damit das Herrschen desselben über Lebendige. Aber dadurch ist das Lebendige noch eine Menge schlechthin Getrennter, Unverbundener und es bleibt noch ein unendlich toter Stoff übrig, und diese Vereinzelten bedürfen noch eines Herrschers, eines Gottes, und das moralische Wesen selbst insofern eines Herrschers, insofern es nicht moralisch (nicht: unmoralisch) ist; es ist ein Ruhendes, das keine Gewalt tut und keine leidet, auch wo einem Wesen von einem dritten Gewalt geschieht, nicht abhilft. Die Allgemeinheit ist tot, denn sie ist dem Einzelnen entgegenge- setzt, und Leben ist Vereinigung beider. Die Moralität hebt zugleich die rein positiven Gebote auf, in- dem sie kein Gesetz anerkennt, als ihr eigenes; aber inkonsequent darin, indem sie doch nicht bloß ein Bestimmendes, sondern ein Bestimmbares ist, also noch unter einer fremden Macht steht. Jesus setzt dem Gebote die Gesinnung gegenüber, d. h. die Ge- neigtheit, so zu handeln. Eine Neigung ist in sich gegründet, hat ihr idealisches Objekt in sich selbst, nicht in einem Fremden (dem Sittengesetz der Vernunft). Er sagt nicht: «Haltet solche Gebote, weil sie Gebote eures Geistes sind, nicht weil sie euern Voreltern gegeben worden sind, sondern weil ihr sie selbst euch gebt.» So sagt er nicht; ersetzt der pßichtmäßigen Gesinnung gegenüber die Geneigtheit, so zu handeln. Da eine moralische Handlung beschränkt ist, so ist auch das Ganze, aus dem sie kommt, immer beschränkt und zeigt sich nur in dieser Beschrän- kung; sie ist aber nur durch ihr Objekt, durch die besondere Art der Trennung, die sie aufhebt, bestimmt; sonst ist innerhalb dieser Grenze ihr Prinzip vollständige Vereinigung. Da aber diese Ge- sinnung bedingt, beschränkt ist, so ruht sie, und handelt nur, wenn die Bedingung eintritt; dann vereinigt sie. Sie ist also einer- seits nur im Handeln sichtbar, in dem, was sie tut; man kann von ihr nicht im vollen Sinne sagen: sie ist, weil sie nicht unbedingt ist. Andererseits ist sie in der Handlung nicht vollständig dar- 86 G.W. F. HEGEL gestellt; denn die Handlung zeigt nur die bewirkte objektive Be- ziehung des bei der Handlung Vorhandenen, nicht die Ver- einigung, die das Lebendige ist. Aber weil diese Vereinigung nur in dieser Handlung ist, so steht sie einzeln und isoliert; es ist nichts mehr vereinigt worden, als in dieser Handlung geschehen ist. Ist zugleich ein Streben vorhanden, diese Akte zu verviel- fältigen, so ist das Prinzip nicht mehr eine ruhende Gesinnung; ein Bedürfnis des Ganzen, der Vereinigung ist vorhanden, das Bedürfnis der Liebe, allgemeiner Menschlichkeit. Sie sucht das Ganze in einer unendlichen Mannigfaltigkeit von Handlungen zu fassen, dem Beschränkten der einzelnen Handlung durch die Menge und Vervielfältigung den Schein des ganzen Unendlichen zu geben. Darum sind schöne Seelen, die unglücklich sind, ent- weder daß sie sich ihres Schicksals bewußt oder daß sie nur nicht in der ganzen Fülle ihrer Liebe befriedigt sind, so wohltätig. Sie haben schöne Momente des Genusses, aber auch nur Momente, und die Tränen des Mitleidens, die Rührung über eine solche Handlung sind Wehmut über ihre Beschränktheit, oder das hart- näckige Ausschlagen der Annehmung des Dankes, der verborgene Hochmut sind eine Scham über die Mangelhaftigkeit des Zu- standes; der Wohltäter ist immer größer als der Empfangende. Jesus trat nicht lange vor der letzten Krise auf, welche die Gärung der mannigfachen Elemente des jüdischen Schicksals herbeizog. In dieser Zeit der Innern Gärung, der Entwickelung dieses verschiedenen Stoffes, bis er zu einem Ganzen gesammelt wird, und offener Krieg entsteht, gingen dem letzten Akte mehrere partielle Ausbrüche vorher. Menschen von gemeinerer Seele, aber von starken Leidenschaften, faßten das Schicksal des jüdi- schen Volkes nur unvollständig auf, und waren also nicht ruhig genug, weder um leidend sich von seinem Willen forttragen zu lassen, und nur in der Zeit mit fortzuschwimmen, noch um die weitere Entwickelung abzuwarten, die nötig gewesen wäre, um sich eine größere Macht beizugesellen; so liefen sie der Gärung des Ganzen zuvor und fielen ohne Ehre und ohne Wirkung. Jesus bekämpfte nicht nur einen Teil des jüdischen Schicksals, weil er DAS LEBEN JESU 87 nicht von einem andern Teil desselben befangen war, sondern stellte sich dem Ganzen entgegen, war also selbst darüber erhaben und suchte sein Volk darüber zu erheben. Aber solche Feind- schaften, als er aufzuheben suchte, können nur durch Tapferkeit überwältigt, nicht durch Liebe versöhnt werden. Auch sein er- habener Versuch, das Ganze des Schicksals zu überwinden, mußte darum in seinem Volke fehlschlagen, und er selbst ein Opfer des- selben werden. Weil Jesus sich auf keine Seite des Schicksals geschlagen hatte, so mußte zwar nicht unter seinem Volke, denn dies besaß noch zu viel, aber in der übrigen Welt seine Religion einen so großen Eingang bei Menschen finden, die keinen Anteil mehr an dem Schicksal, gar nichts zu verteidigen oder zu be- haupten hatten. Vor dem Geiste Christi (Lücke der Handschrift) .... digen Modifikation der Menschennatur gegründet er- kennen mögen, waren ihnen geboten, waren für sie durchaus positiv. — Die Ordnung, in welcher hier den verschiedenen Arten von Gesetzgebung der Juden gefolgt wird, ist also eine ihr fremde, eine gemachte Ordnung, und die Unterschiede kommen erst in sie durch die Art, wie verschieden auf sie reagiert wird. Geboten, die einen bloßen Dienst des Herrn, eine unmittelbare Knechtschaft, einen Gehorsam ohne Freude, ohne Lust und Liebe verlangten, d. h. den gottesdienstlichen Geboten stellte Jesus das ihnen gerade Entgegengesetzte, einen Trieb, sogar ein Bedürfnis des Menschen gegenüber. Da religiöse Handlungen das Geistig- ste, das Schönste, dasjenige sind, was auch die durch die Ent- wickelung notwendigen Trennungen noch zu vereinigen strebt, und die Vereinigung im Ideal als völlig seiend, der WirkUchkeit nicht entgegengesetzt darzustellen, also in einem Tun sie auszu- drücken, zu bekräftigen sucht, so sind religiöse Handlungen, wenn ihnen jener Geist der Schönheit mangelt, die leerste, die sinn- loseste Knechtschaft*, und über diese ist die Befriedigung des ge- meinsten menschlichen Bedürfnisses erhaben, weil in ihm doch das Gefühl oder die Erhaltung eines wenn auch leeren Seins liegt. Daß die höchste Not Heiliges verletzt, ist ein identischer Satz, * Ein Bewußtsein seiner Vernichtung fordert ein Tun, in dem der Mensch sein Nichtsein, seine Passivität ausdrückt. 88 G.W. F. HEGEL denn die Not ist ein Zustand des Zerrissenseins und eine ein heiliges Objekt verletzende Handlung ist die Not in Handlung. Aber durch eine unbedeutende Handlung ein heiliges Objekt zu entweihen, kann nur aus der \'erachtung desselben entspringen, und eine geringe Ehrfurcht wird sich die Äußerung eines Einfalls oder einer Willkür nicht versagen. Der Kontrast zwischen der Heiligkeit eines Objekts oder Gebotes und die Entweihung des- selben wird desto größer, je geringer die Not, je größer die Will- kür in der Entweihung war. In der Not wird entweder der Mensch zum Objekt gemacht und unterdrückt oder er muß die Natur zu einem Objekt machen und unterdrücken. Nicht nur die Natur ist heilig; es kann auch Heiliges geben, das an sich Objekt ist, nicht nur wenn Objekte selbst Darstellungen eines viele vereinigenden Ideals sind, sondern auf irgend eine Art mit diesem in Beziehung stehen, zu ihm ge- hören. Die Not kann die Entweihung eines solchen heiligen Dinges gebieten; aber es ohne Not zu verletzen, ist Mutwille, wenn das, worin ein Volk vereinigt ist, zugleich ein Gemeinsames, ein Eigentum aller ist. Denn alsdann ist die Verletzung des Heiligtums zugleich eine ungerechte Verletzung des Rechtes aller. Der fromme Eifer, der Tempel und Altäre eines fremden Gottes- dienstes zerbricht, seine Priester verjagt, entweiht gemeinsame und allen gehörige Heiligtümer. Aber ist ein Heiliges nur inso- fern alle vereinigend, als alle entsagen, als alle dienen, so nimmt hieran jeder, der sich von anderen trennt, sein Recht wieder auf, und die Verletzung eines solchen heiligen Dinges oder Gebotes ist in Rücksicht der andern nur insofern eine Störung, als der Gemeinschaft mit ihnen entsagt und der willkürliche Gebrauch seiner Sache, sei dies seine Zeit oder was es ist, wieder vindiziert wird. Um so geringer aber ein solches Recht und die Auf- opferung desselben ist, um so weniger wird der Mensch darüber seinen Mitbürgern in dem, was ihnen das Höchste ist, sich ent- gegensetzen, die Gemeinschaft mit ihnen im innigsten Punkte der Verknüpfung zerreißen wollen, nur wenn das Ganze der Ge- meinschaft ein Gegenstand der Verachtung ist; und da Jesus aus der ganzen Existenz seines Volkes heraustrat, so fiel diese Art von Schonung weg, mit der ein Freund sich in Gleichgültigkeiten DAS LEBEN JESU 89 gegen den beschränkt, mit dem er sonst ein Herz und eine Seele ist, und um einer jüdischen HeiHgkeit willen versagte er sich nicht, schob nicht einmal die Befriedigung eines sehr gemeinen Bedürf- nisses, einer Willkür auf, sondern ließ darin seine Trennung von seinem Volk, seine ganze Verachtung gegen die Knechtschaft unter objektiven Geboten lesen. Seine Begleiter gaben den Juden durch das Ausraufen der Ähren am Sabbat ein Ärgernis. Der Hunger, der sie dazu trieb, konnte in jenen Ähren keine große Befriedigung finden. Die Ehrfurcht für den Sabbat hätte diese geringe Befriedigung wohl um die Zeit aufschieben können, die sie bis zu einem Orte zu kommen brauchten, wo sie zubereitete Speise finden konnten. Jesus hält den Pharisäern, die jene unerlaubte Handlung rügten, die Handlung Davids entgegen (Matth. XII); David hatte in der äußersten Not nach den Schaubroten gegriffen. Er führte auch die Entweihung des Sabbats durch priesterliche Geschäfte an; allein sie sind gesetzlich und keine Entweihung desselben. Am gleichen Tage heilt Jesus eine verdorrte Hand. Die eigne Hand- lungsart der Juden in Ansehung eines in Gefahr sich befindenden Viehs bewies ihnen zwar, wie Davids Verbrauch der heiligen Brote oder die Geschäfte der Priester am Sabbat, daß ihnen selbst die Heiligkeit dieses Tages nicht absolut gelte, daß sie selbst etwas Höheres als die Beobachtung dieses Gebotes kennen ; aber auch in dem Falle, den er hier den Juden entgegenhält, ist ein Notfall, und die Not tilgt die Schuld; das Tier, das in den Brunnen fällt, erfordert augenblickliche Hilfe; ob aber jener Mann auch noch bis zum Untergang der Sonne den Gebrauch seiner Hand ent- behrte, war ganz gleichgültig. Die Handlung Jesu drückte die Willkür aus, einige Stunden früher diese Handlung zu verrichten und das Primat einer solchen Willkür über ein Gebot, das von der höchsten Autorität ausgeht; und indem er auf einer Seite das Vergehen selbst durch die Bemerkung vergrößert, daß die Priester nur im Tempel den Sabbat entweihen, hier aber noch mehr sei, die Natur heiliger sei als der Tempel, so erhebt er auf der anderen Seite im allgemeinen die für die Juden götterlose unheilige Natur über ihren Ort, über die Beschränkung der Welt, die mit Gott in Beziehung stehe, auf einen einzigen, von den Juden gemachten 90 G.W. F. HEGEL Ort. Unmittelbar aber setzt er der Heiligung einer Zeit den Men- schen entgegen, und erklärt jene für niedriger als eine gleich- gültige Befriedigung eines menschlichen Bedürfnisses. Dem Ge- brauch des Händewaschens vor dem Brotessen setzt Jesus (Matth. XV, 2) die ganze Subjektivität des Menschen entgegen und über die Knechtschaft gegen ein Gebotenes, die Reinheit oder Unrein- heit eines Objekts, die Reinheit oder Unreinheit des Herzens. Er macht die unbestimmte Subjektivität, den Charakter zu einer ganz andern Sphäre, die mit der pünktlichen Befolgung objektiver Gebote gar nichts gemein habe. Anders als gegen die rein objektiven Gebote, denen Jesus etwas ganz Fremdes, das Subjektive im allgemeinen entgegenhielt, ver- hielt sich Jesus gegen diejenigen Gesetze, die wir nach verschie- dener Rücksicht entweder moralische oder bürgerliche Gebote nennen, [welche insofern subjektiv sind, als sie in einer Tätigkeit des menschlichen Wesens, in einer seiner Kräfte gegründet sind. Alle bürgerlichen Gesetze sind zugleich moralische, und sie unter- scheiden sich von den rein moralischen, die nicht föhig sind, bürgerliche Gesetze zugleich zu werden, dadurch, daß sie ihre Bed]. Da sie natürUche Beziehungen der Menschen in der Form von Geboten ausdrücken, so besteht die Verirrung in Ansehung derselben darin, wenn sie entweder ganz oder zum Teil objektiv werden. Da Gesetze Vereinigungen Entgegengesetzter in einem Begriffe, der sie also als entgegengesetzt läßt, sind, der Begriff aber selbst in der Entgegensetzung gegen Wirkliches besteht, so drückt er ein Sollen aus. Insofern der Begriff nicht seinem In- halte nach, sondern seiner Form nach, daß er Begriff ist, vom Menschen gemacht und gefaßt ist, ist das Gebot moralisch ; inso- fern bloß auf den Inhalt gesehen wird, als die bestimmte \''ereini- gung bestimmter Entgegengesetzter und das Sollen also nicht von der Eigenschaft des Begriffs stammt, sondern durch fremde Macht "behauptet wird, insofern ist das Gebot bürgerlich. Weil bei der letzteren Rücksicht die Vereinigung der Entgegengesetzten nicht begriffen, nicht subjektiv ist, so enthalten bürgerliche Gesetze die Grenze der Entgegensetzung mehrerer Lebendiger; die rein mo- ralischen aber bestimmen die Grenze der Entgegensetzung in einem Lebendigen; also jene die Entgegensetzung Lebendiger DAS LEBEN JESU 91 gegen Lebendige, diese die Entgegensetzung einer Seite, einer Kraft eines Lebendigen gegen andre Seiten, andre Kräfte eben- desselben Lebendigen, und eine Kraft dieses Wesens ist insofern herrschend gegen eine andre Kraft desselben. Rein moralische Gesetze, die nicht fähig sind, bürgerliche zu werden, d. h. in denen die Entgegengesetzten und die Vereini- gung nicht die Form Fremder haben können, wären solche, welche die Einschränkung solcher Kräfte betreffen, deren Tätigkeit nicht eine Tätigkeit, eine Beziehung gegen andre Menschen ist. Die Gesetze, wenn sie als bloße bürgerliche Gebote wirksam sind, sind positiv, aber weil sie ihrer Materie nach moralischen gleich sind, oder weil die Vereinigung Objektiver im Begriff auch eine nicht objektive voraussetzt, oder eine solche werden kann, so wäre es die Aufhebung der Form der bürgerlichen Gesetze, wenn sie zu moralischen gemacht würden, wenn ihr Soll nicht der Befehl einer fremden Macht, sondern die Folge des eignen Be- griffes, Achtung für die Pflicht ist. Aber auch diejenigen morali- schen Gebote, die nicht fähig sind, bürgerliche zu werden, können dadurch objektiv werden, daß die Vereinigung (oder Einschrän- kung) nicht selbst als Begriff, als Gebot wirkt, sondern als ein der eingeschränkten Kraft Fremdes, obzwar auch Subjektives. [Solche Gesetze sind ihrer Natur nach zum Teil positiv, da sie nur die Reflexion über eine einseitige, den übrigen fremde Kraft sind und also diese übrigen durch jene entweder ausgeschlossen oder be- herrscht sind. Sie können aber auch durchaus positiv werden, wenn sie nicht einmal als eine Kraft des Menschen, sondern durch- aus als eine fremde Macht wirken, wenn der Mensch diesen Herrn nicht einmal in sich, sondern durchaus außer sich hat.] Diese Art von Objektivität könnte nur aufgehoben werden durch Wieder- herstellung des Begriffs selbst und der Beschränkung der Tätig- keit durch ihn. Auf diese Art könnte man erwarten, daß Jesus gegen die Posi- tivität moralischer Gebote, gegen bloße Legalität gearbeitet hätte, daß er gezeigt hätte, das Gesetzliche sei ein Allgemeines und seine ganze Verbindlichkeit liege in seiner Allgemeinheit, weil zwar einesteils jedes Sollen, jedes Gebotene als ein Fremdes sich an- kündigt, andernteils aber der Begriff (die Allgemeinheit) ein Sub- 92 G.W. F. HEGEL jcktives ist, wodurch es als Produkt einer menschlichen Kraft, des Vermögens des Allgemeinen, der Vernunft, Objektivität, Positivi- tät, Heteronomie verliert und das Gebotene als in einer Auto- nomie des menschlichen Willens gegründet sich darstellt. Durch diesen Gang ist aber die Positivität nur zum Teil weggenommen, [denn das Pflichtgebot ist eine Allgemeinheit, die dem Besonderen entgegengesetzt bleibt], und zwischen dem tungusischen Scha- manen mit dem Kirche und Staat regierenden europäischen Prä- laten oder dem Mogulitzen und zwischen dem seinem Pflicht- gebot gehorchenden Puritaner ist nicht der Unterschied, daß jene sich zu Knechten machten, dieser frei wäre, sondern daß jene den Herrn außer sich, dieser aber den Herrn in sich trägt. ^) Ein Mann, der den Menschen in seiner Ganzheit wieder her- stellen wollte, konnte einen solchen Weg unmöglich einschlagen, der der Zerrissenheit der Menschen nur einen hartsinnigen Dünkel zugesellt. Im Geiste der Gesetze handeln konnte ihm nicht heißen, aus Achtung für die Pflicht mit Widerspruch der Neigungen handeln; denn beide Teile des Geistes (man kann bei diesem Zer- rissensein des Gemüts nicht anders sprechen) befänden sich ja eben dadurch gar nicht im Geiste, sondern gegen den Geist der Gesetze, der eine, weil er ein Ausschließendes, also von sich selbst Be- schränktes, der andere, weil er ein Unterdrücktes ist, zugleich aber sein eigner Knecht ist. Für das Besondere, Triebe, Neigungen, pathologische Liebe, Sinnlichkeit, oder wie man es nennt, ist das Allgemeine notwendig und ewig ein Fremdes, ein Objektives; es bleibt eine unzerstörbare Positivität übrig, die vollends dadurch empörend wird, daß der Lihalt, den das allgemeine Pflichtgebot erhält, eine bestimmte Pflicht, den Widerspruch, eingeschränkt und allgemein zugleich zu sein, enthält und um der Form der Allge- meinheit willen für ihre Einseitigkeit die härtesten Prätensionen macht. Wehe den menschlichen Beziehungen, die nicht gerade im Begriffe der Pflicht sich befinden, der, so wie er nicht bloß der leere Gedanke der Allgemeinheit ist, sondern in Handlung sich darstellen soll, alle andere Beziehungen ausschließt oder be- herrscht. Unmittelbar gegen Gesetze gekehrt zeigt sich dieser über Mo- ralität erhabene Geist in der Bergpredigt, die ein durch mehrere DAS LEBEN JESU 93 Beispiele von Gesetzen durchgeführter Versuch ist, den Gesetzen das Gesetzliche, die Form von Gesetzen zu benehmen, der nicht Achtung für dieselben predigt, sondern dasjenige aufzeigt, was sie erfüllt, aber als Gesetze aufhebt, und also etwas Höheres ist als der Gehorsam gegen dieselben und sie entbehrlich macht. [Er erklärt gleich anfangs, daß in dem Reiche, das er zu stiften ge- kommen sei, und dessen Ideal er den Juden hier vorhalte, alles das geschehen müsse, was die Gesetze fordern, aber seine Absicht sei, das Mangelhafte auszufüllen, das allem anklebe, was die Form von Gesetzen hat ; er fordre eine Gerechtigkeit von seinen Freunden, die vollständiger, in welcher mehr sei, als in der Gerechtigkeit der Pharisäer.] Da die Pflichtgebote eine Trennung voraussetzen und die Herrschaft des Begriffs in einem Sollen sich ankündigt, so ist da- gegen dasjenige, was über diese Trennung erhaben ist, ein Sein, eine Modifikation des Lebens, welche nur in Ansehung des Ob- jekts betrachtet ausschließend, also beschränkt ist, indem die Aus- schließung nur durch die Beschränktheit des Objekts gegeben ist und nur dasselbe betrifft. Wenn Jesus auch das, was er den Ge- setzen entgegen — und über sie setzt, als Gebote ausdrückt, (Meinet nicht, ich wolle das Gesetz aufheben ; euer Wort sei ja, ja, itein, nein; ich sage euch nicht zu widerstehen, usw. ; liebe Gott und deinen Nächsten) so ist diese Wendung in einem ganz andern Sinne Gebot, als das Sollen des Pflichtgebots. Es ist nur die Folge davon, daß das Lebendige gedacht, ausgesprochen, in der ihm fremden Form des Begriffs gegeben wird, da hingegen das Pflicht- gebot seinem Wesen nach als ein Allgemeines ein Begriff" ist. Und wenn so das Lebendige in der Form eines Reflektierten, Gesagten gegen Menschen erscheint, so hatte Kant sehr unrecht, diese zum Lebendigen nicht gehörige Art des Ausdrucks: «Liebe Gott über alles und deinen Nächsten als dich selbst» als ein Gebot anzusehen, welches Achtung für ein Gesetz fordert, das Liebe befiehlt. Auf dieser Verwechselung des Pflichtgebots, welches in der Entgegen- setzung des Begriffs und des Wirklichen besteht, und der ganz außerwesentlichen Art, das Lebendige auszusprechen, beruht seine tiefsinnige Zurückführung dessen, was er ein Gebot nennt (Liebe Gott über alles und deinen Nächsten als dich selbst) auf sein 94 G.W. F. HEGEL Pflichtgebot. Und seine Bemerkung, daß Liebe, oder in der Be- deutung, die er dieser Liebe geben zu müssen meint, (alle Pflichten gerne ausüben) nicht geboten werden könne, fällt von selbst hin- weg, weil in der Liebe aller Gedanke von Pflichten wegfällt. Und auch die Ehre, die er jenem Ausspruch Jesu dagegen wieder angedeihen läßt, ihn als das von keinem Geschöpfe erreichbare Ideal der Heiligkeit anzusehen, ist ebenso überflüssig verschwendet ; denn ein solches Ideal, in dem die Pflichten als gerne getan vor- gestellt würden, ist in sich selbst widersprechend, weil Pflichten eine Entgegensetzung und das Gerntun keine Entgegensetzung forderten und er kann diesen Widerspruch ohne Vereinigung in seinem Ideal ertragen, indem er die vernünftigen Geschöpfe (eine sonderbare Zusammenstellung) jenes Ideal zu erreichen für un- fähig erklärt.^) Jesus fängt die Bergpredigt mit einer Art von Paradoxen an, in denen seine volle Seele gegen die Menge erwartender Zuhörer sogleich unzweideutig erklärt, daß sie von ihm etwas ganz Frem- des, einen andern Genius, eine andre Welt zu erwarten haben. Es sind Schreie, in denen er sich begeistert von der gemeinen Schätzung von Tugend entfernt, begeistert ein andres Recht und Licht, eine andre Region des Lebens ankündigt, deren Beziehung auf die Welt nur die sein könne, von dieser gehaßt und verfolgt zu werden. In diesem Himmelreiche zeigt er ihnen aber nicht die Auflösung der Gesetze, sondern sie müssen durch eine Gerech- tigkeit erfüllt werden, die eine andere, vollständigere sei als die Gerechtigkeit der Pflicht, eine Ausfüllung des Mangelhaften der Gesetze. Er zeigt hierauf dies Ausfüllende an mehreren Gesetzen. (Lücke der Handschrift) . . . werden: Du sollst lieben; die Liebe selbst spricht dein Sollen aus; sie ist kein einer Besonderheit entgegengesetztes All- gemeines, nicht eine Einheit des Begriffs, sondern Einigkeit des Geistes, Göttlichkeit; Gott lieben ist sich im All des Lebens, schrankenlos im UnendHchen fühlen. In diesem Gefühle der Harmonie ist freilich keine Allgemeinheit; denn in der Harmonie ist das Besondere nicht widerstreitend, sondern einkhngend, sonst wäre keine Harmonie; und liebe deinen Nächsten als dich selbst heißt nicht, ihn so sehr lieben als sich selbst, denn sich selbst DAS LEBEN JESU 95 lieben ist ein Wort ohne Sinn, sondern liebe ihn als einen, der du selbst ist, im Gefühl des gleichen, nicht mächtigern, nicht schwächern Lebens. Erst durch die Liebe wird die Macht des Objektiven gebrochen, denn durch sie wird dessen ganzes Gebiet gestürzt; die Tugenden setzten durch ihre Grenzen außerhalb derselben immer noch ein Objektives, und die Vielheit der Tugenden eine um so größere Mannigfaltigkeit des Objektiven. Nur die Liebe hat keine Grenze; was sie nicht vereinigt hat, ist ihr nicht objektiv; sie hat es über- sehen oder noch nicht entwickelt; es steht ihr nicht gegenüber. [Der Lieblosigkeit der Juden konnte Jesus nicht geradezu die Liebe entgegenstellen, denn die Lieblosigkeit als etwas Negatives muß sich notwendig in einer Form zeigen, und diese Form ist ein Positives, ist Gesetz und Recht; in dieser rechtmäßigen Gestalt tritt sie auch immer auf, so in der Geschichte der Maria Magda- lena, im Munde Simons: Wäre dieser ein Prophet, so würde er wissen, daß diese eine Sünderin ist; so finden die Phari- säer es unschicklich, daß er mit Zöllnern und Sündern um- geht.] Der Abschied, den Jesus von seinen Freunden nahm, war die Feier eines Mahls der Liebe. Liebe ist noch nicht Religion, dieses Mahl also auch keine eigentlich religiöse Handlung: denn nur eine durch Einbildungskraft objektivierte Vereinigung in Liebe kann Gegenstand einer religiösen Verehrung sein; bei einem Mahl der Liebe aber lebt und äußert sich die Liebe selbst; und alle Handlungen dabei sind nur Ausdrücke der Liebe. Die Liebe selbst ist nur als Empfindung vorhanden, nicht zugleich als Bild ; das Gefühl und die Vorstellung desselben sind nicht durch Phan- tasie vereinigt. Aber bei dem Mahle der Liebe kommt doch auch Objektives vor, an welches die Empfindung geknüpft, aber nicht in ein Bild vereinigt ist, und darum schwebt dieses Essen zwischen einem Zusammenessen der Freundschaft und einem religiösen Akt, und dieses Schweben macht es schwer, seinen Geist deutlich zu bezeichnen. Jesus brach das Brot: «Nehmet hin, dies ist mein Leib, für euch gegeben, tut's zu meinem Gedächtnis.» Desgleichen nahm er den Kelch: «Trinket alle daraus, es ist mein Blut des neuen 96 G.W. F. HEGEL Testaments, für euch und für viele zur Vergebung der Sünden vergossen; tut dies zu meinem Gedächtnis!» Wenn ein Araber eine Tasse Kaffee mit einem Fremden ge- trunken hat, so hat er damit seinen Freundschaftsbund mit ihm gemacht; diese gemeinschaftliche Handlung hat sie verknüpft, und durch diese Verknüpfung ist der Araber zu aller Treue und Hülfe mit ihm verbunden. Das gemeinschaftUche Essen und Trinken ist hier nicht das, was man ein Zeichen nennt. Die Verbindung zwischen Zeichen und Bezeichnetem ist nicht selbst geistig, Leben; es ist ein objektives Band; Zeichen und Bezeich- netes sind einander fremd und ihre Verbindung ist außer ihnen nur in einem Dritten und eine gedachte. Mit jemand essen und trinken ist ein Akt der Vereinigung, eine gefühlte Vereinigung selbst, nicht ein konventionelles Zeichen. Es wird gegen die Empfindung natürlicher Menschen sein, die Feinde sind, ein Glas Wein miteinander zu trinken; dem Gefühl der Gemeinschaft in dieser Handlung würde ihre sonstige Stimmung gegeneinander widersprechen. Das gemeinschaftliche Nachtessen Jesu und seiner Jünger ist an sich schon ein Akt der Freundschaft. Noch verknüpfender ist das feierliche Essen vom gleichen Brote, das Trinken aus dem gleichen Kelche; auch dies ist nicht ein bloßes Zeichen der Freundschaft, sondern ein Akt, eine Empfindung der Freund- schaft selbst, des Geistes der Liebe. Aber das Weitere, die Er- klärung Jesu: «Dies ist mein Leib, dies ist mein Blut», nähert die Handlung einer religiösen, aber macht sie nicht dazu. Diese Er- klärung und die damit verbundene Handlung der Austeilung der Speise und des Trankes macht die Empfindung zum Teil objektiv; die Gemeinschaft mit Jesu, ihre Freundschaft gegeneinander und die Vereinigung derselben in ihrem Mittelpunkte, ihrem Lehrer, wird nicht bloß gefühlt, sondern, indem Jesus das an alle auszu- teilende Brot und Wein seinen für sie gegebenen Leib und Blut nennt, so ist die Vereinis^ung nicht mehr bloß empfunden, son- dern sie ist sichtbar geworden ; sie wird nicht nur in einem Bilde, einer allegorischen Figur vorgestellt, sondern an ein Wirkliches geknüpft, in einem Wirklichen, dem Brote, gegeben und genossen. Einerseits wird also die Empfindung objektiv, andererseits aber ist DAS LEBEN JESU 97 dies Brot und Wein und die Handlung des Austeilens zugleich nicht bloß objektiv; es ist mehr in ihr, als gesehen wird; sie ist eine mystische Handlung. Der Zuschauer, der ihre Freundschaft nicht gekannt und die Worte jesu nicht verstanden hätte, hätte nichts gesehen als das Austeilen von etwas Brot und Wein und das Ge- nießen derselben; sowie, wenn scheidende Freunde einen Ring bra- chen, und jeder ein Stück behielt, der Zuschauer nichts sieht, als das Zerbrechen eines brauchbaren Ringes und das Teilen in unbrauch- bare, wertlose Stücke; das Mystische der Stücke hat er nicht gefaßt. So ist, objektiv betrachtet, das Brot bloßes Brot, der Wein bloßer Wein ; aber beide sind auch noch mehr. Dieses Mehr hängt nicht mit den Objekten als eine Erklärung, durch ein bloßes Gleichwie, zusammen: «Gleichwie die vereinzelten Stücke, die ihr esset, von einem Brot, der Wein, den ihr trinket, aus dem gleichen Kelche ist, so seid ihr zwar Besondere, aber in der Liebe, im Geiste, eins; — gleichwie ihr alle teilnehmet an diesem Brot und Wein, so nehmet ihr auch alle an meiner Aufopferung teil», oder welche Gleichwies man darin finden mag. Der Zusammenhang des Objektiven und des Subjektiven, des Brotes und der Personen ist nicht der Zusammenhang des Verglichenen mit dem Gleichnis, der Parabel, in welcher das Verschiedene, Verglichene als ge- schieden, als getrennt aufgestellt wird, und nur Vergleichung, das Denken der Gleichheit Verschiedener gefordert wird. Denn in dieser Verbindung fällt die Verschiedenheit weg, also auch die Möglichkeit der Vergleichung. In der Parabel ist die Forderung nicht, daß die verschiedenen Zusammengestellten in Eins gefaßt würden ; hier aber soll das Ding und die Empfindung sich ver- binden. Die Heterogenen sind aufs innigste verknüpft. In dem Ausdruck (Joh. VI, 56): «Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, bleibt in mir und ich in ihm», oder (Joh. X, 7): «Ich bin die Türe» und ähnlichen harten Zusammenstellungen muß in der Vorstellung das Verbundene notwendig in verschiedene Ver- glichene getrennt und die Verbindung als eine Vergleichung an- gesehen werden. Hier aber werden (wie die mystischen Stücke des Rings) Wein und Brot mystische Objekte, indem Jesus sie seinen Leib und Blut nennt und ein Genuß, eine Empfindung unmittelbar sie begleitet. Er zerbrach das Brot, gab es seinen Hegel, Das Leben Jesu 7 98 G.W. F. HEGEL Freunden: «Nehmet, esset; dies ist mein Leib, für euch hinge- geben»; so auch den Kelch: ^< Trinket alle daraus; dies ist mein Blut, das Blut des neuen Bundes, über viele ausgegossen zur Er- lassung der Sünden. Nicht nur der Wein ist Blut, auch das Blut ist Geist, der gemeinschaftliche Becher, das gemeinschaftliche Trinken der Geist eines neuen Bundes, der viele durchdringt, in welchem viele Leben zur Erhebung über ihre Sünden trinken und von diesem Gewächs des Weinstocks werde ich nicht mehr trinken bis auf jenen Tag der Vollendung, wenn ich ein neues Leben in dem Reiche meines Vaters mit euch trinken werde.» Der Zusammenhang des ausgegossenen Blutes und der Freunde Jesu ist nicht, daß es als ein ihnen Objektives zu ihrem Besten, zu einem Nutzen für sie vergossen wäre, sondern (wie im Aus- druck: wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt) ist das \'er- hältnis des Weins zu ihnen, den alle aus demselben Kelche trinken, der für alle, und derselbe ist. Sie sind alle Trinkende, ein gleiches Gefühl ist in allen, vom gleichen Geiste der Liebe sind alle durchdrungen. Wäre ein aus einer Hingebung des Leibes und Vergießung des Blutes entstandener Vorteil, Wohltat das- jenige, worin sie gleichgesetzt wären, so wären sie in dieser Rück- sicht nur im gleichen Begriffe vereinigt. Indem sie aber das Brot essen und den Wein trinken, sein Leib und sein Blut in sie über- geht, so ist Jesus in allen und sein Wesen hat sie göttlich, als Liebe, durchdrungen. So ist das Brot und der Wein nicht bloß für den Verstand ein Objekt, die Handlung des Essens und Trin- kens nicht bloß eine durch Vernichtung derselben mit sich ge- schehene Vereinigung, noch die Empfindung ein bloßer Ge- schmack der Speise und des Trankes; der Geist Jesu, in dem seine Jünger eins sind, ist für das äußere Gefühl, als Objekt gegen- wärtig, ein Wirkliches geworden. Aber die objektiv gemachte Liebe, dies zur Sache gewordene Subjektive kehrt zu seiner Natur wieder zurück, wird im Essen wieder subjektiv. Diese Rückkehr kann etwa in dieser Rücksicht mit dem im geschriebenen Worte zum Dinge gewordenen Ge- danken verglichen werden, der aus einem Toten, einem Objekte, im Lesen seine Subjektivität wieder erhält. Die \'ergleichung wäre treffender, wenn das geschriebene Wort aufgelesen würde. DAS LEBEN JESU 99 durch das Verstehen als Ding verschwände, so wie im Genüsse des Brotes und Weines von diesen mystischen Objekten nicht bloß die Empfindung erweckt, der Geist lebendig wird, sondern sie selbst als Objekte verschwinden. Und so scheint die Handlung reiner, ihrem Objekte gemäßer, indem sie nur Geist, nur Emp- findung gibt, und dem Verstände das Seinige raubt, die Materie, das Seelenlose zernichtet. Wenn Liebende vor dem Altar der Göttin der Liebe opfern und das betende Ausströmen ihres Ge- fühls ihr Gefühl zur höchsten Flamme begeistert, so ist die Göttin selbst in ihre Herzen eingekehrt, aber das Bild von Stein bleibt immer vor ihnen stehen, da hingegen im Mahl der Liebe das Körperliche vergeht und nur lebendige Empfindung vorhanden ist. Aber gerade diese Art von Objektivität, die ganz aufgehoben wird, indem die Empfindung bleibt, diese Art mehr einer objek- tiven Vermischung als einer Vereinigung, daß die Liebe in etwas sichtbar, an etwas geheftet wird, das zernichtet werden soll, — ist es, was die Handlung nicht zu einer religiösen werden ließ. Das Brot soll gegessen, der Wein getrunken werden; sie können darum nichts Göttliches sein. Was sie auf der einen Seite voraus haben, daß die Empfindung, die an sie geheftet ist, wieder von ihrer Objektivität zu ihrer Natur gleichsam zurückkehrt, das mystische Objekt wieder zu einem bloß Subjektiven wird, das verlieren sie eben dadurch, daß die Liebe durch sie nicht objektiv genug wird. Etwas Göttliches kann nicht, indem es göttlich ist, in der Gestalt eines zu Essenden und zu Trinkenden vorhanden sein. [Der Moment der Göttlichkeit könnte nur augenblicklich sein, so lange die Phantasie die schwere Aufgabe erfüllen kann, in dem Dinge die Liebe festzuhalten, und in ihrem Anschauen ist man zugleich von dem Gefühl ewiger Jugendkraft und der Liebe durchdrungen.] Es ist immer zweierlei vorhanden, der Glaube und das Ding, die Andacht und das Sehen oder Schmecken. Im Glauben ist der Geist gegenwärtig, in dem Sehen oder Schmecken das Brot und Wein; es gibt keine Vereinigung für sie. In der symbolischen Handlung soll das Essen und Trinken und das Gefühl des Einsseins in Jesu Geist zusammenfließen. Aber das Ding und die Empfindung, der Geist und die Wirklich- keit vermischen sich nicht. Die Phantasie kann sie nie in einem 100 G.W. F. HEGEL Schönen zusammenfassen; das angeschaute und genossene Brot und Wein können nie die Empfindung der Liebe erwecken, und diese Empfindung kann sich nie weder in ihnen als angeschauten Objekten finden, so wie sie auch dem Gefühl des wirklichen Auf- nehmcns in sich, ihres Subjektivwerdens, des Essens und Trinkens widerspricht. In einem Apoll, einer Venus muß man wohl den Marmor, den zerbrechlichen Stein vergessen, und sieht in ihrer Gestalt nur die Unsterblichen. Aber reibt die Venus, den Apoll zu Staub und sprecht: Dies ist Apoll, dies Venus; so ist wohl vor mir der Staub und das Bild der Götter in mir; aber der Staub und das Göttliche treten nimmer in Eins zusammen. Das Verdienst des Staubes bestand in seiner Form, dieses ist verschwunden, er ist jetzt die Hauptsache; das Verdienst des Brotes bestand in seinem mystischen Sinne, aber zugleich in seiner Eigenschaft, daß es Brot, eßbar ist; auch in der Verehrung soll es als Brot vorhanden sein. Vor dem zu Staube geriebenen Apoll bleibt die Andacht, aber sie kann sich nicht an den Staub wenden. Der Staub kann an die Andacht erinnern, aber nicht sie auf sich ziehen. Es ent- steht ein Bedauern; dies ist die Empfindung dieser Scheidung, dieses Widerspruchs, wie die Traurigkeit bei der Unvereinbarkeit des Leichnams und die Vorstellung der lebendigen Kräfte. Der Verstand widerspricht der Empfindung, die Empfindung dem Verstände; für die Einbildungskraft, in welcher beide aufgehoben sind, ist nichts zu tun; sie hat hier kein Bild, worin sich An- schauung und Gefühl vereinigten. Nach dem Nachtmahl der Jünger entstand ein Kummer wegen des bevorstehenden Verlustes ihres Meisters; aber nach echt religiöser Handlung ist die ganze Seele befriedigt, und nach dem Genüsse des Abendmahls unter den jetzigen Christen entsteht ein andächtiges Staunen ohne Heiterkeit oder mit einer wehmütigen Heiterkeit, denn die geteilte Spannung der Empfindung und der Verstand waren einseitig, die Andacht unvollständig. Es war etwas Göttliches versprochen und es ist im Munde zerronnen. (Lücke der Handschrift) welchem Zwecke denn alles Übrige dient, nichts im Kampfe mit diesem, in gleichem Rechte steht; DAS LEBEN JESU loi wie z. B. Abraham sich und seine FamiUe und nachher sein Volk, oder die ganze Christenheit sich zum Endzweck setzt. Aber je weiter dieses Ganze ausgedehnt, je mehreres in die Gleichheit der Abhängigkeit versetzt wird, wenn der Kosmopolit das ganze Menschengeschlecht in seinem Ganzen begreift, so kommt von der Herrschaft über die Objekte und von der Gunst des regierenden Wesens desto weniger auf einen. Jeder Einzelne verliert um so mehr an seinem Wert, an seinen Ansprüchen, seiner Selb- ständigkeit, denn sein Wert war der Anteil an der Herrschaft. Ohne den Stolz, der Mittelpunkt der Dinge zu sein, ist ihm der Zweck des kollektiven Ganzen das Höchste und er verachtet sich als einen so kleinen Teil, wie alle Einzelne. Weil diese Liebe um des Toten willen nur mit Stoff umgeben, der Stoff an sich ihr gleichgültig ist, und ihr Wesen darin besteht, daß der Mensch in seiner innersten Natur ein Entgegengesetztes, Selbständiges ist, daß ihm alles Außenwelt ist, welche also so ewig ist als er selbst, so wechseln zwar seine Gegenstände, aber sie fehlen ihm nie; so gewiß er ist, sind sie und seine Gottheit. Daher seine Beruhigung bei Verlust und sein gewisser Trost, daß der Verlust ihm ersetzt werde, weil er ihm ersetzt werden kann. Die Materie ist auf diese Art für den Menschen absolut; aber freilich, wenn er selbst nimmer wäre, so wäre auch nichts mehr für ihn, und warum müßte er auch sein? Daß er sein möchte, ist sehr begreiflich; denn außer seiner Sammlung von Beschränkt- heiten, seinem Bewußtsein liegt nicht die in sich vollendete, ewige Vereinigung, [sondern] nur das dürre Nichts; aber in diesem sich zu denken kann freilich der Mensch nicht ertragen. Er ist nur als Entgegengesetztes; das Entgegengesetzte ist sich gegenseitig Bedingung und Bedingtes; er muß sich außer seinem Bewußtsein denken. Weder ein Bedingtes ohne ein Bestimmendes und um- gekehrt; keins ist unbedingt, keins trägt die Wurzel seines Wesens in sich; jedes ist nur relativ notwendig; das eine ist für das andere, und also auch für sich, nur durch eine fremde Macht; das andere ist ihm durch ihre Gunst und Gnade zugeteilt; es ist überall in einem Fremden ein unabhängiges Sein, von welchem Fremden dem Menschen alles geschenkt ist, und dem er sich und [seine] 102 G.W. F. HEGEL Unsterblichkeit zu danken haben muß, um welche er mit Zittern und Zagen bettelt. Wahre Vereinigung, eigentliche Liebe findet nur unter Leben- digen statt, die an Macht sich gleich und also durchaus fürein- ander Lebendige, von keiner Seite gegen einander Tote sind. Sie schließt alle Entgegensetzungen aus; sie ist nicht Verstand, dessen Beziehungen das Mannigfaltige immer als ein Mannig- faltiges lassen, und dessen Einheit selbst Entgegensetzung ist; sie ist nicht Vernunft, die ihr Bestimmen dem Bestimmten schlecht- hin entgegensetzt; sie ist nichts Begrenzendes, nichts Begrenztes, nichts Endliches; sie ist ein Gefühl, aber nicht ein einzelnes Ge- fühl ; aus dem einzelnen Gefühl drängt sich das Leben durch Auf- lösung zur Zerstreuung in der Mannigfaltigkeit der Gefühle, um sich in diesem Ganzen der Mannigfaltigkeit zu finden; in der Liebe ist dieses Ganze nicht als in der Summe vieler Besonderen enthalten ; in ihr findet sich das Leben selbst als eine Verdoppelung seiner selbst und Einigkeit desselben. Das Leben hat von der un- enrsvickelten Einigkeit aus durch die Bildung den Kreis zu einer vollendeten Einigkeit durchlaufen. Der unentwickelten Einigkeit stand die Möglichkeit der Trennung und die Welt gegenüber. In der Entwicklung produzierte die Reflexion immer mehr Ent- gegengesetztes, das im befriedigten Triebe vereinigt wurde, bis sie das Ganze des Menschen selbst ihm entgegensetzte, bis die Liebe die Reflexion in völliger Objektlosigkeit aufhebt, dem Entgegen- gesetzten allen Charakter eines Fremden raubt und das Leben sich selbst ohne weiteren Mangel findet. In der Liebe ist das Getrennte noch, aber nicht mehr als Getrenntes, sondern als Einiges und das Lebendige fühlt das Lebendige. Weil die Liebe ein Gefühl des Lebendigen ist, so können Liebende sich nur insofern unterscheiden, als sie sterblich sind, als sie die Möghchkeit der Trennung denken, nicht insofern als wirklich ervs^as getrennt wäre, als das Mögliche mit einem Sein verbunden, ein Wirkliches wäre. An Liebenden ist keine Materie, sie sind ein lebendiges Ganze. Liebende haben keine Selbständig- keit, ihr eignes Lebensprinzip heißt nur: sie können sterben. Die Pflanze hat Salz und Erdteile, die eigne Gesetze ihrer Wirkungsart in sich tragen, ihr Lebensprinzip ist die Reflexion eines Fremden und DAS LEBEN JESU 103 heißt nur: die Pflanze kann verwesen. Die Liebe strebt aber auch diese Unterscheidung, diese MögUchkeit als bloße Möglichkeit auf- zuheben und selbst das Sterbliche zu vereinigen, es unsterblich zu machen, indem sie unendliche Vereinigungen sich ausfindet, an die ganze Mannigfaltigkeit der Natur sich wendet. Diesen Reich- tum des Lebens erwirbt die Liebe in der Auswechselung aller Gedanken, aller Mannigfaltigkeiten der Seele, indem sie unend- liche Unterschiede sucht. Das Eigenste, das noch Getrennte ver- einigt sich in der Berührung, in der Befühlung bis zur Bewußt- losigkeit, der Aufhebung aller Unterscheidung. Das Sterbliche hat den Charakter der Trennbarkeit abgelegt und ist ein Keim der Unsterblichkeit, ein Keim des ewig aus sich Entwickelnden und Zeugenden, ein Lebendiges geworden. Das Vereinigte trennt sich nicht wieder, denn in der Vereinigung ist nicht ein Entgegen- gesetztes behandelt worden; sie ist rein von aller Trennung; die Gottheit hat gewirkt, erschaffen. Dieses Vereinigte aber ist nur ein Punkt, der Keim ; die Lieben- den können ihm nicht zuteilen, daß in ihm ein Mannigfaltiges sich befände. Alles, wodurch es ein Mannigfaltiges sein, ein Da- sein haben kann, muß das Neugezeugte in sich gezogen, entge- gengesetzt und vereinigt haben. Es windet sich immer mehr zur Entgegensetzung los; jede Stufe seiner Entwickelung ist eine Trennung, um wieder den ganzen Reichtum des Lebens zu ge- winnen. Und so ist nun das Einige die Getrennten und das Wiedervereinigte; die Vereinigten trennen sich wieder, aber im Kinde ist die Vereinigung selbst ungetrennt. [Aus dem Vereinigten geht es durch ein feindliches, durchs Animalische zum Menschen- leben. Das Trennbare aber kehrt in den Zustand der Trennbar- keit zurück; aber was vom bestimmten Bewußtsein noch getrennt war, wird alles auf die Seite geschafft, wird ausgeglichen, wird ausgewechselt.] Das Trennbare, so lange es vor der vollständigen Vereinigung noch ein Eignes ist, macht den Liebenden Verlegenheit. Es ist eine Art von Widerstreit zwischen der völligen Hingebung, der einzig möglichen Vernichtung, der Vernichtung des Entgegen- gesetzten in der Vereinigung, und der noch vorhandenen Selb- ständigkeit; jene fühlt sich durch diese gehindert. Die Liebe ist 104 G.W. F. HEGEL unwillig über das noch Getrennte, über ein Eigentum. Dieses Zürnen der Liebe über Individualität ist die Scham. Sie ist nicht ein Zucken des Sterblichen, nicht eine Äußerung der Freiheit, sich zu erhalten, zu bestehen. Bei einem Angriff ohne Liebe wird ein liebevolles Gemüt durch diese Feindseligkeit selbst beleidigt; seine Scham wird zum Zorn, der jetzt nur das Eigentum, das Recht verteidigt. Wäre die Scham nicht eine Wirkung der Liebe, die nur darüber, daß etwas Feindseliges ist, die Gestalt des Un- willens hat, sondern ihrer Natur nach selbst etwas Feindseliges, das ein angreifbares Eigentum behaupten wollte, so müßte man von den Tyrannen sagen, sie haben am meisten Scham, so wie von Mädchen, die ohne Geld ihre Reize nicht preisgeben, oder von den eiteln, die durch sie fesseln wollen. Beide lieben nicht; ihre Verteidigung des Sterblichen ist das Gegenteil des Unwillens über dasselbe; sie legen ihm in sich einen Wert bei, sie sind schamlos. Ein reines Gemüt schämt sich der Liebe nicht; es schämt sich aber, daß diese nicht vollkommen ist. Sie wirft es sich vor, daß noch eine Macht, ein Feindliches ist, das der Voll- endung Hindernisse macht. Die Scham tritt nur ein durch die Erinnerung an den Körper, durch persönliche Gegenwart, beim Gefühle der Individualität; sie ist nicht eine Furcht für das Sterbliche, Eigne, sondern vor demselben, die, so wie die Liebe das Trennbare vermindert, mit ihm verschwindet. Denn die Liebe ist stärker als die Furcht; sie fürchtet ihre Furcht nicht; aber von ihr begleitet hebt sie Trennungen auf, mit der Besorgnis, eine widerstehende, gar eine feste Entgegensetzung zu finden; sie ist ein gegenseitiges Nehmen und Geben. Schüchtern, ihre Gaben möchten verschmäht, schüchtern, ihrem Nehmen möchte ein Entgegengesetztes nicht weichen, versucht sie, ob die Hoffnung sie nicht getäuscht, ob sie sich selbst durchaus findet. Dasjenige, das nimmt, wird dadurch nicht reicher, als das andere; es be- reichert sich zwar, aber um eben so viel das andere; ebenso das- jenige, das gibt, macht sich nicht ärmer; indem es dem andern gibt, hat es um eben so viel seine eigenen Schätze vermehrt. Julie in Romeo: «Je mehr ich gebe, desto mehr habe ich usw.»*') Diese Vereinigung der Liebe ist zwar vollständig, aber sie kann es nur so weit sein, als das Getrennte nur so entgegengesetzt ist. DAS LEBEN JESU 105 daß das eine das Liebende, das andere das Geliebte ist, daß also jedes Getrennte ein Organ eines Lebendigen ist. Außerdem stehen die Liebenden aber noch mit vielem Toten in Verbindung; jedem gehören viele Dinge zu, d. h. jedes steht in Beziehung mit Entgegengesetzten, die auch für das Beziehende selbst noch Ent- gegengesetzte, Objekte sind, und so sind sie noch einer mannig- faltigen Entgegensetzung in dem mannigfaltigen Erwerb und Be- sitz von Eigentum und Recht fähig. Das unter der Gewalt des einen befindliche Tote ist beiden entgegengesetzt, und es könnte nur die Vereinigung darüber stattfinden, daß es unter die Herr- schaft beider käme. Das Liebende, daß das andere im Besitze eines Eigentums erblickt, diese Besonderheit des andern, die es gewollt hat, selbst fühlt, kann diese ausschließliche Herrschaft des andern nicht aufheben, denn dies wäre wieder eine Entgegen- setzung gegen [die Macht des andern. In diesem Falle scheut sich das Ärmere, dem Reichern zu nehmen, sich in gleichen Be- sitz mit ihm zu setzen, weil dieses selbst eine Handlung des Ent- gegensetzens getan, sich außer den Kreis der Liebe gesetzt, seine Selbständigkeit bewiesen hat] ; aber dieser Furcht, die sein Eigen- tum erweckt, kommt das Besitzende dadurch zuvor, daß es sein Recht des Eigentums, das ihm gegen jedermann zukommt, selbst gegen das Liebende aufhebt, [ihm schenkt]. [Geschenke sind Entäußerungen einer Sache, die schlechter- dings den Charakter eines Objekts nicht verlieren kann. Nur das Gefühl der Liebe, der Genuß ist gemeinschaftlich ; was Mittel des Genusses, tot ist, ist nur Eigentum, und da die Liebe nichts Ein- seitiges tut, so kann sie nichts nehmen, was auch in der Bemäch- tigung, in der Vereinigung der Herrschaft noch ein Mittel, ein Eigentum bleibt. Ein Ding, etwas, das außer dem Gefühl der Liebe ist, kann nicht gemeinschaftlich sein, eben weil es ein Ding ist, und sollte das Haben eines Dinges gemeinschaftlich sein, hätte das Besitzende sein Recht und ausschließendes Eigentum zwar aufgegeben, so gehört es entweder keinem der Liebenden, oder jedem gehört ein besonderer Teil. Gütergemeinschaft heißt das Recht eines jeden an das Ding, der entweder gleiche oder unbe- stimmte Anteil. Sie setzt immer eine Teilung, und zwar Not- wendigkeit dieser Teilung, Besonderes, Rechte, Eigentum zwar io6 G.W. F. HEGEL nicht der ruhenden Mittel, des Ungenutzten, Toten, aber eine notwendige Teilung desselben in dem Gebrauch voraus. Durch jene Nichtabsonderung des Eigentums täuscht die Gütergemein- schaft mit einem Schein der völligen Aufhebung der Rechte. In der Gütergemeinschaft sind die Sachen kein Eigentum, aber es ist in ihr das Recht an einen Teil derselben versteckt, so lange er nicht gebraucht ist, und im Grunde ist auch ein Recht an den Teil des Eigentums, der nicht unmittelbar gebraucht wird, beibe- halten, nur wird davon stillgeschwiegen. Danach ist die gewöhn- liche Art, unter Liebenden die Rechte der Liebenden auf Sachen (Personenrecht schließt sich schon durch seinen Namen von der Liebe als ein ihr abscheulicher Dienst aus) gegenseitig aufzuheben, und dies als einen Beweis der Liebe anzusehen, zu beurteilen.] Wenn der Besitz und Eigentum einen so wichtigen Teil des Menschen, seine Sorgen und Gedanken ausmacht, so können auch Liebende sich nicht enthalten, auf diese Seite ihrer Verhält- nisse zu reflektieren; und wenn schon der Gebrauch gemein- schaftlich ist, so würde damit das Recht am Besitz unentschieden bleiben. Der Gedanke des Rechts würde nichts vergessen, weil alles, in dessen Besitz jetzt die Menschen sind, die Rechts- form des Eigentums hat; setzt aber das Besitzende das andere auch ins gleiche Recht des Besitzes, so ist doch die Gütergemein- schaft nur das Recht von beiden an das Ding. (Lücke der Hand- schrift) . . . Der Druck erweckte wieder den Haß, und damit wachte ihr Gott wieder auf. Ihr Trieb nach Unabhängigkeit war eigent- lich Trieb nach Abhängigkeit von etwas Eigenem. b) Diese Veränderung, die andere Nationen oft nur in Jahr- tausenden durchlaufen, mußte beim jüdischen Volke so schnell sein. Jeder seiner Zustände war zu gewaltsam, als daß er hätte lange anhalten können. Der Zustand der Unabhängigkeit, an all- gemeine Feindschaft geknüpft, konnte nicht lange dauern; er ist zu sehr der entgegengesetzte der Natur. Der Zustand der Unab- hängigkeit anderer Völker ist ein Zustand des Glücks, ein Zustand schöner Menschlichkeit; der Zustand der Unabhängigkeit der Juden sollte ein Zustand einer völligen Häßlichkeit sein. Weil DAS LEBEN JESU 107 ihre Unabhängigkeit ihnen nur Essen und Trinken, eine dürftige Existenz sicherte, so war mit der Unabhängigkeit, mit diesem Wenigen auch alles verloren oder in Gefahr; es blieb nichts Lebendiges mehr übrig, das sie sich erhalten und dessen sie sich erfreut hätten, dessen Genuß sie manche Not ertragen, vieles hätte aufopfern gelehrt. In dem Drucke kam das kümmeriiche Dasein unmittelbar in Gefahr, zu dessen Rettung sie losschlugen. [Sie konnten nicht, wie spätere Schwärmer, sich dem Beile oder Hungertode hingeben, weil sie an keiner Idee, sondern an einem tierischen Dasein hingen.] Dies tierische Dasein war nicht mit der schönen Form der Menschheit verträglich, die ihnen Freiheit gegeben hätte, [und sie glaubten an ihren Gott, weil sie mit der Natur völlig entzweit, in ihm die Vereinigung derselben durch Herrschaft fanden]. Als die Juden die königliche Gewalt (die Moses für verträglich mit der Theokratie, Samuel aber für unverträglich hielt), bei sich einführten, erhielten viele Einzelne eine politische Wichtigkeit, die sie zwar mit den Priestern teilen, oder gegen sie verteidigen mußten. Wie in freien Staaten die Einführung der Monarchie alle Bürger zu Privatpersonen hinabwirft, so erhob sie dagegen in diesem Staate, in welchem jeder ein politisches Nichts war, wenigstens Einzelne zu einem mehr oder weniger eingeschränkten Etwas. Nach dem Verschwinden des ephemerischen, aber sehr drückenden Glanzes der Salomonischen Regierung zerrissen die neuen Mächte, die die Einführung des Königtums noch in die Geißel ihres Schicksals eingeflochten hatte — unbändige Herrsch- sucht und ohnmächtige Herrschaft — das jüdische Volk vollends, und kehrten gegen seine eigenen Eingeweide eben die rasende Liebe und Gottlosigkeit, die es vorher gegen andere Nationen gewendet hatte; sie leiteten sein Schicksal auf es selbst. [Seine Feindschaft wurde zwar nicht gemildert, aber doch insoweit unterdrückt, daß es aus einem in der Idee herrschenden ein in der Wirklichkeit beherrschtes Volk wurde, und das Gefühl seiner äußeren Abhängigkeit erhielt, die es durch Demütigungen]. Fremde Nationen lernte es wenigstens fürchten; es wurde aus einem in der Idee herrschenden ein in der Wirklichkeit be- io8 G.W. F. HEGEL herrschtes Volk und erhielt das Gefühl seiner äußern Abhängig- keit. Eine Zeitlang erhielt es sich durch Demütigungen eine Art von Staat, bis es am Ende — wie in der Politik der listigen Schwäche nie der Unglückstag ausbleibt — vollends zu Boden getreten wurde, ohne die Kraft des Wiederaufstehens zu behalten. Den alten Genius hatten von Zeit zu Zeit Begeisterte festzuhalten, den ersterbenden wieder zu beleben gesucht. Doch den ent- flohnen Genius einer Nation kann die Begeisterung nicht zurück- beschwören, das Schicksal eines Volkes nicht unter ihren Zauber bannen, wohl einen neuen Geist aus der Tiefe des Lebens hervor- rufen, wenn sie rein und lebendig ist, aber die jüdischen Pro- pheten zündeten ihre Flamme an der Fackel eines erschlafften Dämons an; sie suchten ihm seine alte Kraft und mit der Zer- störung der mannigfaltigen Interessen der Zeit ihm seine alte schaudernd erhabene Einheit wiederherzustellen. Sie konnten also nur kalte und bei ihrer Einmischung in Politik und sonstige Zwecke nur eingeschränkte und wirkungslose Fanatiker werden, nur eine Erinnerung vergangener Zeiten geben, die gegenwärtigen noch mehr verwirren, aber nicht andere Zeiten herbeiführen. Die Bei- mischung der Leidenschaften vermochte nie wieder in einförmige Passivität überzugehen, aber aus passiven Gemütern mußten sie um so gräßlicher wüten. Dieser schauderhaften Wirklichkeit zu entfliehen, suchten die Menschen in Ideen Trost; der gemeine Jude, der sich wohl, aber nicht seine Objekte aufgeben wollte, in der Hoffnung eines kommenden Messias; die Pharisäer in dem Treiben des Dienstes und Tun des gegenwärtigen Objektiven, einer völligen Vereini- gung des Bewußtseins mit demselben;* die Sadduzäer in der ganzen Mannigfaltigkeit ihrer Existenz und der Zerstreuung eines unwandelbaren Daseins, das nur durch Bestimmtheiten erfüllt und dessen Unbestimmtheit nur als Möglichkeit eines Übergangs zu andern Bestimmtheiten wäre; die Essener in einem Ewigen, in einer Verbrüderung, die alles scheidende Eigentum, und was *Weil sie außer dem Kreise ihres Wirkens, in welchem sie Herren waren, bei seiner Unvollständigkeit noch ihnen fremde Mächte fühlten, so glaubten sie an die Vermengung eines fremden Schicksals mit der Macht ihres Willens und ihrer Tätigkeit DAS LEBEN JESU 109 damit zusammenhängt, ausschlösse, und sie zu einem lebendigen Einen ohne Mannigfaltigkeit machte, in einem gemeinsamen Leben, das von allen Verhältnissen der Wirklichkeit unabhängig wäre, dessen Genuß sich auf die Gewohnheit des Zusammenseins gründete, eines Zusammenseins, das durch die völlige Gleichheit der Mitglieder von keiner Mannigfaltigkeit gestört würde. Um so durchgängiger die Abhängigkeit der Juden von ihrem Gesetz war, um so größer mußte ihr Eigensinn sein in dem, worin sie noch einen Willen haben konnten, und dies einzige war ihr Dienst selbst, wenn er eine Entgegensetzung fand. Mit so leichtem Sinn sie sich verführen ließen, ihrem Glauben untreu zu werden, wenn das ihm Fremde sich ihnen — wenn sie nicht in Not und ihr dürftiger Genuß befriedigt war — nicht als Feindliches nahte, so hartnäckig kämpften sie für ihren Dienst, wenn er angegriffen wurde. Sie stritten für ihn als Verzweifelte. Sie waren selbst fähig, im Kampf für ihn seine Gebote, z. B. die Feier des Sabbats zu übertreten, die sie auf Befehl eines andern mit Bewußtsein zu verletzen durch keine Gewalt vermocht werden konnten, und so wie das Leben in ihnen mißhandelt, wie in ihnen nichts Unbeherrschtes, nichts Heiliges gelassen war, so wurde ihr Handeln zur unheiligsten Raserei, zum wütendsten Fanatismus. Das große Trauerspiel des jüdischen Volkes ist kein griechisches Trauerspiel. Es kann nicht Furcht, noch Mitleiden erwecken, denn beide entspringen nur aus dem Schicksal des notwendigen Fehltritts eines schönen Wesens; jenes kann nur Abscheu erwek- ken. Das Schicksal des jüdischen Volkes ist das Schicksal Mac- beths, der aus der Natur selbst trat, sich an fremde Menschen hing und so in ihrem Dienste alles Heilige der menschlichen Natur zertreten und ermorden, von seinen Göttern endlich verlassen — denn es waren Objekte, er war Knecht — und an seinem Glauben selbst zerschmettert werden mußte. (Lücke der Handschrift) . . . und seine Freunde ihm entreißt. So weit Jesus die Welt nicht verändert sieht, so weit flieht er sie und alle Beziehungen mit ihr. So viel er mit dem ganzen Schicksal seines Volkes zu- sammenstößt, verhält er sich, wenn sein Verhalten ihm auch wider- sprechend scheint, passiv gegen dasselbe. «Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist», sagte er, als die Juden die Seite ihres Schicksals, HO G.W. F. HEGEL den Römern zinsbar zu sein, gegen ihn zur Sprache brachten. Als es ihm widersprechend schien, daß er und seine Freunde auch den Tribut, der auf die Juden gelegt war, bezahlen sollten, hieß er ihn, um keinen Anstoß zu geben, den Petrus bezahlen. Er stand mit dem Staate in dem einzigen Verhältnis, innerhalb seiner Ge- richtsbarkeit sich aufzuhalten, und der Folge dieser Macht über ihn unterwarf er sich mit Widerspruch seines Geistes, mit Be- wußtsein leidend. Das Reich Gottes ist nicht von dieser Welt; allein es ist für dasselbe eine große Verschiedenheit, ob ihm diese Welt als entgegengesetzt vorhanden oder nicht existiert, nur möglich ist. Da jenes der Fall war und Jesus mit Bewußtsein vom Staate litt, so ist mit diesem Verhältnis zum Staate schon eine große Seite lebendiger Vereinigung, für die Mitglieder des Reiches Gottes ein wichtiges Band abgeschnitten, ein Teil der Freiheit, des negativen Charakters eines Bandes der Schönheit, eine Menge tätiger Verhältnisse, lebendiger Beziehungen verloren. Die Bürger des Reiches Gottes werden einem feindseligen Staate entgegengesetzte, von ihm sich ausschließende Privatpersonen. Diese Beschränkung des Lebens erscheint übrigens mehr als die Gewalt einer fremden herrschenden Macht über äußere Dinge, die selbst mit Freiheit aufgegeben werden können, als ein Raub am Leben für diejenigen, die nie in einer solchen Vereinigung tätig waren, nie dieses Bundes und dieser Freiheit genossen haben, besonders wenn das staatsbürgerliche Verhältnis vorzüglich nur Eigentum betrifft ; was an Menge der Beziehungen, an Mannig- faltigkeit froher und schöner Bande verloren geht, ersetzt sich durch Gewinn an isolierter Individualität und dem engherzigen Bewußtsein von Eigentümlichkeiten; aus der Idee des Reiches Gottes sind zwar alle durch einen Staat gegründeten Verhältnisse ausgeschlossen, welche unendlich tiefer stehen als die lebendigen Beziehungen des göttlichen Bundes und von einem solchen nur verachtet werden können; aber wenn er vorhanden war und Jesus oder die Gemeine ihn nicht aufheben konnte, so bleibt das Schicksal Jesu und seiner ihm hierin treu bleibenden Gemeine ein Verlust an Freiheit, eine Beschränkung des Lebens, eine Passivität in der Beherrschung durch eine fremde Macht, die man verachtet, die aber doch das Wenige, das Jesus von ihr DAS LEBEN JESU iii brauchte, Existenz unter seinem Volk, ihm unvermindert über- ließ. Außer dieser Seite des Lebens, die vielmehr nicht Leben, nur Möglichkeit des Lebens genannt werden kann, hatte sich der jüdische Geist nicht nur aller Modifikationen des Lebens be- mächtigt, sondern sich in ihnen auch zum Gesetz als Staat ge- macht, und die reinsten, unmittelbarsten Formen der Natur zu bestimmten Gesetzlichkeiten verkrüppelt. Im Reiche Gottes kann es keine Beziehung geben, als die aus der rücksichtlosesten Liebe und damit der höchsten Freiheit hervorgeht, die von der Schön- heit allein die Gestalt ihrer Erscheinung und ihr Verhältnis zu der Welt erhält. Wegen der Verunreinigung des Lebens konnte Jesus das Reich Gottes nur im Herzen tragen, mit Menschen nur in Beziehung treten, um sie zu bilden, um den guten Geist, an den er in ihnen glaubte, zu entwickeln, um erst Menschen zu schaffen, deren Welt die seinige wäre. Aber in seiner wirklichen Welt mußte er alle lebendigen Beziehungen fliehen, weil alle unter dem Gesetze des Todes lagen, die Menschen unter der Gewalt des Jüdischen gefangen waren. Durch ein von beiden Seiten freies Verhältnis wäre er in einen Bund mit dem Gewebe jüdischer Gesetzlichkeiten eingetreten, und um seine eingegangene Be- ziehung nicht zu entheiligen oder zu zerreißen, hätte er sich von seinen Fäden müssen umschhngen lassen und so konnte er die Freiheit nur in der Leere finden, weil jede Modifikation des Lebens gebunden war. Darum isoliert sich Jesus von seiner Mutter, seinen Brüdern und Verwandten. Er durfte kein Weib lieben, keine Kinder zeugen, nicht Familienvater, nicht Mitbürger werden, der mit den andern des Zusammenlebens genösse. Das Schicksal Jesu war, vom Schick- sal seiner Nation zu leiden, entweder es zu dem seinigen zu machen und seine Notwendigkeit und seine Genüsse zu teilen, und seinen Geist mit dem ihrigen zu vereinigen, aber das Göttliche aufcMopfern, oder das Schicksal seines Volkes von sich zu stoßen, sein Leben aber unentwickelt und ungenossen in sich zu erhalten, in keinem Falle die Natur zu erfüllen, in jenem nur Fragmente von ihr, und auch diese verunreinigt zu fühlen, in diesem sie voll- ständig zum Bewußtsein zu bringen, aber ihre Gestalt nur als einen 112 G.W. F. HEGEL glänzenden Schatten, dessen Wesen höchste Wahrheit ist. zu er- kennen, aber dem Gefühle derselben, ihrer Belebung in Tat und Wirklichkeit zu entsagen. Jesus wählte das letztere Schicksal, die Trennung seiner Natur und der Welt, und verlangte dasselbe von seinen Freunden : « Wer Vater oder Mutter, Sohn oder Tochter mehr liebt, als mich, ist meiner nicht würdig.» Je tiefer er aber diese Trennung fühlte, desto weniger konnte er sie ruhig tragen, und seine Tätigkeit war die mühevolle Reaktion seiner Natur gegen die Welt; und sein Kampf war rein und erhaben, weil er das Schicksal in seinem ganzen Umfang erkannt und sich gegenüber- gesetzt hatte. Sein und seiner von ihm gestifteten Gemeine Wider- stand gegen die \'erdorbenheit mußte diese Verdorbenheit sich selbst und dem von ihr noch freien Geist zum Bewußtsein bringen, und ihr Schicksal mit sich entzweien. Der Kampf des Reinen mit dem Unreinen ist ein erhabener Anblick, der sich aber bald in einen gräßlichen verwandelt, wenn das Heilige selbst vom Un- heiligen gelitten und eine Amalgamation beider mit der Anmaßung, rein zu sein, gegen das Schicksal wütet, indem es selbst noch unter ihm gefangen liegt. Jesus sah die ganze Gräßlichkeit dieser Zerüttung voraus. «Ich kam nicht, sagte er, der Erde Frieden zu bringen, sondern das Schwert; ich kam, den Sohn gegen seinen Vater zu entzweien, die Tochter gQgen ihre Mutter, die Braut gegen ihren Schwieger.» Was zum Teil sich vom Schicksal los- gesagt hat, zum Teil aber im Bunde damit steht, mit oder ohne Bewußtsein dieser Vermischung, muß sich und die Natur um so fürchterlicher zerreißen und bei der Vermischung der Natur und Unnatur muß der Angriff auf die letztere auch die erstere treffen, der Weizen mit dem Unkraut zertreten und das Heiligste der Natur selbst verletzt werden, weil es in das Unheilige verflochten ist. Die Folgen vor Augen, dachte Jesus nicht daran, seine Wirk- samkeit zurückzuhalten, um der Welt ihr Schicksal zu ersparen, ihre Zuckungen zu mildern und ihr im Untergange den trösten- den Glauben an Schuldlosigkeit zu lassen. Die Existenz des Jesus war also Trennung von der Welt und Flucht von ihr in den Himmel, Wiederherstellung des leer aus- gehenden Lebens in der Idealität, bei jedem Widerstreitenden Er- innerung und Emporschauen zu Gott, aber zum Teil Betätigung DAS LEBEN JESU 113 des Göttlichen und insofern Kampf mit dem Schicksal, teils in Verbreitung des Reiches Gottes, mit dessen Darstellung das ganze Reich der Welt in sich zusammenfiel und verschwand, teils in unmittelbarer Reaktion gegen einzelne Teile des Schicksals, so wie sie an ihm gerade anstießen, außer gegen den Teil des Schick- sals, der unmittelbar als Staat erschien, und auch in Jesu zum Be- wußtsein kam, gegen welchen er sich passiv verhielt. Das Schicksal Jesu war nicht ganz das Schicksal seiner Ge- meine. Da sie ein aus mehreren Zusammengesetztes war, die zwar in gleicher Trennung von der Welt lebten, so fand jedes Mitglied mehrere ihm gleich Gestimmte; sie hielten sich zusammen und konnten sich in der Wirklichkeit von der Welt entfernter halten und da damit des Zusammentreffens und Widerstoßens an ihr weniger war, so wurden sie weniger von ihr gereizt, lebten in der negativen Tätigkeit des Kampfes und das Bedürfnis nach positivem Leben mußte in ihnen größer werden, denn Gemein- schaftlichkeit des Negativen gibt keinen Genuß, ist keine Schönheit. Aufhebung des Eigentums, eingeführte Gütergemeinschaft, ge- meinschaftUches Mahl gehört mehr zum Negativen der Ver- einigung, als daß es eine positive Vereinigung wäre. Das Wesen ihres Bundes war Aussonderung von den Menschen und Liebe untereinander; beides ist notwendig verbunden. Diese Liebe sollte und konnte nicht eine Vereinigung der Individualitäten sein, sondern die Vereinigung in Gott; und in Gott allein, im Glauben kann nur das sich vereinigen, was einer Wirklichkeit sich entgegen- setzt, von ihr sich aussondert. Damit war diese Entgegensetzung fixiert und ein wesentlicher Teil des Prinzips des Bundes, und die Liebe mußte immer die Form der Liebe, des Glaubens an Gott behalten, ohne lebendig zu werden und in Gestalten des Lebens sich darzustellen, w^eil jede Gestalt des Lebens entgegensetzbar ist, vom Verstand als sein Objekt, als eine Wirklichkeit gefaßt w^erden kann ; und das Verhältnis gegen die Welt mußte zu einer Ängst- lichkeit vor ihren Berührungen werden, einer Furcht vor jeder Lebensform, weil in jeder sich, da sie Gestalt hat und nur eine Seite ist, ihr Mangel aufzeigen läßt und dies Mangelnde ein Anteil an der Welt ist. So fand also der Bund der Gemeine keine Aus- söhnung des Schicksals, aber das entgegengesetzte Extrem des Hegel, Das Leben Jesu 8 114 G.W. F. HEGEL jüdischen Geistes, nicht die Mitte der Extreme in der Schön- heit. Der jüdische Geist hatte die Modifikationen der Natur, die Ver- hältnisse des Lebens zu WirkHchkeiten fixiert, aber als Gaben des Herrschers schämte er sich der Dürftigkeit derselben nicht nur nicht, sondern sein Stolz und sein Leben war der Besitz von Wirklichkeiten. Der Geist der christlichen Gemeine sah gleich- falls in jedem Verhältnis die sich entwickelnden und darstellenden Lebenswirklichkeiten ; aber da ihm als Empfindung der Liebe die Objektivität der größte Feind war, so blieb er ebenso arm, als der jüdische, aber er verschmähte den Reichtum, um dessentwillen der jüdische diente. Der negativen Seite des Schicksals der christlichen Gemeine, der die Modifikationen des Lebens zu Bestimmtheiten und die Beziehungen mit ihnen also zu Verbrechen machenden Entgegen- setzung gegen die Welt, steht die positive Seite, das Band der Liebe gegenüber. Durch die Ausdehnung der Liebe auf eine ganze Gemeine kommt in den Charakter derselben, daß sie nicht eine lebendige Vereinigung der Individualitäten ist, sondern daß ihr Genuß sich aufs gegenseitige Bewußtsein, daß sie sich lieben, be- schränkt. Die Schicksallosigkeit durch die Flucht in unerfülltes Leben war den Mitgliedern der Gemeine darin erleichtert, daß sie eine Gemeine ausmachten, die sich aller Formen des Lebens gegen- einander enthielt, oder sie nur durch den allgemeinen Geist der Liebe bestimmte, d. h. nicht in diesen Formen lebte. Diese Liebe ist ein göttlicher Geist, aber noch nicht Religion. Daß sie dazu würde, mußte sie zugleich in einer objektiven Form sich darstellen; sie, eine Empfindung, ein Subjektives, mußte mit dem Vorgestellten, dem Allgemeinen zusammenschmelzen, und damit die Form eines anbetungsfähigen und würdigen Wesens gewinnen. Dies Bedürfnis, das Subjektive und Objektive, die Empfindung und die Forderung derselben nach Gegenständen, den Verstand durch die Phantasie in einem Schönen, in einem Gotte zu vereinigen, dies Bedürfnis, das höchste des menschlichen Geistes ist der Trieb nach Religion. Diesem Trieb der christHchen Gemeine konnte Glaube an Gott nicht Befriedigung sein. Denn in ihrem Gotte mußte nur ihre gemeinschaftliche Empfindung DAS LEBEN JESU 115 sich finden. In dem Gotte der Welt sind alle Wesen vereinigt; die Mitglieder der Gemeine sind als solche nicht in ihm; ihre Harmonie ist nicht die Harmonie des Ganzen, sonst machten sie keine besondere Gemeine aus, sonst wären sie nicht untereinander durch Liebe verbunden; die Gottheit der Welt ist nicht die Dar- stellung ihrer Liebe, ihres Göttlichen. Das Bedürfnis des Jesus nach Religion war in dem Gotte des Ganzen befriedigt; denn sein Aufblick zu ihm war jeder seiner beständigen Anstöße an der Welt, seine Flucht vor ihr. Er bedurfte nur des der Welt Ent- gegengesetzten, in dem seine Entgegensetzung selbst gegründet war; er war sein Vater, er war einig mit ihm. Aber bei seiner Gemeine fiel der beständige Anstoß an der Welt mehr weg; sie lebte ohne tätigen Kampf gegen sie und war insoweit glücklich, nicht beständig von ihr gereizt zu werden und daher nicht allein nur zum Entgegengesetzten, zu Gott fliehen zu müssen, sondern sie fand in ihrer Gemeinschaft, in ihrer Liebe einen Genuß, ein Reelles, eine Art lebendigen Verhältnisses. Nur da jede Beziehung dem Bezogenen entgegengesetzt, die Empfindung noch die Wirk- lichkeit, oder, subjektiv ausgedrückt, das Vermögen derselben, den Verstand, als sich entgegengesetzt hat, so muß ihr Mangel in einem beides Vereinigenden ergänzt werden. Die Gemeine hat das Bedürfnis eines Gottes, der der Gott der Gemeine ist, in dem gerade die ausschließende Liebe, ihr Charakter, ihre Beziehung zu- einander dargestellt ist, nicht als ein Symbol, oder Allegorie, nicht als eine Personifikation eines Subjektiven, bei welcher man sich der Trennung desselben von seiner Darstellung bewußt wäre, sondern das zugleich im Herzen, zugleich die Empfindung und Gegenstand ist, Empfindung als Geist, der alle durchweht und ein Wesen bleibt, wenn auch jeder Einzelne seiner Empfindung als seiner einzelnen bewußt wird. Es ist nicht die Knechtsgestalt, die Erniedrigung selbst, an welcher als der Hülle des Göttlichen sich der Trieb nach Religion stieße, wenn die Wirklichkeit sich damit begnügte, Hülle zu sein und vorüberzugehen ; aber so soll sie fest und bleibend noch an und in dem Gotte zu seinem Wesen gehören und die Individualität Gegenstand der Anbetung sein ; und die im Grabe abgestreifte Hülle der Wirklichkeit ist aus dem Grabe wieder emporgestiegen und ii6 G.W. F. HEGEL hat sich dem Gotterstandenen angehängt. Dies der Gemeine trauriges Bedürfnis eines WirkUchen hängt tief mit ihrem Geiste und seinem Schicksale zusammen. Ihre jede Lebensgestalt zum Bewußtsein eines Objektes bringende und sie somit verachtende Liebe hatte in dem Erstandenen zwar sich selbst als gestaltet er- kannt, er war aber für sie nicht bloß die Liebe; denn da ihre Liebe von der Welt abgeschieden sich nicht in der Entwickelung des Lebens, noch in seinen schönen Beziehungen und in der Aus- bildung der natürlichen Verhältnisse darstellte, da die Liebe Liebe sein und nicht leben sollte, so mußte irgend ein Kriterium der Erkenntnis derselben zur Möglichkeit des gegenseitigen Glaubens an sie vorhanden sein. Weil die Liebe nicht selbst die durch- gängige Vereinigung stiftete, so bedurfte es eines andern Bandes, das die Gemeine verknüpfte und worin sie zugleich die Gewißheit der Liebe aller fände. Sie mußte sich an einer Wirklichkeit er- kennen. Diese war nun die Gleichheit des Glaubens, die Gleichheit, eine Lehre empfangen, einen gemeinschaftUchen Meister und Leh- rer zu haben. Dies ist eine auszeichnende Seite des Geistes der Ge- meine, daß das Göttliche, das sie Vereinigende die Form eines Gegebenen für sie hat. Dem Geiste, dem Leben wird nichts ge- geben; was er empfangen hat, das ist er selbst geworden, das ist so in ihn übergegangen, daß es jetzt eine Modifikation desselben, daß es sein Leben ist. Aber in der Lebenslosigkeit der Liebe der Gemeine blieb der Geist ihrer Liebe so dürftig, fühlte sich so leer, daß er den Geist, der an ihn ansprach, nicht voll in sich lebendig erkennen konnte und ihm fremd blieb. Eine \'erknüpfung mit einem fremden und als fremd gefühlten Geist ist Bewußtsein der Abhängigkeit von ihm. Da die Liebe der Gemeine einesteils sich selbst übersprungen hatte, indem sie sich auf eine ganze Ver- sammlung von Menschen ausdehnte, und darum andernteils an idealischem Lihalt zwar voll, an Leben aber verlor, so war das nicht erfüllte Ideal der Liebe ein Positives für sie, sie erkannte es als entgegengesetzt und sich als abhängig von ihm; in ihrem Geiste lag das Bewußtsein der Jüngerschaft und eines Herrn und Meisters; ihr Geist war nicht in der gestalteten Liebe vollständig dargestellt ; die Seite desselben, eine Lehre empfangen zu haben und zu lernen und tiefer als der Meister zu stehen, fand ihre Darstellung DAS LEBEN JESU 117 in der Gestalt der Liebe, wenn mit dieser zugleich eine Wirklich- keit verknüpft war, die der Gemeine gegenüberstand. Dieses höhere Entgegengesetzte ist nicht die Erhabenheit des Gottes, die dieser notwendig hat, weil in ihm der Einzelne nicht sich selbst als ihm gleich erkennt, sondern in ihm der ganze Geist all der Vereinigten enthalten ist, — sondern sie ist ein Positives, Objektives, das so viel fremde Herrschaft in sich hat, als im Geist der Gemeine Abhängigkeit ist. In dieser Gemeinschaft der Ab- hängigkeit, der Gemeinschaft, durch einen Stifter zu sein, in dieser Einmischung eines GeschichtHchen, WirkUchen in ihr Leben, er- kannte die Gemeine ihr reelles Band, die Sicherheit der Vereini- gung, die in der unlebendigen Liebe nicht zum Gefühl kommen konnte. Dies ist der Punkt, an welchem die Gemeine, die in der außer allem Bündnis mit der Welt unvermischt sich erhaltenden Liebe allem Schicksal entgangen zu sein schien, von ihm ergriffen wurde, von einem Schicksale, dessen Mittelpunkt die Ausdehnung der alle Beziehungen fliehenden Liebe auf eine Gemeine war, das sich teils in der Ausdehnung der Gemeine selbst um so mehr ent- wickelte, teils durch diese Ausdehnung immer mehr mit dem Schicksal der Welt zusammentraf, sowohl indem es bewußtlos in sich viele Seiten von ihm aufnahm, als indem es gegen dasselbe kämpfte, sich immer mehr verunreinigte. Das ungöttliche Objektive, für welches auch Anbetung gefordert wird, wird durch den Glanz, der es umstrahlt, nie zu einem Gött- lichen. Zwar umgeben auch den Menschen Jesum [göttliche] sinn- liche Erscheinungen; um seine Geburt sind höhere Wesen be- schäftigt, [um seine Person zeigt sich einigemal ein höherer Glanz], er selbst wird einmal in eine strahlende Lichtgestalt verklärt. Aber auch diese Formen von Himmlischem sind nur außer dem Wirklichen ; [der Liebling Gottes bleibt nur ein Mensch, er wandelt in niedriger Gestalt umher] und dies Göttliche um das Individuum dient nur, den Kontrast desto mehr in die Augen fallen zu machen. Noch weniger als solche vorübergehende Nimbusse können die Tätigkeiten, die für Götthches angesehen werden und aus ihm selbst kommen, in die höhere Gestalt ihn erheben. Die Wunder, die ihn nicht bloß umschweben, sondern aus seiner innern Kraft hervorgehen, scheinen eines Gottes würdige Attribute, einen Gott ii8 G.W. F. HEGEL zu charakterisieren; in ihnen scheint das Göttliche aufs innigste mit dem Objektiven vereinigt und somit die harte Entgegensetzung und lose Verknüpfung Entgegengesetzter hier wegzufallen; jene wundersamen Wirksamkeiten vollbringt der Mensch, er und das Göttliche scheinen unzertrennbar. Allein je näher die Verknüp- fung ist, die doch keine Vereinigung wird, um so härter fällt das Unnatürliche der verknüpften Entgegengesetzten auf. Wenn ein Gott wirkt, so ist es nur von Geist zu Geist. Die Wirksamkeit setzt einen Gegenstand voraus, auf welchen gewirkt wird, aber die Wirkung des Geistes ist die Aufhebung desselben ; das Herausgehen des Göttlichen ist nur eine Enr^vickelung, indem es das Entgegengesetzte aufhebt, in der Vereinigung darstellt. Aber in den Wundern erscheint der Geist auf Körper wirkend. Die Ursache wäre nicht gestalteter Geist, dessen Gestalt bloß in seiner Entgegensetzung betrachtet, als Körper, einem andern gleich und entgegensetzbar in den Zusammenhang von Ursache und Wirkung treten könnte ; dieser Zusammenhang wäre eine Gemein- schaft des Geistes, der nur insofern Geist ist, als er nichts mit dem Körper gemein hat und des Körpers, der Körper ist. [Diese Wir- kungsart setzt gerade eine Trennung des Göttlichen selbst voraus, die sogar auch in der Verbindung noch bleibt. Wunder ist die Darstellung des Ungöttlichsten, eine Beherrschung des Toten, nicht eine Vermählung verwandter Wesen und Erzeugung neuer, sondern die Herrschaft des Geistes, weil dem Körper mit dem Geiste nichts gemein ist. Die Ungleichartigen, die als Ursache und Wirkung verbunden sind, sind in einem Begriffe eins; aber Geist und Körper, Lebendiges und Totes haben nichts gemein; ihre Verbindung ist nicht einmal in einem Begriffe möglich und sie können sich gar nicht als Ursache und Wirkung zusammen- verhalten ; denn sie sind absolut entgegengesetzt.] Ihre Vereini- gung, in welcher ihre Entgegensetzung aufhört, ist ein Leben, das ist gestalteter Geist. Und wenn dieser als Göttliches, Unge- trenntes wirkt, so ist sein Tun eine Vermählung mit verwandtem Wesen, mit Göttlichem, und Erzeugung, Entwickelung von Neuem, die Darstellung ihrer Vereinigung. Sofern aber der Geist in einer andern, entgegengesetzten Gestalt, als Feindliches, Beherrschendes wirkt, so hat er seine Göttlichkeit vergessen. Wunder sind darum DAS LEBEN JESU 119 die Darstellung des Ungöttlichsten, weil sie das Unnatürlichste sind und die härteste Entgegensetzung des Geistes und Körpers in ihrer ganzen ungeheuren Roheit verknüpft enthalten. Gött- liches Tun ist Wiederherstellung und Darstellung der Einigkeit, Wunder die höchste Zerreißung. In dem Wunder als einer Handlung wird dem Verstand ein Zusammenhang von Ursache und Wirkung gegeben und das Ge- biet seiner Begriffe anerkannt. Zugleich aber wird sein Gebiet damit zerstört, daß die Ursache nicht ein so Bestimmtes, als die Wirkung ist, sondern ein Unendliches sein soll, da der Zusammen- hang der Ursache und Wirkung im Verstände die Gleichheit der Bestimmtheit ist, ihre Entgegensetzung nur die, daß im einen diese Bestimmtheit Tätigkeit, im andern Leiden ist. Hier soll zugleich in der Handlung selbst ein Unendliches mit unendHcher Tätigkeit eine höchst beschränkte Wirkung haben. Nicht die Aufhebung des Gebiets des Verstands, sondern daß es zugleich gesetzt und aufgehoben wird, ist das Unnatürliche. So wie nun einerseits das Setzen einer unendlichen Ursache dem Setzen einer endlichen Wirkung widerspricht, ebenso hebt das Unendliche die bestimmte Wirkung auf Dort aus dem Gesichtspunkte des Verstandes an- gesehen ist das Unendliche nur ein Negatives, das Unbestimmte, an das ein Bestimmtes angeknüpft wird; hier von der Seite des Unendlichen als eines Seienden ist es ein Geist, der wirkt, und die Bestimmtheit der Wirkung eines Geistes ist ihre negative Seite; nur aus einem andern Gesichtspunkte in der Vergleichung kann seine Handlung bestimmt erscheinen; an sich, ihrem Sein nach, ist sie die Aufhebung einer Bestimmtheit und in sich unendlich. [Durch die Erniedrigung des Göttlichen zu einer Ursache ist der Mensch nicht zu ihm emporgehoben. Ein Wunder ist eine wahre creatio ex nihilo, und kein Gedanke paßt so wenig zum Göttlichen als dieser; denn es ist die Vernichtung oder die Er- schaffung einer ganz fremden Kraft, die wahre actio in distans ; und statt daß im wahren Göttlichen Einigkeit ist, und Ruhe ge- funden wird, so ist das Göttliche des Wunders die völligste Zerreißung.] Die rege gemachte Erv^'^artung also, die mit dem verklärten, zum Gotte erhobenenjesu vergesellschaftete Wirklichkeit durch wunder- 120 G.W. F. HEGEL bare Tätigkeit dieses Wirklichen zur Göttlichkeit zu erheben, wird also so gar nicht erfüllt, daß sie vielmehr die Härte dieser Bei- fügung eines Wirklichen um so mehr erhöht. Doch ist sie für uns um so viel größer, als für die Mitglieder der ersten christ- lichen Gemeine, um so viel mehr wir Verstand haben, als diese, die vom orientalischen Geiste angehaucht, die Trennung des Geistes und des Körpers weniger vollendet, dem Verstand weniger als Objekt überliefert hatten. Wo wir bestimmte Wirklichkeit, geschichtliche Objektivität mit dem Verstände erkennen, da ist oft für sie Geist; und wo wir nur den reinen Geist setzen, da ist er ihnen noch bekörpert. \'on der letztern Art der Ansicht ist die Form, in der sie das, was wir Unsterblichkeit und zwar Unsterb- lichkeit der Seele nennen, ein Beispiel; sie erscheint ihnen als eine Auferstehung des Leibes. Beide Ansichten sind die Extreme gegen den griechischen Geist; jenes das Extrem der Vernunft, die eine Seele, ein Negatives gegen allen Verstand und sein Objekt, den toten Körper entgegensetzt, dieses das Extrem sozusagen eines positiven Vermögens der Vernunft, die den Körper als lebendig setzt, während sie zu gleicher Zeit ihn für tot annahm ; indes dem Griechen Leib und Seele in einer lebendigen Gestalt bleibt, in den beiden Extremen hingegen der Tod eine Trennung des Leibes und der Seele ist, und in dem einen der Seele der Leib nicht mehr, in dem anderen der Leib bleibt, der auch ohne Leben ist. In anderem, wo wir nur mit dem Verstände Wirkliches oder, welches ebensoviel ist, etwa fremden Geist erkennen, mischen die ersten Christen ihren Geist bei. In den Schriften der Juden sehen wir vergangene Geschichten, individuelle Lagen und ge- wesenen Geist der Menschen, in den jüdischen gottesdienstlichen Handlungen befohlenes Tun, dessen Geist, Zweck und Gedanke für uns nicht mehr ist, keine Wahrheit mehr hat. Für sie hatte dies alles noch Wahrheit und Geist, aber ihre Wahrheit, ihren Geist, sie ließen es nicht objektiv werden. Der Geist, den sie Stellen der Propheten und anderer jüdischen Bücher geben, ist in ihrem Sinne weder in Rücksicht auf die Propheten die Meinung, Voraussagungen von Wirklichkeiten in ihnen zu finden, noch von ihrer Seite die Anwendung auf Wirklichkeit. Es ist ein ungewisses, gestaltloses Schweben zwischen Wirklichkeit und Geist; es ist DAS LEBEN JESU 121 einerseits in der Wirklichkeit nur der Geist betrachtet, andererseits die Wirklichkeit selbst als solche betrachtet, aber nicht fixiert. Um ein Beispiel anzuführen, bezieht Johannes (XII, 14 ff.) auf den Umstand, daß Jesus auf einem Esel nach Jerusalem hineinzog, einen Ausdruck der Propheten, dessen Begeisterung einen solchen Aufzug sah, den Johannes in dem Aufzuge des Jesus seine Wahr- heit finden läßt. Die Erweise, daß ähnhche Stellen der jüdischen Bücher teils an sich unrichtig, gegen den Wortsinn des Original- textes angeführt, teils gegen ihren Sinn, den sie durch ihren Zu- sammenhang erhalten, erklärt seien, teils sich auf ganz andere Wirklichkeiten, den Propheten gleichzeitige Umstände und Menschen beziehen, teils nur isolierte Begeisterung der Propheten seien, — alle diese Erweise treffen nur die Wirklichkeit der Be- ziehung, die die Apostel zwischen ihnen und Lebensumständen des Jesus aufstellen, nicht ihre Wahrheit und Geist, so wenig als ihre Wahrheit in der strengen objektiven Annahme sichtbar ist, daß die wirklichen Worte und Gesichte der Propheten der frühere Ausdruck späterer Wirklichkeiten seien. Der Geist der Beziehung, die die Freunde Christi zwischen den Gesichten der Propheten und den Begebenheiten des Jesus finden, wäre zu schwach aufge- faßt, wenn sie nur in die Vergleichung von Ähnlichkeit der Situ- ationen gesetzt würde, in eine Vergleichung, wie wir der Dar- stellung einer Lage oft den bestimmten Ausdruck alter Schrift- steller hinzufügen. Johannes sagt bei dem oben angeführten Bei- spiel ausdrücklich, daß die Freunde des Jesus erst nachdem Jesus verklärt, nachdem der Geist über sie gekommen war, diese Be- ziehung erkannten. Hätte Johannes einen bloßen Einfall, eine bloße Ähnlichkeit Verschiedener in dieser Beziehung gesehen, so hätte es dieser Bemerkung nicht bedurft ; so war aber im Geiste jenes Gesicht des Propheten und dieser Umstand bei einer Hand- lung Jesu eins; und da die Beziehung nur im Geiste ist, so fällt die objektive Ansicht derselben, als eines Zusammentreffens von Wirklichem, von Individuellem weg. Dieser Geist, der das Wirk- liche so wenig fixiert oder es zu einem Unbestimmten macht, und nichts Individuelles, sondern ein Geistiges darin erkennt, ist be- sonders auch Joh. XI, 5 1 sichtbar, wo Johannes über die Maxime des Kaiphas und deren Anwendung, daß es besser sei, ein Mensch 122 G.W. F. HEGEL sterbe fürs Volk, als dies im ganzen in Gefahr komme, erinnert, daß Kaiphas dies nicht für sich selbst als Individuum gesprochen habe, sondern als Hoherpriester in prophetischer Begeisterung (jxpo'fr;-:£j3sv). Was wir etwa unter dem Gesichtspunkte eines In- strumentes der göttlichen \'orsehung ansehen würden, darin sah Johannes ein vom Geiste Erfülltes, da der Charakter der Ansicht Jesu und seiner Freunde nichts so sehr entgegengesetzt sein konnte, als dem Gesichtspunkte, alles für Maschine, Werkzeug, Instrument zu nehmen, sondern vielmehr der höchste Glaube an Geist war; und da, wo man Einheit des Zusammentreffens von Handlungen erblickt, denen für sich einzeln diese Einheit, die Absicht des Ganzen oder Wirkung mangelt, und diese Handlungen (wie die des Kaiphas) als ihr unterworfen, von ihr ohne Bewußtsein in ihrer Beziehung auf die Einheit beherrscht, geleitet, als Wirklichkeiten und Instrumente betrachtet, sieht Johannes Einheit des Geistes und in dieser Handlung selbst den Geist der ganzen Wirkung handelnd. Er spricht von Kaiphas als selbst von dem Geiste er- füllt, in dem die Notwendigkeit des Schicksals des Jesus lag. So verlieren denn auch, mit der Seele der Apostel gesehen, die Wunder von der Härte, welche die Entgegensetzung des Geistes und des Körpers in ihnen für uns hat, da es sichtbar ist, daß jenen der europäische Verstand mangelte, der dem ins Bewußtsein Kommenden so allen Geist entzieht und es zu absoluten Objek- tivitäten, dem Geiste schlechthin entgegengesetzten Wirklichkeiten fixiert, daß jene Erkenntnis vielmehr ein unbestimmtes Schweben zwischen Wirklichkeit und Geist ist, das beide zwar noch trennte, aber nicht so unwiderruflich trennte, sondern die unklare Ent- gegensetzung schon gab, die bei größerer Entwickelung eine Paarung des Lebendigen und Toten, des Göttlichen und Wirk- lichen werden mußte, das durch die Beigesellung des wirklichen Jesus zum verklärten, zum Gotte gewordenen, dem tiefsten Triebe nach Religion Befriedigung zeigte, — aber nicht gewährte und ihn zu einem unendlichen, unauslöschlichen und ungestillten Sehnen machte; denn dem Sehnen steht in seiner höchsten Schwärmerei, in den Verzückungen der feinst organisierten, die höchste Liebe atmenden Seelen immer das Individuum, ein Ob- jektives, Persönliches gegenüber, nach der Vereinigung mit DAS LEBEN JESU 123 welchem alle Tiefen ihrer schönen Gefühle schmachteten, welche Vereinigung aber, weil es ein Individuum ist, ewig unmöglich ist, da es ihnen immer gegenüber, ewig in ihrem Bewußtsein bleibt und die Religion nie zum vollständigen Leben werden läßt. In allen Formen der christlichen Religion, die sich im fort- gehenden Schicksal der Zeit entwickelt haben, ruht dieser Grund- charakter der Entgegensetzung in dem Göttlichen, das allein im Bewußtsein, nie im Leben vorhanden sein soll. Von den ver- zückenden Vereinigungen des Schwärmers, der aller Mannig- faltigkeit des Lebens, auch der reinsten, in welcher der Geist seiner selbst genießt, entsagt und nur Gottes sich bewußt ist, also nur im Tode die Entgegensetzung der Persönlichkeit wegschaffen könnte, bis zur Wirklichkeit des mannigfaltigsten Bewußtseins, der Vereinigung mit dem Schicksal der Welt und der Entgegen- setzung Gottes gegen dasselbe, entweder der gefühlten Entgegen- setzung bei allen Handlungen und Lebensäußerungen, die ihre Rechtmäßigkeit durch die Empfindung der Dienstbarkeit und Nichtigkeit ihrer Entgegensetzung erkaufen (wie in der katho- lischen Kirche), oder der Entgegensetzung Gottes in bloßen mehr oder weniger andächtigen Gedanken (wie bei der protestantischen Kirche), entweder der Entgegensetzung eines hassenden Gottes gegen das Leben, als eine Schande und ein Verbrechen (bei einigen Sekten derselben), oder eines gütigen gegen das Leben und seine Freuden als lauter empfangene Wohltaten und Geschenke von ihm, als lauter Wirklichkeit, in welche dann auch die über ihr schwebende Geistesform in der Idee eines göttlichen Menschen, der Propheten usw. zu geschichtlicher, objektiver Ansicht herab- gezogen wird, — zwischen diesen Extremen von dem mannigfal- tigen oder verminderten Bewußtsein, der Freundschaft, des Hasses oder der Gleichgültigkeit gegen die Welt, zwischen diesen Extre- men, die sich innerhalb der Entgegensetzung Gottes und der Welt, des Göttlichen und des Lebens befinden, hat die christliche Kirche vor- und rückwärts den Kreis durchlaufen, aber es ist gegen ihren wesentlichen Charakter, in einer unpersönlichen lebendigen Schön- heit Ruhe zu finden und es ist ihr Schicksal, daß Kirche und Staat, Gottesdienst und Leben, Frömmigkeit und Tugend, geistliches und weltliches Tun nie in eins zusammenschmelzen können. 124 G.W. F. HEGEL Man kann den Zustand der jüdischen Bildung nicht einen Zu- stand der Kindheit und ihre Sprache eine unentwickelte, kindliche Sprache nennen. Es sind noch einige tiefen, kindlichen Laute in ihr aufbehalten oder vielmehr wiederhergestellt worden, aber die übrige schwere, gezwungene Art, sich auszudrücken, ist vielmehr eine Folge der höchsten Mißbildung des Volkes, mit welcher ein reineres Wesen zu kämpfen hat und von welcher es leidet, wenn es sich in ihren Formen darstellen soll, welche es nicht entbehren kann, da es selbst zu diesem Volke gehört. Der Anfang des Evangeliums des Johannes enthält eine Reihe thetischer Sätze, die in eigentlicherer Sprache über Gott und Göttliches sich ausdrücken. Es ist die einfachste Reflexionssprache, zu sagen: Im Anfang war der Logos, der Logos war bei Gott, und Gott w^ar der Logos, in ihm w^ar Leben. Aber diese Sätze haben nur den täuschenden Schein von Urteilen, denn die Prädikate sind nicht Begrifi"e, Allgemeines, wie der Ausdruck einer Reflexion in Urteilen notwendig enthält, sondern die Prädikate sind selbst wieder Seiendes, Lebendiges. Auch diese einfache Reflexion ist nicht geschickt, das Geistige mit Geist auszudrücken. Nirgends mehr als in Mitteilung des Göttlichen ist es für den Empfangenden notwendig, mit eigenem tiefem Geiste zu fassen, nirgend ist es weniger möglich, zu lernen, passiv in sich aufzunehmen, weil unmittelbar jedes über Göttliches in Form der Reflexion Aus- gedrückte widersinnig ist und die passive geistlose Aufnahme desselben nicht nur den tieferen Geist leer läßt, sondern auch den \'erstand, der es aufnimmt und dem es Widerspruch ist, darum zerrüttet. Diese immer objektive Sprache findet daher allein im Geiste des Lesers Sinn und Gewicht, und einen so verschiedenen, als verschieden die Beziehungen des Lebens und die Entgegen- setzung des Lebendigen und des Toten zum Bewußtsein gekommen ist. Von den zwei Extremen, den Eingang des Johannes aufzu- fassen, ist die subjektivste Art, den Logos als ein Wirkliches, ein Individuum, die objektivste Art, ihn als Vernunft zu nehmen, dort als ein Besonderes, hier als die Allgemeinheit, dort die eigenste, ausschließendste Wirklichkeit, hier das bloße Gedachtsein. Gott und Logos werden unterschieden, weil das Seiende in zweierlei Rücksicht betrachtet werden muß, denn die Reflexion supponiert DAS LEBEN JESU 125 das, dem sie die Form des Reflektierten gibt, zugleich als nicht reflektiert, einmal als das Einige, in dem keine Teilung, Entgegen- setzung ist und zugleich mit der Möglichkeit der Trennung, der unendlichen Teilung des Einigen. Gott und Logos sind nur in- sofern verschieden, als jener der Stoff" in der Form des Logos ist; der Logos selbst ist bei Gott; sie sind eins. Die Mannigfaltigkeit, die Unendlichkeit des Wirklichen ist die unendliche Teilung als wirklich; alles ist durch den Logos; die Welt ist nicht eine Emanation der Gottheit, denn sonst wäre das Wirkliche durchaus ein Göttliches; aber als Wirkliches ist es Emanation, Teil der un- endhchen Teilung, zugleich aber im Teile (iv aZzw fast besser auf das nächste oGoä 'h 0 ^qovsv) oder in dem unendlich Teilenden (iv aü-w auf Xö^o; bezogen) Leben. Jeder Teil, außer dem das Ganze ist, ist zugleich ein Ganzes, ein Leben, und dies Leben wiederum auch als ein reflektiertes, auch in Rücksicht der Teilung, des Verhältnisses als Subjekt und Prädikat, ist Leben (Cojy;) und auf- gefaßtes Leben («?&;), Wahrheit. Diese Endlichen haben Entgegen- setzungen ; für das Licht gibt es Finsternis. Der Täufer Johannes war nicht das Licht; er zeugte nur von ihm; er fühlte das Einige, aber es kam nicht rein, nur in bestimmte Verhältnisse beschränkt, zu seinem Bewußtsein. Er glaubte daran, aber sein Bewußtsein war nicht gleich dem Leben; nur ein Bewußtsein, das dem Leben gleich und nur darin verschieden ist, daß dieses das Seiende, jenes dies Seiende als Reflektiertes ist, ist (?w;. Ungeachtet Johannes nicht selbst das xa des Johannes? aus dem Himmel oder aus dem Menschen?» Bcz— i^aa, die ganze Wei- he des Geistes und Charakters, wobei an das Eintauchen ins Was- ser, aber als Nebensache, auch gedacht werden kann. Aber Mark. I, 4, fällt der Gedanke an diese Form der Aufnahme des Johannes in seinen Geistesbund ganz weg ; Johannes, heißt es, verkündigte das ßdzT'3jj.cz der Sinnesänderung zur Sündenerlassung. III, 1 1 sagt Matthäus: «Ich taufte euch mit Wasser; er aber wird euch in den heiligen Geist und Feuer (Luk. III, 16) eintauchen, (iv Tr.-s'ju.a-:'. ä.-(iw ysx'. -'jpi, wie Matth. XII, 28: v> r^n-j\}.n.-<. &3oiJ ixßa/JvOj -a ovi oy'£ Iv xtp jjlsXXovt'.. id. 34. Aus dem Überfluß des Herzens spricht der Mund; der gute Mensch gibt aus dem guten Schatz seines Herzens das Gute, der böse das Böse aus dem bösen Herzen. Wer den Menschen lästert, der lästert den Einzelnen, den Besonderen; wer aber den heiligen Geist lästert, lästert die Natur und ist unfähig, Sünden- vergebung zu erlangen, denn er ist unfähig, mit dem Ganzen sich zu vereinigen; er bleibt isoliert und ausgeschlossen. Eine solche Lästerung kommt aus der Fülle des Herzens und zeigt seine Zer- störung, seine Zerrüttung; seine Unheiligkeit ist des Heiligen un- fähig, das er gelästert hat, und das Heilige nach Trennung und Vereinigung ist die Liebe. Ein Zeichen könnte euch etwa er- schüttern. Aber der ausgetriebene Geist kommt mit sieben andern zurück, und der Mensch wird zerrütteter als vorher. C RELIGION Matth. XVIII, I — 10. Der Größte iv -i^; ßay.Xsi'q; xwv oüpavwv der dem Kinde am nächsten kommt. Ihre Engel (id. 10) im Himmel sehen beständig das Angesicht des Vaters, der im Himmel ist. Unter den Engeln der Kinder kann kein objektives Wesen ver- standen werden, denn auch von den Engeln der andern Menschen (um in diesem Ton zu sprechen) müßte gedacht werden, daß sie Gott anschauen. Ihre unentwickelte Einigkeit, das Bewußtlose, ihr Sein und Leben in Gott ist in einer Gestalt vorgestellt; dann ist auch diese wieder substantialisiert, isoliert, ihre Beziehung auf Gott eine ewige Anschauung desselben. Um den Geist, das Gött- liche außer der Form dieser Beschränkung und die Gemeinschaft dieses Beschränkten mit dem Lebendigen zu bezeichnen, setzt DAS LEBEN JESU 167 Plato das reine Leben und das beschränkte in eine Verschiedenheit der Zeit; er läßt die reinen Geister vorhin ganz in der Anschau- ung des Göttlichen gelebt haben und sie im Erdenleben dieselben sein, nur mit verdunkeltem Bewußtsein jenes Himmlischen. Auf eine andre Art bezeichnet Jesus die Natur, das Göttliche, als Kin- der des Geistes, als Engel, die immer im Anschauen Gottes leben. Auch in dieser Form sind sie nicht als Gott, sondern als Söhne Gottes, als Besondere dargestellt. Die Entgegensetzung des An- schauenden gegen das Angeschaute, daß sie als ein Subjekt und ein Objekt entgegengesetzt sind, fäUt in der Anschauung weg. Ihre Verschiedenheit ist nur die Möglichkeit der Trennung; ein Mensch, der die Sonne immer anschaute, wäre nur ein Gefühl des Lichts, das Gefühl als Wesen ; wer ganz in der Anschauung eines andern Menschen lebte, wäre dieser andere selbst, nur mit der Möglichkeit eines Andersseins. Unmittelbar damit in Ver- bindung gesetzt: ^X6sv 6 U!Ö; x'/j dvfl-piÜTto'j awgai xo ccxoXwXö;, und das Ge- bot, sich zu versöhnen, Entzweiung aufzuheben und einig zu werden; diese Einigkeit ist das Anschauen Gottes, das Werden wie Kinder. Wenn der Beleidiger nicht auf die Gemeine hört, so sei er als Heide und Zöllner. Wer sich absondert, die versuchte Vereinigung verschmäht, fest dagegen hält (Der Satz ist unvoll- endet geblieben.) Ferner stellt Jesus diese Einigkeit in andrer Form dar (XVIII, 19): Wenn zwei von euch über etwas einig sind und ihr bittet darum, so wird es euch der Vater gew^ähren, und fügt bei: Was ihr binden oder lösen werdet, ist im Himmel gelöst oder gebunden; was euch entgegengesetzt ist, ist der Gottheit fremd, schaut sie nicht an. Die Ausdrücke: bitten, gewähren, sind so gemein geworden und werden (Lücke der Handschrift )\ D GESCHICHTE Die Form, wie er als Einzelner gegen Einzelne, und Einzelne gegen ihn stehen. Ausbreitung seiner Lehre. Der Anfang seines Predigens. Matth. IV, 17 : ptavoshe • t^^y^xsv y«? 71 ßaaiXeta -cdiv oüpavuiv. Ibid. 19. Anwerbung Simons und Andreas': xoiyjaoi ujiäc; äXesi; dv&pojTCojv. Matth. VIII, 20: ö uw; xoü dv&pwTCOu oux lyst iroü xrjv xscpaXrjv xXtvi[]. 168 G.W. F. HEGEL V III, 22 : axoXoü^ai jio'., zal «(ch; -coü; vczpoü; &oiat "oü; ia'jtojv vE/pcit;;. In beiden Fällen das Verzichttun auf das Gewebe menschlicher Verhältnisse und Bedürfnisse. Trennung von ihrem Leben. Aber nicht Absonderung von Zöllnern und Sündern (Matth. IX, ii). Zustand des jüdischen Volkes; wie Schafe ohne Hirten (IX, 36). — Zu den Pharisäern: «Könnet ihr nicht die Zeichen der Zeit beurteilen?» — Ausschickung der Zwölf (Matth. X, 5). Ihre In- struktionspredigt: r/fY^cv r] ^az'Xzia twv oöpavojv. Das Übrige negativ: Sorget für Reisebedürfnisse; sehet, wo ihr Würdige findet; wenn das Haus würdig ist. komme euer Gruß, £!>r,vr, (er befahl vorher ein Haus zu grüßen) über es; wo nicht, so kehre er zu euch selbst zurück. Der Gruß ist in beiden Fällen dasselbe; es kommt auf die Würdigkeit des Hauses an, ob er als Wort in ihm erschallt oder dieselbe Fülle ihm in den Gemütern anschlägt, mit der er gegeben ist; sonst kehrt er zu euch zurück; ihr habt den Frieden nicht verschwendet, er hört sich in euch. Also kein Belehren und Behandeln. Haß der Welt, Verfolgung. Der Geist wird aus euch sprechen; seid nicht bekümmert, was ihr sagen wollt. Furchtlosigkeit, teils wegen eignen Leidens, teils wegen der Zerrüttungen, die ihre Sendung der Welt bringen wird. Matth. X, 41 : Wer einen Propheten als Propheten (si^ovoua -potpr;-cou, wem ein Prophet ein Prophet ist), einen Gerechten als Gerechten, einen Jünger als solchen aufnimmt, der hat den Lohn, den Wert eines Propheten; wie der Mensch den Menschen auffaßt, so ist er selbst. Unwille über die Art der Aufnahme seiner Lehre von seinem Zeitalter (Matth. XI, 25), Beschränkung ihrer Wirksamkeit auf vr,-[oi., /ozuüvti; zcfl rctpopTiaiiEvoi. Matth. XII, 49: iz'iHiva; ttjv yBioa izi -o'j!; ^adr^zoL^ auToü sTrsv • lool» 7; u-rjxrjp ^ou xal ot aoaXttot yio'j. Trennung Jesu von den Beziehungen des Lebens. Von hier beginnen seine hef- tigen Ausdrücke gegen die Pharisäer. Seine Antworten über Fragen, Anlässe, gehen nur darauf, sie zum Schweigen zu bringen, nur polemisch; das Wahre richtet er an andre Zuhörer. Parabeln. Matth. XIII. Über die Art der Ausbreitung seiner Lehre, das Schicksal der- selben, alle (vom Sämann, Weizen und Unkraut, Senfkorn, Heten- teig, gefundenen Schatz usw.) ganz analog mit den Mythen, aber DAS LEBEN JESU 169 freilich in jüdisclie Wirklichkeiten [eingehüllt]. Es ist in ihnen kein fabula docet; keine Moral kommt aus ihnen, sondern das Geschichtliche, das Werden, der Fortgang des Seienden, des Ewigen, des Lebendigen. Das Werden des Seins ist das Geheimnis der Natur; und alles fade Geschwätz von innigerer Überzeugung vom Guten usw. ist unendlich sinnloser, als die übernatürliche Erleuchtung, Wiedergeburt usw. Die Menge der Parabeln zeigt das Unvermögen, das darzustellen, auf was sie deuten sollen; nur daß dies kostbar, ein Großes, Wünschenswertes, aber ein Anderes ist, als sie kennen. Matth. XIII, 55: oüy oy-oQ iaxiv 6 -oü texxovoc utö;; ouy_ yj lAyjTTjp abiou Xs^sißi Mapiaji; — Oüz saxiv -potfrjxT); «xhi-oq u \i-r^ ev x^^ äczxptoi xat iv xi^ oixtcf auxoü. Sie sehen nichts als die Wirklichkeit, nicht den Geist, nichts, als was sie selbst sind. So auch Matth. XXV. Diese Parabeln sind weder morgenländische Allegorien, noch griechische Mythen. Diese beiden sprechen von der Sache selbst, von dem Sein, von dem Schönen, dessen Entwickelung, aus sich Heraus- gehen, Veränderungen bei den Orientalen meist ungeheure und unnatürliche Geburten werden, weil sie für sich, von der Phantasie allein, also als Ungeheuer gehalten werden, bei den Griechen zwar auch als Substanzen, als Modifikationen in einem lebendigen Wirklichen auftreten, aber von der Phantasie doch an eine natür- liche Handlung, an eine Menschenform geheftet werden; sie ver- lieren das Idealische dadurch nicht, das ihnen die orientalischen Ungeheuer behalten wollen, es wird doch kein individuelles Leben (Ceres, Venus usw.); das Unmenschliche dieser Göttergestalten ist nur Befreiung von dem ihnen Heterogenen, z. B. Schwere, Arbeit, Not usw. Die Parabeln Christi sind eigentliche Gleichnisse, moderne Fabeln, in denen es ein tertium comparationis gibt, d. h. wo das Gleiche gedacht ist. In den alten äsopischen Fabeln waren es selbst Triebe, Instinkte, das gleich modifizierte Leben. In den Parabeln ganz wirkliche Geschichten; daher immer ein: Gleich wie — (Lücke der Handschrift) Der Pharisäer dankt Gott dafür. Er ist so bescheiden, nicht die Kraft seines Willens darin zu er- kennen, daß er nicht wie viele andere Menschen ist, die Räuber, lyo G.W. F. HEGEL Ungerechte, Ehebrecher sind, oder wie der ZöUner hier neben ihm; er faste nach der Regel, er bezahle als ein rechtschaffener Mann gewissenhaft seinen Zehnten. Diesem Bewußtsein der Rechtschaffenheit, von welchem gar nicht gesagt ist, daß es nicht wahr gewesen sei, setzt Jesus den niedergesunkenen Blick, der sich nicht zum Himmel zu erheben wagt, des Zöllners entgegen, welcher an seine Brust schlägt: Gott sei mir gnädig. Das Be- wußtsein des Pharisäers, seine Pflicht erfüllt zu haben, wie auch das Bewußtsein des Jünglings, ein treuer Beobachter aller Ge- setze gewesen zu sein (Matth. XIX, 20), dies gute Gewissen ist darum eine Heuchelei, weil es teils, wenn es schon mit der Ab- sicht der Handlung verbunden ist, eine Reflexion über sich selbst, über die Handlung, ein Unreines, nicht zur Handlung Gehöriges ist, teils, wenn es eine Vorstellung seiner selbst als eines morali- schen Menschen ist, wie beim Pharisäer und bei jenem Jüngling, eine Vorstellung ist, deren Inhalt die Tugenden sind, d. h. beschränkte, denen ihr Kreis gegeben, die in ihrem Stoffe begrenzt sind, also alle zusammen ein Unvollständiges sind, da das gute Gewis- sen, das Bewußtsein, seine Pflichten erfüllt zu haben, sich zum Ganzen heuchelt. In eben diesem Geist spricht Jesus vom Beten und Fasten. Bei- des entweder ganz objektive, durchaus gebotene Pflichten, oder nur in einem Bedürfnis gegründet. Sie sind nicht fähig, als mo- ralische Pflichten vorgestellt zu werden, weil sie keine Entgegen- setzung voraussetzen, die in einem Begriff vereinigt zu werden fähig wäre. Jesus rügt bei beiden den Schein, den man sich vor den Menschen damit gibt und beim Gebet besonders auch das viele Schwätzen, wodurch es das Ansehen einer Pflicht und der Ausübung derselben erhält. Das Fasten beurteilt Jesus (Matth. VI, 18) nach der Empfindung, die dabei zugrunde liegt, nach dem Bedürfnis, das dazu treibt. Außer der Entfernung der Unreinheit beim Gebet gibt Jesus auch eine Art zu beten an. Die Rücksicht auf das Wahre des Gebets gehört nicht an diese Stelle. Über die folgende Forderung von Abwerfung der Lebenssorgen und Verachtung der Reichtümer, sowie über: «Wie ist es mög- Uch, daß ein Reicher ins Reich Gottes komme (Matth. XIX, 23)?» ist wohl nichts zu sagen. Es ist eine Litanei, die nur in Predigten DAS LEBEN JESU 171 oder in Reimen verziehen wird. Denn eine solche Forderung hat keine Wahrheit für uns. Das Schicksal des Eigentums ist uns zu mächtig geworden, als daß Reflexionen darüber erträglich, seine Trennung von uns denkbar wäre. Aber so viel ist doch einzu- sehen, daß der Besitz von Reichtum, mit allen den Rechten, so wie mit allen Sorgen, die damit zusammenhängen, Bestimmtheiten in den Menschen bringt, deren Schranken den Tugenden ihre Grenzen setzen, ihnen Bedingungen und Abhängigkeiten geben, innerhalb deren wohl für Pflichten und Tugenden Raum ist, die aber kein Ganzes, kein vollständiges Leben zulassen, weil es an Objekte gebunden ist, Bedingung seiner außer sich selbst hat, weil dem Leben noch etwas als eigen zugegeben ist, was doch nie sein Eigentum sein kann. Der Reichtum verrät sogleich seine Entge- gensetzung gegen die Liebe, gegen die Ganzheit dadurch, daß er ein Recht und in einer Reihe von Rechten begriffen ist, wodurch teils seine unmittelbar auf ihn sich beziehende Tugend, die Recht- schaffenheit, teils die anderen innerhalb seines Kreises möglichen Tugenden notwendig mit Ausschließung verbunden und jeder Tugendakt an sich selbst ein Entgegengesetztes ist. An einen Synkretismus, einen Zweiherrendienst ist nicht zu denken, weil das Unbestimmte und das Bestimmte mit Beibehaltung ihrer For- men nicht verbunden werden können. Jesus mußte nicht bloß das Komplement der Pflichten, sondern auch das Objekt dieser Prinzi- pien, das Wesen der Sphäre der Pflichten aufzeigen, um das der Liebe entgegengesetzte Gebiet zu zerstören. Lukas (XII, 13 ff".) bringt die Ansicht, nach welcher Jesus sich gegen die Reichtümer erklärt, in einer Verbindung vor, wodurch sie noch deutlicher wird. Ein Mann hatte ihn darum angesprochen, sich bei seinem Bruder über die Teilung ihrer Erbschaft zu verwenden. Eine Bitte um eine solche Verwendung abzuschlagen, wird nur als die Verfahrungs- art eines Egoisten beurteilt. Jesus scheint in seiner Antwort gegen den, der die Bitte an ihn getan hatte, unmittelbar nur seine In- kompetenz dazu entgegenzuhalten. Aber in seinem Geiste liegt mehr, als daß er nur kein Recht zu jener Teilung habe, denn er wendet sich sogleich zu seinen Jüngern mit einer Ermahnung ge- gen die Begierde zu haben, und fügt eine Parabel bei von einem reichen Mann, den Gott mit der Stimme aufschreckt: «Tor! diese 172 G.W. F. HEGEL Nacht wird man deine Seele von dir fordern ; was du erworben hast, wem wird es gehören?» So ist es mit dem, der sich Schätze sammelt und nicht in Gott reich ist. So wendet Jesus nur jenem Profanen die Rechtsseite zu: gegen seine Jünger fordert er Erhe- bung über das Gebiet des Rechts, der Gerechtigkeit, der Billigkeit, der Freundschaftsdienste, die Menschen in diesem Gebiete sich leisten können, über die ganze Sphäre des Eigentums. Dem Gewissen, dem Bewußtsein der eignen Pflichtgemäßheit oder Nichtgemäßheit steht die Anwendung der Gesetze auf andere im Urteile gegenüber: «Richtet nicht, sagt Jesus, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Mit welchem Maße ihr messet, mit dem wird euch dagegen gemessen werden (Matth. VII, i — 2).» Dieses Sub- sumieren andrer unter einen Begriff, der im Gesetze dargestellt ist, kann darum eine Schwäche genannt werden, weil der Ur- teilende nicht stark genug ist, sie ganz zu ertragen, sondern sie teilt und gegen ihre Unabhängigkeit nicht auszuhalten vermag, nicht wie sie sind, aber wie sie sein sollen, durch welches Urteil er sie sich (denn der Begriff der Allgemeinheit ist sein) im Gedan- ken unterjocht hat. Mit diesem Richten aber hat er ein Gesetz anerkannt und sich selbst der Herrschaft desselben unterzogen, ein Maß des Richtens auch für sich aufgestellt und mit der Heb- reichen Gesinnung für seinen Bruder, ihm den Splitter aus dem Auge zu ziehen, ist er selbst unter das Reich der Liebe gesunken. Das noch Folgende ist nicht mehr eine Entgegenstellung des- sen, was höher ist als die Gesetze, gegen sie, sondern die Aufzei- gung einiger Äußerungen des Lebens in seiner schönen, freien Region, als die Vereinigung der Menschen im Bitten, Geben und Nehmen. Das Ganze schließt mit dem Bestreben, das Bild des Menschen, wie es im Vorherigen in der Entgegensetzung gegen die Bestimmtheiten gezeichnet ist, weswegen auch das Reine mehr in seinen Modifikationen, in besonderen Tugenden, als Ver- söhnlichkeit, eheUche Treue, Wahrhaftigkeit usw. erschien, rein außer dieser Sphäre darzustellen, welches denn freilich nur in un- vollständigen Parabeln geschehen kann. Einen Kontrast mit dieser Gesetz- und Pflichtlosigkeit in der Liebe, die Jesus als das Höchste bezeichnet, macht die Art des lohannes des Täufers, von welcher Lukas (III, 7 ff.) einige Pro- DAS LEBEN JESU 173 ben aufbehalten hat. Wie sie [hoffen könnten], sagt er zu den Juden, ungeachtet sie Abraham zum Vater haben, ihrem erzürnten Schiclvsal zu entgehen? «Die Axt liegt schon an der Wurzel der Bäume.» Und da die Juden ihn nun fragten, was sie zu tun haben, so sagte er: «Wer zwei Röcke oder überflüssige Speise hat, gebe es dem, der nichts hat.» Die Zöllner gemahnte er, nicht mehr Abgaben zu fordern, als ihnen vorgeschrieben ist, die Soldaten, niemand zu schlagen, nichts zu erpressen, sondern von ihrem Solde zu leben. Noch ist von ihm bekannt (Matth. XIV, 4), daß er sich in Schmälen über das Verhältnis des Herodes mit seines Bruders Frau einließ, ein Schelten, das ihn den Kopf kostete. Sein Schicksal vollendete sich über einer Bestimmtheit, wie sein Lehren nach den obigen Proben eine Ermahnung zu bestimmten Tugen- den war und den großen Geist, die alles umfangende Seele der- selben nicht in seinem Bewußtsein zeigt. Er fühlte dies auch selbst und verkündigte einen andern, der die Wurfschaufel in der Hand die Tenne fegen werde. Johannes hoffte im Glauben, statt seiner Wassertaufe, von seinem Nachfolger eine Taufe mit Feuer undGeist. Auch ein Schicksal) das der Mensch durch widerrechtliche Lebensverletzung gegen sich erw^eckt hat, kann er durch die stär- ker werdende Liebe wieder zum Schlafe bringen. Die Strafe des Gesetzes ist nur gerecht. Der gemeinsame Charakter, der Zu- sammenhang des Verbrechens und der Strafe ist nur Gleichheit, nicht Leben. Gegen den Tyrannen stehen wieder Peiniger, gegen den Mörder Henker ; und die Peiniger und die Henker, die das- selbe tun, was die Tyrannen und die Mörder taten, heißen darum gerecht, weil sie das Gleiche tun, sie mögen es mit Bewußtsein als Rächer, oder als blinde Werkzeuge tun; ihre Seele kommt nicht in Anschlag, nur ihre Tat. Von Versöhnung, von Wieder- kehr zum Leben kann also bei der Gerechtigkeit nicht die Rede sein. Auch in der Feindschaft des Schicksals wird gerechte Strafe empfunden. Aber da sie nicht von einem fremden Gesetz über den Menschen kommt, sondern aus dem Menschen erst das Gesetz und das Schicksalsrecht entsteht, so ist die Rückkehr zum ur- sprünglichen Zustand, zur Ganzheit möglich, denn der Sünderist 174 G.W. F. HEGEL mehr als eine existierende Sünde, Persönlichkeit habendes Ver- brechen; er ist Mensch; Verbrechen und Schicksal ist in ihm, er kann wieder zu sich selbst zurückkehren, und wenn er zurück- kehrt, unter ihm. Die Elemente der Wirklichkeit haben sich aufgelöst, Geist und Körper haben sich getrennt. Die Tat besteht zwar noch, aber als ein Vergangenes, als ein Fragment, als eine tote Trümmer; derjenige, der als böses Gewissen war, ist ver- schwunden und die Erinnerung der Tat ist nicht mehr eine An- schauung seiner selbst. Das Leben hat in der Liebe das Leben wiedergefunden. Zwischen Sünde und ihre Vergebung tritt so wenig als zwischen Sünde und Strafe ein Fremdes ein ; das Leben entzweite sich mit sich selbst und vereinigt sich wieder. Daß auch Jesus den Zusammenhang zwischen Sünde und Ver- gebung der Sünde, zwischen Entfremdung von Gott und Ver- söhnung mit ihm nicht außer der Natur fand, kann vollständig späterhin gezeigt werden. Hier kann immer soviel angeführt werden, daß er die Versöhnung in Liebe und Lebensfülle setzte und diese Vorstellung des Verbrechens, des Schicksals und der Versöhnung bei jeder Veranlassung in wenig abwechselnder Form äußerte. Wo er Glauben fand, tat erkühn den Ausspruch: «Dir sind deine Sünden vergeben.» Dieser Ausspruch ist kein Ver- nichten der Strafe, kein Zerstören des noch bestehenden Schick- sals, sondern die Zuversicht, die im Glauben der ihn Fassenden sich selbst, ein ihm gleiches Gemüt erkannte. Gegenseitigen Glau- ben kann nur die Gleichheit des Gemüts finden ; in wem Jesus Glauben an ihn fand, den erkannte er als über Gesetz und Schick- sal erhaben und kündigte ihm Vergebung der Sünden an. Mit vollem Zutrauen an einen Menschen, mit solcher Hingebung an ihn, mit der sich nichts zurückbehaltenden Liebe kann nur eine reine oder gereinigte Seele sich dem Reinen in die Arme werfen, und Glaube an Jesum heißt mehr als ein Diener sein. Glaube ist eine Erkenntnis des Geistes durch Geist und nur gleiche Geister können sich erkennen und verstehen; ungleiche erkennen nur, daß sie nicht sind, was der andere ist. Verschiedenheit der Geistes- macht ist aber nicht Ungleichheit. Der Schwächere hängt sich an den Höheren als ein Kind oder kann an ihm hinaufgezogen werden. So lange er in einem andern die Schönheit liebt und sie DAS LEBEN JESU 175 zwar in ihm, aber nicht entwickelt ist, d. h., daß er sich in Hand- lung und Tätigkeit noch nicht mit der Welt ins Gleichgewicht und Ruhe gesetzt hat, daß er noch nicht zum Bewußtsein seines Verhältnisses zu den Dingen gekommen ist, so glaubt er nur noch. So drückt sich Jesus (Joh. XII, 36) aus: «Bis ihr selbst das Licht habt, glaubet an das Licht, damit ihr selbst Söhne des Lichtes werdet.» Von Jesu dagegen ist (Joh. II, 25) gesagt, daß er sich den Juden, die an ihn glaubten, nicht anvertraut habe, weil er sie kannte und weil er ihres Zeugnisses nicht bedurfte, sich nicht erst in ihnen erkannte. Im Geiste der Juden freilich stand zwischen Trieb und Hand- lung, Lust und Tat, zwischen Leben und Verbrechen, Verbrechen und Verzeihung eine unübersteigliche Kluft, ein fremdes Gericht, und wenn sie auf ein Band zwischen Sünde und Versöhnung im Menschen in der Liebe verwiesen wurden, mußte ihr liebloses Wesen empört und ein solcher Gedanke, wenn ihr Haß die Form eines Urteils trug, für sie der Gedanke eines Wahnsinnigen sein. Denn sie hatten alle Harmonie des Wesens, alle Liebe, Geist und Leben einem fremden Objekt anvertraut, aller Genien, in denen die Menschen vereinigt sind, sich entäußert und die Natur in fremde Hände gelegt. Was sie zusammenhielt, waren Ketten, Ge- setze, vom Mächtigen gegeben. Das Bewußtsein des Ungehor- sams gegen den Herrn fand in der ausgestandenen Strafe oder Schuldbezahlung unmittelbar seine Befriedigung. Böses Gewissen kannten sie nur als Furcht vor Strafe; denn als Bewußtsein seiner gegen sich selbst setzt es immer ein Ideal gegen die ihm nicht an- gemessene WirkHchkeit voraus und das Ideal ist im Menschen ein Bewußtsein seiner eigenen ganzen Natur. Aber ihrer Dürftigkeit blieb in der Anschauung ihrer nichts übrig ; allen Adel, alle Schön- heit hatten sie verschenkt; ihre Armut mußte dem unendlich Rei- chen dienen und durch das, was sie ihm für sich entwendeten, im Gefühl der Selbstheit sich erstahlen, hatten sie ihre Wirklichkeit nicht, wie der Mensch von bösem Gewissen, ärmer, sondern rei- cher gemacht, aber hatten dann den bestohlenen Herrn zu fürch- ten, der sie ihren Raub wieder bezahlen, opfern lassen und sie ins Gefühl ihrer Armut zurückschleudern würde. Nur durch Bezah- lung an ihren allmächtigen Gläubiger wurden sie ihre Schulden 176 G. W. F. HEGEL los und wenn sie bezahlt hatten, besaßen sie doch wieder nichts. Eine schuldbewußte, bessere Seele will mit dem Opfer nichts er- kaufen, nicht den Raub zurückgeben, sondern in der freiwilligen Entbehrung mit einer herzlichen Gabe, nicht im Gefühl der Pflicht und des Dienstes, sondern in brünstigem Gebete sich einem Rei- nen mit der Seele nahen, um, was sie in sich selbst nicht zum Be- wußtsein bringen kann, in der Anschauung der ersehnten Schön- - heit ihr Leben zu stärken und freie Lust und Freude zu gewinnen. Aber der Jude hatte in der Bezahlung seiner Schuld nur den Dienst, dem er entlaufen wollte, wieder aufgenommen, und ging vom Altar mit dem Gefühl des mißlungenen Versuchs und der Wiederanerkennung seines knechtischen Joches. Versöhnung in der Liebe ist statt der jüdischen Rückkehr unter Gehorsam eine Befreiung, statt der Wiederanerkennung der Herrschaft die Auf- hebung derselben in der Wiederherstellung des lebendigen Bandes, eines Geistes der Liebe, des £[eo;enseitis;en Glaubens, eines Geistes, der in Rücksicht auf Herrschaft betrachtet die höchste Freiheit ist, ein Zustand, der das unbegreiflichste Gegenteil des jüdischen Geistes ist. Nachdem Petrus Jesum als eine göttliche Natur anerkannt und dadurch sein Gefühl der ganzen Tiefe der Menschennatur, daß er einen Menschen als einen Gottessohn fassen konnte, bewiesen hatte, übergab ihm Jesus die Gewalt der Schlüssel des Himmel- reichs; was er binden würde, sollte im Himmel gebunden, was er lösen würde, sollte im Himmel auch los sein. Da Petrus ein- mal das Bewußtsein eines Gottes gehabt hatte, so mußte er in jedem die Göttlichkeit oder Ungöttlichkeit seines Wesens, oder sie als Gefühl derselben in einem dritten, die Stärke des Glaubens oder Unglaubens anerkennen können, der ihn von allem bleiben- den Schicksal befreite, über die ewige, unbewegliche Herrschaft erhebe oder nicht ; er mußte die Gemüter verstehen, ob ihre Taten vergangen sind, ob sie noch, die Geister derselben, Schuld und Schicksal bestehen; er mußte binden, noch unter der Wirklichkeit des Verbrechens stehend, und lösen, über die Wirklichkeit des- selben erhaben erklären können. Auch ein schönes Beispiel^) einer wiederkehrenden Sünderin kommt in der Geschichte Jesu vor: die berühmte schöne Sünderin DAS LEBEN JESU 177 Maria Magdalena. Es möge nicht übel gedeutet werden, wenn die in Zeit, Ort und andern Umständen abweichenden Erzählungen (Luk. VII, Matth. XXVI), die auf verschiedene Begebenheiten deuten, hier nur als verschiedene Formen derselben Geschichte behandelt werden, da über die Wirklichkeit damit nichts ge- sprochen sein soll und an unserer Ansicht nichts verändert wird. Die schuldbewußte Maria hört, daß Jesus in dem Hause eines Pharisäers speiste, in einer großen Versammlung rechtlicher, rechtschaffener Leute (honnetes gens). Ihr Gemüt treibt sie zu Jesu, sie tritt durch diese Gesellschaft hinten zu seinen Füßen, weint und netzt seine Füße mit ihren Tränen und trocknet sie mit den Haaren ihres Hauptes, küßt sie und salbt sie mit Salben, mit unverfälschtem und köstlicheniNardenwasser. Die schüchterne, sich selbst genügende, stolze Jungfräulichkeit kann das Bedürfnis der Liebe nicht laut werden lassen, kann noch viel weniger bei der Ergießung der Seele den gesetzlichen Blicken rechtlicher Leute, der Pharisäer und der Jünger trotzen ; ihre Sünden sind, sich über das Rechtliche weggesetzt zu haben; aber eine tief ver- wundete, der Verzweiflung nahe Seele muß sich überschreien und ihrer Blödigkeit und ihrem eignen Gefühl der Rechtlichkeit zum Trotz die ganze Fülle von Liebe geben und genießen, um in diesen innigen Genuß ihr Bewußtsein zu versenken. Der recht- schaffene Simon fühlt im Angesicht dieser fließenden Tränen, dieser lebendigen, alle Schuld tilgenden Küsse, dieser Seligkeit der aus ihrem Erguß Versöhnung trinkenden Liebe nur die Un- schicklichkeit, daß Jesus mit einer solchen Kreatur sich einlasse. Er setzt dies Gefühl so sehr voraus, daß er es nicht ausdrückt, daß es ihn nicht beschäftigt, sondern sogleich kann er die Kon- sequenz ziehen: Wenn Jesus ein Seher wäre, so würde er wissen, daß dies Weib eine Sünderin ist. «Ihr sind die vielen Sünden vergeben, sagte Jesus, denn sie hat viel geliebt; welchem aber wenige vergeben werden, der hat wenig geliebt.» Bei Simon hatte nur seine Urteilskraft sich geäußert; bei den Freunden Jesu regt sich ein viel edleres, ein moralisches Interesse, das Wasser hätte wohl um dreihundert Groschen verkauft und das Geld den Armen gegeben werden können. Ihre moralische Tendenz, den Armen wohl zu tun, ihre wohlberechnende Klugheit, ihre auf- Hegel, Das Leben Jesu 12 178 G. W. F. HEGEL merksame Tugend mit Versrand verbunden ist nur eine Roheit; denn sie faßten die schöne Situation nicht nur nicht, sie beleidigten sogar den heiligen Erguß eines liebenden Gemüts. «Warum be- kümmen ihr sie? sagt Jesus; sie hat ein schönes Werk an mir getan;» und es ist das Einzige, was in der Geschichte Jesu den Namen eines Schönen führt. So unbefangen, so ohne Zweck irgend einer Nutzanwendung in Tat oder Lehre äußerte sich nur ein Weib voll Liebe. Wohl nicht um einer Eitelkeit willen, auch nicht um die Jünger auf den eigentlichen Standpunkt zu stellen, aber um Ruhe für die Situation zu gew^innen, muß Jesus eine Seite ihnen zuwenden, für die sie empfänglich sind, mit der er ihnen nicht das Schöne derselben erklären will. Er leitet eine Art von Verehrung seiner Person aus der Handlung ab. Gegen rohe Seelen muß man sich begnügen, nur eine Entweihung eines schönen Gemüts durch sie abzuwenden. Es wäre vergebens, einer groben Organisation den feinen Duft des Geistes erklären zu wollen, dessen Anhauch für sie unempfindbar war. «Sie hat mich, sagte Jesus, im voraus auf mein Begräbnis gesalbt. Ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebt. Gehe hin im Frieden, dein Glaube hat dich gerettet.» Wollte man sagen, es wäre besser gewesen, daß Maria in das Schicksal des Judenlebens sich gefügt hätte, und nicht so durch Liebe zum schönsten Bewußt- sein zurückgekehrt wäre, als ein Automat ihrer Zeit, rechtlich und gemein, ohne Sünde und ohne Liebe abgelaufen wäre.'' ohne Liebe, denn die Zeit ihres Volks war wohl eine von denen, in welchen das schöne Gemüt ohne Sünde nicht leben konnte; aber zu dieser wie zu jeder andern konnte sie durch Liebe zum schönsten Bewußtsein zurückkehren. Die Zuversicht und Kühnheit der Entscheidung über die Fülle des Lebens, den Reichtum der Liebe, liegt in dem Gefühle des- jenigen, der die ganze Menschennatur in sich trägt. Ein solches Gemüt bedarf der hochgerühmten profonden Menschenkennerei nicht, die für zerrissene Wesen, deren Natur eine große Mannig- faltigkeit, viele und verschiedenfarbige Einseitigkeiten ohne Ein- heit in sich schließt, freilich eine Wissenschaft von großem Um- fang und großer Zweckmäßigkeit ist, denen aber das, was sie suchen, der Geist immer entschlüpft und nur Bestimmtheiten sich u DAS LEBEN JESU 179 anbieten. Eine ganze Natur hat im Moment eine andre durch- gefühlt und ihre Harmonie oder Disharmonie empfunden. Daher der unbedenkliche, zuversichtliche Ausspruch Jesu: deine Sünden sind dir vergeben. Die Liebe versöhnt aber nicht nur den Verbrecher mit dem Schicksal; sie versöhnt auch mit der Tugend, d.h. wenn sie nicht das einzige Prinzip der Tugend wäre, so wäre jede Tugend zu- gleich eine Untugend. Der völligen Knechtschaft unter dem Ge- setze eines fremden Herrn setzte Jesus nicht eine teilweise Knecht Schaft unter einem eignen Gesetze, den Selbstzwang der Kan- tischen Tugend entgegen, sondern Tugenden ohne Herrschaft und ohne Unterwerfung, Modifikationen der Liebe; und müßten sie nicht als Modifikationen eines lebendigen Geistes angesehen werden, sondern wäre eine absolute Tugend, so würden unauf- lösbare Kollisionen durch die Mehrheit der Absoluten entstehen ; und ohne jene Vereinigung in einem Geiste hat jede Tugend etwas Mangelhaftes, denn jede Tugend ist schon ihrem Namen nach eine einzelne, also eine beschränkte; die Umstände, unter denen sie möglich ist, die Bedingungen einer Handlung sind etwas Zu- fälliges, Äußerliches; außer wenn die Beziehung der Tugend auf ihr Objekt eine ist und nicht nur Beziehungen derselben Tugend aut andere Objekte ausschließt, so hat jede Tugend in ihrem Begriffe sowohl als auch in ihrer Tätigkeit ihre Grenze, die sie nicht über- schreiten kann. Ist der Mensch von dieser bestimmten Tugend nur ein so tugendhafter Mann und handelt er auch jenseits der Grenze seiner Tugend, so kann er, indem er seiner Tugend ge- treu bleibt, nur lasterhaft handeln. Wohnt in ihm aber die andere Tugend, die jenseits der Grenze der ersten ihr Gebiet hat, so kann man zwar sagen, die tugendhafte Gesinnung für sich allein im allgemeinen betrachtet, d. h. abstrahiert von den hier gesetzten Tugenden, komme nicht in Kollision, weil die tugendhafte Ge- sinnung nur eine ist; allein damit wird die Voraussetzung aufge- hoben. Sind beide Tugenden gesetzt, so hebt die Übung der einen den Stoff" und dann die Möglichkeit der Ausübung der andern, die ebenso absolut ist, auf, und die begründete Forderung der an- dern ist abgewiesen. Ein Recht, das für die eine Beziehung auf- gegeben würde, kann es nicht mehr für die andre werden, oder. i8o G.W. F. HEGEL wird es für die andre aufgespart, so muß die erste darben. Sowie sich die Mannigfaltigkeit der menschlichen Verhältnisse mehrt, wächst auch die Menge der notwendigen Kollisionen und die Un- möglichkeit, sie zu erfüllen. Will der Vieltugendliche unter der Menge seiner Gläubiger, die er nicht alle befriedigen kann, eine Rangordnung machen, so erklärt er sich gegen die, die er hinten- ansetzt, für nicht so schuldig als gegen andere, die er höhere nennt. Tugenden könnten also aufhören, absolute Pflichten zu sein; sie können sogar Laster werden. In dieser Vielseitigkeit der Be- ziehungen und Menge der Tugenden bleibt nichts übrig, als Ver- zweiflung der Tugend und Verbrechen der Tugend selbst. Nur wenn keine Tugend darauf Anspruch macht, in ihrer beschränk- ten Form fest und absolut zu bestehen, wenn sie darauf Verzicht tut, auch in das Verhältnis, in welches sie eintreten kann, ein- treten zu müssen, wenn der eine lebendige Geist allein nach dem Ganzen der gegebenen Verhältnisse, aber in völliger Unbe- schränktheit, ohne durch ihre Mannigfaltigkeit zugleich geteilt zu werden, handelt, sich selbst beschränkt, dann bleibt nur die Viel- seitigkeit der Verhältnisse, aber die Menge absoluter und unver- träglicher Tugenden schwindet. Es kann hier nicht davon die Rede sein, daß bei allen Tugenden ein und derselbe Grundsatz zugrunde liegt, welcher immer dasselbe unter verschiedenen Verhältnissen in verschiedener Modifikation, als eine besondere Tugend erscheint; denn eben darum, weil ein solches Prinzip ein Allgemeines und also ein Begriff ist, so muß unter bestimmten Verhältnissen notwendig: die bestimmte Anwenduns;, eine be- stimmte Tugend, eine gewisse Pflicht eintreten. In einer solchen Absolutheit des Bestehens zerstören sich die Tugenden gegenseitig; die mannigfachen \'erhältnisse als gegebene Wirklichkeiten, eben- so das Prinzip, die Regel für alle und also die Anwendungen des Prinzips auf die Wirklichkeiten, mannigfaltigen Tugenden sind unwandelbar. Die Einheit derselben durch die Regel ist nur eine scheinbare, weil sie nur ein Gedachtes ist und eine solche Einheit die Mannigfaltigkeit weder aufhebt, noch vereinigt, sondern in ihrer ganzen Stärke bestehen läßt. Ein lebendiges Band der Tugenden, eine lebendige Einheit ist eine ganz andere, als die Einheit des Begriffs. Sie stellt nicht für DAS LEBEN JESU i8i bestimmte Verhältnisse eine bestimmte Tugend auf, sondern er- scheint auch im buntesten Gemisch von Beziehungen unzerrissen und einfach, Ihre äußere Gestalt kann sich auf die unendlichste Art modifizieren; sie wird nie zweimal dieselbe haben und ihre Äußerung wird nie eine Regel geben können; denn sie hat nie die Form eines Allgemeinen gegen Besonderes, Wie die Tugend das Komplement des Gehorsams gegen die Gesetze ist, so ist die Liebe das Komplement der Tugenden, Alle Einseitigkeiten, alle Ausschließungen, alle Schranken der Tugenden sind durch sie aufgehoben; es gibt keine tugendhaften Sünden oder sündigen Tugenden mehr, denn sie ist die lebendige Beziehung der Wesen selbst; in ihr sind alle Trennungen, alle beschränkten Verhältnisse verschwunden. So hören auch die Beschränkungen der Tugen- den auf. Wo bliebe für Tugenden Raum, wenn kein Recht mehr aufzugeben ist? Liebe fordert Jesus; sie soll die Seeleseiner Freunde sein: «Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr euch untereinander liebet. Daran wird man erkennen, daß ihr meine Freunde seid.» [Dem Gebote der Liebe Gottes setzt er an die Seite Liebe zu dem Nächsten, d. h. nicht zu allen Menschen. Die Menschenliebe, die sich auf alle erstrecken soll, von denen man auch nichts weiß, die man nicht kennt, mit denen man in keiner Beziehung steht], diese allgemeine Menschenliebe ist eine schale, aber charakte- ristische Erfindung der Zeiten, welche nicht umhin können, idea- lische Forderungen, ein Gedankending aufzustellen, um in solchem gedachten Objekte recht prächtig zu erscheinen, da ihre Wirklich- keit so arm ist. Die Liebe zu dem Nächsten ist Liebe zu den Menschen, mit denen man in Beziehung kommt. Ein Gedachtes kann kein Geliebtes sein. Freilich kann Liebe nicht geboten wer- den, freilich ist sie pathologisch, eine Neigung, aber damit ist ihr von ihrer Größe nichts benommen ; sie ist damit gar nicht herab- gesetzt. Liebe kann gewiß nicht geboten werden, weil ihr Wesen keine Herrschaft über ein Fremdes ist; sie ist aber dadurch so wenig unter Pflicht und Recht, daß es vielmehr ihr Triumph ist, über nichts zu herrschen und ohne feindliche Macht gegen ein Anderes zu sein. «Die Liebe hat gesiegt», heißt nicht, wie «die Pflicht hat gesiegt», sie hat die Feinde unterjocht, sondern: sie hat die Feindschaft überwunden. Es ist der Liebe eine Art von i82 G.W. F. HEGEL Unehre, wenn sie geboten wird, daß sie, ein Lebendiges, mit Na- men genannt wird. Ihr Name, daß über sie reflektiert wird, ein Aussprechen desselben, ist nicht Geist, nicht ihr Wesen, sondern ihm entgegengesetzt, und nur als Name, als Wort kann sie ge- boten, es kann nur gesagt (Lücke der Handschrift) . . . Man kann dies mehr in sich Enthaltende eine Geneigtheit, so zu handeln, nennen, wie die Gesetze gebieten würden, Einigkeit der Neigung mit dem Gesetze, wodurch dieses seine Form als Gesetz verliert. Diese Übereinstimmung der Neigung ist das -Xyj- piujio des Gesetzes, ein Sein, das, wie man sich sonst ausdrückt, das Komplement der Möglichkeit ist. Denn Möglichkeit ist das Objekt, als ein Gedachtes, das Allgemeine, Sein die Synthese des Subjekts und Objekts, in welcher Subjekt und Objekt ihre Ent- gegensetzung verloren haben. Ebenso jene Geneigtheit einer Tu- gend ist eine Synthese, in der das Gesetz (das Kant darum immer ein Objektives nennt) seine Allgemeinheit und ebenso das Sub- jekt seine Besonderheit, beide ihre Entgegensetzung verlieren, da in der Kantischen Tugend diese Entgegensetzung bleibt und das eine zum Herrschenden, das andere zum Beherrschten wird. Die Über- einstimmung der Neigung mit dem Gesetze ist von der Art, daß Gesetz und Neigung nicht verschieden sind, und der Ausdruck Übereinstimmung der Neigung mit dem Gesetze wird darum ganz unpassend, weil in ihm noch Gesetz und Neigung als Besondre, Entgegengesetzte vorkommen und leicht eine Unterstützung der moralischen Gesinnung (der Achtung für Gesetze und des Be- stimmtseins des Willens durch Gesetz) durch die davon verschie- dene Neigung verstanden werden könnte und da die Überein- stimmenden verschieden sind, auch die Übereinstimmung nur zu- fällig, nur die Einheit Fremder, ein Gedachtes wäre. Da aber hier in dem Komplement der Gesetze und was damit zusammenhängt, Pflicht, moralische Gesinnung und dergleichen aufhört, AUge: meines, der Neigung entgegengesetzt, und die Neigung aufhört. Besonderes, dem Gesetze entgegengesetzt zu sein, so ist jene Übereinstimmung Leben und als Beziehung Verschiedener Liebe, ein Sein, das als Begriff" ausgedrückt, notwendig dem Gesetz, d. h. sich selbst gleich, oder als Wirklichkeit, als Neigung, dem Begriffe entgegengesetzt, gleichfalls sich selbst, der Neigung gleich ist. DAS LEBEN JESU 183 Das Gebot: Du sollst nicht töten, — ein Grundsatz, der für den Willen jedes vernünftigen Wesens gültig erkannt wird, der als Prinzip einer gemeinen Gesetzgebung gelten kann — einem sol- chen Gebot setzte Jesus den höhern Genius der Versöhnhchkeit (einer Modifikation der Liebe) entgegen, der nicht nur gegen jenes Gesetz handelt, sondern es ganz überflüssig macht, eine so reiche, lebendige Fülle in sich schUeßt, daß für ihn so etwas Dürftiges, als so ein Gesetz gar nicht ist. Was der Versöhnlichkeit, da in ihr das Gesetz seine Form verliert, der Begriff" vom Leben ver- drängt wird, an der Allgemeinheit, die im Begrifft alles Besondere in sich faßt, abgeht, ist nur ein scheinbarer Verlust und ein wah- rer, unendlicher Gewinn durch den Reichtum lebendiger Be- ziehungen mit den vielleicht wenigen Individuen, mit denen sie in Verhältnis kommt. Sie schheßt nicht Wirkliches, sondern Ge- dachtes, Möglichkeiten aus, und dieser Reichtum der Möglichkeit in der Allgemeinheit des Begriffs, das Gebot seiner Form nach ist selbst eine Zerreißung des Lebens und seinem Inhalte nach so dürftig, daß es außer der einzigen in ihm verbotenen Mißhandlung alle übrigen zuläßt; vor der Versöhnlichkeit hingegen ist auch der Zorn ein Verbrechen, als die schnelle Reaktion des Gefühls einer Unterdrückung, die Aufwallung, wieder zu unterdrücken, welche eine Art blinder Gerechtigkeit ist und also doch Gleichheit, aber feindliche, voraussetzt, der Geist der Versöhnlichkeit hingegen, in sich ohne feindselige Gesinnung, die Feindschaft des andern aufzuheben strebt. Wenn nach der Liebe geurteilt wird, so ist es ihr auch, und zwar ein größeres Verbrechen als der Zorn, seinen Bruder einen Schurken zu schelten. Aber ein Schurke in seinem Isolieren, indem er sich, ein Mensch, den Menschen feindHch ge- genüberstellt und in dieser Zerrüttung zu bestehen strebt, wird noch für etwas gehalten ; er gilt noch, denn er wird gehaßt und ein großer Schurke kann bewundert werden. Der Liebe ist es daher noch fremder, den andern für einen Narren zu erklären, welches nicht nur alle Beziehung mit ihm, sondern auch alle Gleichheit, alle Gemeinschaft des Wesens aufhebt, ihn in der Vor- stellung völlig unterjocht, als Nichts bezeichnet.* ' ' ;' * Die Worterklärung spricht am meisten für die hier angenommene Bedeu'- tung des (jay.d (Matth. V, 22), die Hauptschwierigkeit dagegen machte der mo'- i84 G.W. F. HEGEL Dagegen (Matth. V, 2 3) läßt die Liebe, die sich vor dem Altar einer Entzweiung bewußt wird, ihr Opfer dort, versöhnt sich mit dem Bruder und tritt dann erst rein und einig vor die einige Gottheit. Sie läßt sich nicht vom Richter ihr Recht zumessen, sondern ver- söhnt sich ohne alle Rücksicht auf Rechte. Ebenso stellt Jesus der pflichtmäßigen Treue in der Ehe und dem Rechte, sich von dem Weibe zu scheiden, die Liebe ent- gegen, welche, was jene Pflicht nicht verbot, auch die Begierde aus- schließt, und diese Erlaubnis, die jener Pflicht widersprechend war, bis auf einen Fall aufhebt. So ist einesteils die Heiligkeit der Liebe die Ergänzung (das ->.-/; fxoaa) des Gesetzes wider den Ehebruch und diese Heiligkeit gibt allein Fähigkeit, wenn eine der vielen Seiten des Menschen sich zum Ganzen oder gegen das Ganze er- heben wollte, sie niederzuhalten und nur die Empfindung des Ganzen, die Liebe, vermag die Zerstreuung des Wesens zu ver- hindern. Andernteils hebt die Liebe die Erlaubnis, sich zu schei- den, auf, und gegen die Liebe kann, weder so lange sie lebt, noch wie sie aufhört, von Erlaubnis und Recht die Rede sein. Das Aufhören der Liebe gegen ein Weib, in welchem noch die Liebe ist, macht sie sich selbst untreu werden und sündigen ; und eine Übertragung ihrer Leidenschaft ist nur eine Verirrung derselben, die sie mit bösem Gewissen büßen muß. Ihr Schicksal kann ihr in diesem Falle freilich nicht erspart werden und die Ehe ist an sich getrennt, aber der Beistand, den der Mann von einem Rechte und Gesetze holt und durch den er Rechtlichkeit und Schicklich- keit auf seine Seite zieht, heißt ^^r Verletzung der Liebe des Wei- bes noch eine niederträchtige Härte hinzufügen. Im Falle nur, den Jesus ausnimmt, wenn das Weib ihre Liebe einem andern zu- gewandt hat, kann der Mann ihr Knecht nicht bleiben. Den Juden, oxXrjp&Tt; zapotav, mußte Moses wohl über die Ehe Gesetze und Rechte geben, von Anfang aber war es nicht so.^) In einer Versicherung über ein Wirkliches wird das Subjekt und das Objekt als getrennt gedacht, oder in einer Versicherung ralische Sinn der Ausleger, die den Narren gelinder finden als den Schurken und beide Worte nicht nach dem Gemüt, aus dem sie kommen, sondern nach dem Eindruck, den sie machen, beurteilen; der für einen Narren Erklärte fühlt sich sui juris gemacht, und wenn er so gescheit ist, als der andere, dreht er es um und heißt den anderen einen Narren. DAS LEBEN JESU 185 über ein Künftiges, in einem Versprechen, sind die Erklärung eines Willens und die Tat selbst noch ganz getrennt, und es ist um die Wahrheit, d. i. den festen Zusammenhang beider zu tun. In einer eidlichen Versicherung wird die Vorstellung der entweder schon ge- schehenen oder erst zukünftigen Tat an etwas Göttliches geknüpft, der Zusammenhang des Worts und der Tat, die Verknüpfung, das Sein dargestellt an einem Seienden, in ihm vergegenwärtigt und weil die Wahrheit des Falles, der beschworen wird, nicht selbst sichtbar gemacht werden kann, wird an ihre Stelle die Wahrheit selbst, Gott gesetzt und teils auf diese Art dem andern gegeben, in ihm Überzeugung bewirkt, teils durch die Rückwirkung dieses Seienden auf das sich entschließende Gemüt der Schwörenden das Gegenteil der Wahrheit ausgeschlossen, und es ist gar nicht abzusehen, inwiefern hierin ein Aberglaube liegen soll. Wenn die Juden bei dem Himmel, bei der Erde, bei Jerusalem oder bei ihrem Haupthaar schwuren und ihren Eid Gott anheimstellten, ihn in die Hand des Herrn legten, so knüpften sie die Wirklichkeit des Versicherten an ein Objekt, setzten beide Wirklichkeiten gleich und den Zusammenhang dieses Objektes und des Versicherten, die Gleichheit beider legten sie in die Gewalt einer fremden Macht, und Gott ist zur Macht über das Wort gesetzt und dieser Zu- sammenhang soll im Menschen selbst begründet sein. Die ver- sicherte Tat und das Objekt, bei dem versichert wird, werden so aneinander gekettet, daß, wenn eins aufgehoben wird, auch das andere geleugnet, in der Vorstellung aufgehoben wird. Wenn also die versprochene Tat oder die versicherte Wirklichkeit nicht wirklich ist, so ist damit auch das Objekt, bei dem geschworen wurde, der Himmel, die Erde usw. geleugnet und in diesem Falle muß der Herr desselben es vindizieren, Gott Rächer des Seinigen werden. Dieser Anknüpfung der versicherten Tat an etwas Ob- jektives widerspricht Jesus ; er bekräftigt nicht die Pflicht, den Eid zu halten, sondern erklärt ihn überhaupt für überflüssig, denn we- der der Himmel, noch die Erde, noch Jerusalem, noch das Haupt- haar ist des Menschen Geist, der allein der Verknüpfer dieses Wortes und einer Handlung ist, sondern es sei ein fremdes Eigen- tum und die Gewißheit der Tat dürfe nicht an etwas Fremdes ge- knüpft sein, in ein Fremdes gelegt werden, sondern der Zusam- i86 G.W. F. HEGEL menhang des Wortes und der Handlung müsse lebendig sein, in dem Menschen selbst beruhen. Jesus fordert hierauf im allgemeinen Aufhebung des Rechts, Erhebung der ganzen Sphäre der Gerechtigkeit oder Ungerech- tigkeit durch Liebe, in welcher mit dem Rechte auch dies Gefühl der Ungleichheit und das Soll dieses Gefühls, das Gleichheit for- dert, d. i. der Haß gegen Feinde verschwindet. Auge um Auge, Zahn um Zahn, sagen die Gesetze; die Wiedervergeltung und die Gleichheit derselben ist das heilige Prinzip aller Gerechtigkeit, das Prinzip, auf dem jede Staatsverfassung ruhen muß; Aufhebung der Gei'ecktigkeit fordert aber Jesus. Die Gesetze und Pflichten, von denen Jesus bisher sprach, waren im ganzen bürgerliche und die Ergänzung, die er ihnen gab, war nicht die, daß er sie als Gesetze und Pflichten bestätigte, aber als Triebfeder reine Achtung für sie forderte, sondern zeigt vielmehr A'erachtung gegen sie und seine Ergänzung ist ein Geist, dessen Handlungen, w^enn sie etwa nach Gesetzen und Pflichtgeboten beurteilt werden, denselben gemäß befunden werden, der aber kein Bewußtsein für Pflichten und Rechte hat. Weiterhin spricht Jesus von einer bloß moralischen Pflicht der Tugend, der Wohl- tätigkeit. Jesus verurteilt bei ihr, wie beim Gebet und Fasten, das Einmischen eines Fremden, die Unreinheit der Handlung. «Tut es nicht, um gesehen zu werden.» Der Zweck der Handlung, d. h. die Handlung als gedacht, ehe sie noch getan ist, sei gleich der vollbrachten Handlung. Außer dieser Heuchelei, die in den Gedanken der Handlung das andere [von den Menschen gesehen zu werden] einmischt, das nicht in der Handlung ist, scheint Jesus auch hier selbst das Bewußtsein der Handlung als einer erfüllten Pflicht zu entfernen, denn der erkannte Beifall anderer über einen Sieg, den die Pflicht, das Allgemeine über das Besondere davon- getragen hat, ist gleichsam nicht mehr die bloß gedachte, sondern die angeschaute Allgemeinheit und Besonderheit, jene in der Vor- stellung der andern, diese in den andern selbst als WirkHchen, und das einsame Bewußtsein der erfüllten Pflicht ist von der Ehre nicht der Art nach, sondern nur insofern verschieden, als in der Ehre die Allgemeinheit nicht bloß allgemein gültig, sondern auch als allgemein geltend erkannt wird. «Lasset die linke Hand nicht DAS LEBEN JESU 187 wissen, was die rechte tut», kann nicht von Bekanntwerden der Handlung genommen werden, sondern ist das Gegenteil des «von den Leuten gesehen werden», und wenn es also einen Sinn haben soll, so wird es die eigne Reflexion über seine Pflichtgemäßheit bezeichnen. Ob bei der Handlung nur ich, oder ob ich denke, daß auch andre mir zuschauen, ob ich nur mein Bewußtsein oder auch den Beifall andrer genieße, ist wohl kein großer Unterschied. In dem eignen Bewußtsein, die Pflicht erfüllt zu haben, gibt sich das Individuum selbst den Charakter der Allgemeinheit ; er schaut sich als ein Allgemeines an, als erhaben über sich selbst als Be- sonderes und über das, was in der Besonderheit liegt, über die Menge der Individuen; denn so wie der Begriff" der Allgemein- heit auf das Individuum angewendet wird, so erhält der Begriff" der Besonderheit auch diese Beziehung auf Individuen und die Entgegensetzung derselben gegen jenes sich selbst der Allgemein- heit gemäß in Erfüllung der Pflicht Erkennende, und dieses Selbst- bewußtsein ist der Handlung ebenso fremd als der Beifall der Menschen. Von dieser Überzeugung in sich, gerecht zu sein, und der Herabsetzung anderer dadurch (welch beides in notwendiger Verbindung steht, wegen der notwendigen Entgegensetzung des Besonderen gegen das Allgemeine) spricht auch Jesus in der Pa- rabel Luk. XVIII, 9 ff. Reines Leben zu denken ist die Aufgabe, alle Taten, alles zu entfernen, was der Mensch war, oder sein wird ; Charakter abstra- hiert nur von der Tätigkeit, er drückt das Allgemeine der be- stimmten Handlungen aus; Bewußtsein reinen Lebens wäre Be^ wußtsein dessen, was der Mensch ist ; in ihm gibt es keine Ver- schiedenheit, keine entwickelte wirkliche Mannigfaltigkeit. Dies Einfache ist nicht ein negatives Einfaches, eine Einheit der Ab^ straktion, denn in der Einheit der Abstraktion ist nur ein Be- stimmtes gesetzt und von allen übrigen Bestimmtheiten abstrahiert; ihre reine Einheit ist nur die gesetzte Forderung der Abstraktion von allem Bestimmten, das negative Unbestimmte. Reines Leben ist Sein ; die Vielheit ist nichts Absolutes ; dies Reine ist die Quelle alles vereinzelten Lebens, der Triebe und aller Tat; aber so wie es ins Bewußtsein kommt, wenn der Mensch daran glaubt, so ist es zwar noch lebendig in ihm, aber außer den Menschen zum Teil i88 G.W. F. HEGEL gesetzt. Weil das Bewußtseiende insofern sich beschränkt, so kann es und das Unendliche nicht völlig in einem sein. Nur dadurch kann der Mensch an einen Gott glauben, daß er von aller Tat, von allem Bestimmten zu abstrahieren vermag, aber die Seele jeder Tat, alles Bestimmten rein festhalten kann. Worin keine Seele, kein Geist ist, darin ist nichts Göttliches. Wer sich immer be- stimmt fühlt, immer als dies oder jenes tuend, oder leidend, so oder so handelnd, in dessen Abstraktion wird nicht das Begrenzte vom Geist abgeschieden, sondern das Bleibende ist nur das Ent- gegengesetzte des Lebendigen ; das Ganze der Bestimmtheiten fällt weg und das herrschende Allgemeine über dem Bewußtsein der Bestimmtheiten ist nur die leere Einheit des Alls der Objekte als herrschendes Wesen über dieselben; [wer sich immer bestimmt fühlt, dessen Gottheit kann nur das sein, was er über diesem Be- wußtsein fühlt, das All der Objekte und der Herrscher derselben; die Gottheit selbst ist um so leerer, je mehr sie über alles, über jede lebendige Kraft erhaben ist]. Diesem Unendlichen des Herrschens und Beherrschtwerdens kann nur das reine Gefühl des Lebens entgegengesetzt werden ; es hat in sich selbst seine Rechtfertigung und seine Autorität; aber indem es als Gegensatz auftritt, tritt es als ein Bestimmtes in einem bestimmten Menschen auf, der den an Wirklichkeiten ge- bundenen und entweihten Augen nicht die Anschauung der Rein- heit geben kann. In der Bestimmtheit, in der er erscheint, kann er sich nur auf seinen Ursprung, auf die Quelle, aus welcher jede Gestalt des beschränkten Lebens ihm fließt, berufen. Er muß an das Höhere, an den Vater appellieren, der unven-vandelt in allen Verwandlungen lebt. Weil das Göttliche reines Leben ist, so muß notwendig, wenn von ihm und was von ihm gesprochen wird, nichts Entgegengesetztes in sich enthalten, und alle Ausdrücke der Reflexion über Verhältnisse des Objektiven oder über Tätigkeit gegen objektive Behandlung derselben vermieden werden. Denn die Wirkung des Göttlichen ist nur eine Vereinigung der Geister; nur der Geist faßt und schließt den Geist in sich ein. Ausdrücke wie befehlen, lernen, sehen, erkennen, machen, wollen, (ins Him- melreich) kommen, gehen, drücken nur Beziehungen von Ob- jektivem aus, wenn es Aufnahme eines Objektiven in einen Geist DAS LEBEN JESU 189 ist. Über Göttliches kann darum nur in Begeisterung gesprochen werden. Die jüdische Bildung zeigt uns nur einen Kreis leben- diger Beziehungen zum Bewußtsein gekommen und auch diese in Form von Begriffen als Tugenden und Eigenschaften, welches um so natürlicher ist, da sie hauptsächlich nur Beziehungen zwi- schen fremden, verschiedenen Wesen auszudrücken hatten, als Barmherzigkeit, Güte usw. Unter den Evangelisten spricht Jo- hannes am meisten von dem Göttlichen und der Verbindung Jesu mit ihm. Aber die an geistigen Beziehungen so arme jüdische Bildung nötigte ihn, für das Geistigste sich objektiver Verbin- dungen, einer Wirklichkeitssprache zu bedienen, die darum oft härter lautet als wenn in dem Wechselstil Empfindungen sollten aus- gedrückt werden. Das Himmelreich, in das Himmelreich hinein- gehen, ich bin die Türe, ich bin die rechte Speise, wer mein Fleisch ißt usw., in solchen Verbindungen der dürren Wirklich- keit ist das Geistige hineingezwängt [und nirgends mehr als hier ist es notwendig, mit eignem, tiefem Geist zu fassen, nirgends ist es weniger möglich als hier, zu lernen, passiv etwas in sich auf- zunehmen, da diese objektive Sprache vom Geistigen, aber in ihrer Form von Wirklichkeitsbegriffen verstanden den Geist zerrüttet]. Jesus erklärt und wiederholt es oft, daß das, was er tue, nicht seine Tat, was er rede, nicht seine Gedanken seien, alle seine Kraft und seine Lehre sei ihm vom Vater gegeben. Er kann keine andre Legitimation seiner Bestreitung des Judentums und seiner Lehre aufweisen, als dies feste Bewußtsein, was aus ihm spreche, sei in ihm, aber zugleich etwas Höheres als er, der hier stehe, lehre und spreche. Er nennt sich deswegen nie Gott, aber den Sohn Gottes ; jenes ist er nicht, weil er Mensch ist, aber als Mensch ist auch er zugleich Sohn Gottes, von einem höheren Rang; eine höhere Natur ist zugleich in ihm, als die Befangenheit in Be- schränkungen ; er erwartet Glauben von den Juden nur aus dem Grunde, auf die Art, daß es ihnen von seinem Vater geoffenbart werde, daß sie selbst aus Gott geboren seien. Als Petrus in ihm den Gottgezeugten, den Sohn des Lebens erkannte, sagte er: «Dies hat dir nicht deine Endlichkeit, sondern mein Vater hat es dir geoffenbart. » [Der Zusammenhang des Unendlichen mit dem Endlichen ist freilich ein heiliges Geheimnis, weil er Leben und 190 G.W. F. HEGEL also das Geheimnis des Lebens ist. Spricht man freiHch von zweieriei, von einer göttlichen und menschlichen Natur, so ist keine Verbindung zu treffen, denn auch in jeder Verbindung sollen sie noch zwei bleiben, wenn beide als absolute Verschiedene ge- setzt sind. Dies Verhältnis eines Menschen zu Gott, Sohn Gottes zu sein, wie ein Stamm der Vater der Zweige, des Laubes und der Früchte ist, mußte die Juden am tiefsten empören, die eine un- übersteigbare Kluft zwischen menschliches und göttliches Wesen gesetzt und unserer Natur keinen Teil am Göttlichen eingeräumt hatten. Jesus nennt sich auch Sohn des Menschen. Von dem einigen, ungeteilten oder unendlich gegliederten Lebendigen kann ein Glied sich als einen Teil setzen und von dem andern unterschei- den. Dieses modifizierte Leben ist als reines Leben in dem reinen All des Lebens ; als Modifikation setzt es sich andern entgegen ; der Vater hat Leben in sich selbst und so hat er auch dem Sohn Leben in sich zu haben gegeben, und weil er des Menschen Sohn ist, hat er ihm Macht erteilt, Gericht zu machen. Das Einige ist ohne Macht, denn es ist ihm kein Feindseliges, mit ihm Kämpfen- des entgegen. Aber das Wirkliche, wie der Mensch, kann von feindseligen Kräften angegriffen werden und in einen Streit kom- men; nur er kann auch ein Fremdes, das ihn zwar in Ruhe läßt, aber nicht mit ihm leben und genießen will, das sich abgesondert hat und getrennt steht, gegen sich über haben und im Rechte gegen andere stehen, die ruhigen Grenzen ihrer Trennung stecken und bewahren; nur er kann Gericht halten.] Das Bewußtsein, dem Joche der Wirklichkeiten sich entzogen zu haben und von Gott getrieben zu werden, nennt Jesus den Geist Gottes. Die Gestalt, in der alles Göttliche erscheinen muß, die das Wirkliche bekämpfende Erscheinung Gottes muß eine Form haben. Diese Tätigkeit geht gegen das Beschränkte, aber sie selbst erscheint, obzwar in der freisten, doch in einer Form ; und darum läßt sich in ihrer Erscheinung noch zwischen Gestalt und Wesen unterscheiden. Das Wesen ist das Treibende, Tätige und darum kann Jesus noch von einem Geiste Gottes sprechen ; und wenn im Menschen der Sohn des Menschen, die Individuali- tät, und der Sohn Gottes, als in dem der Geist Gottes wohnt, DAS LEBEN JESU 191 unterschieden wird, so ist die Modifikation, das von Gott nur Be- lebte verwundbar und an sich nicht heilig und wenn die Indivi- dualität beleidigt wird, damit das Göttliche selbst nicht verletzt. Eine Sünde am Menschensohn kann vergeben werden, aber nicht eine wider den heiligen Geist ; über den im Streite begriffenen Individualitäten gibt es ein Höheres ; jene Sünde kann in der Liebe Verzeihung erlangen, diese hat sich an der Liebe selbst versün- digt und allem Rechte, allem Anteil am GöttUchen entsagt. So lange Jesus mit seinen Jüngern war, regierte sie der Glaube an ihn, der Glaube, daß in ihm, einem Menschen, Göttliches ist. Dieser Glaube war noch nicht der heilige Geist, denn obschon sie jenen Glauben nicht haben konnten ohne Selbstgefühl der Göttlichkeit, so waren doch noch dieses Selbstgefühl und ihre Individualität Getrennte. Letztere hing von der Individualität eines andern Menschen ab. Das Göttliche in ihnen und sie selbst waren noch nicht eins. Darum versprach Jesus ihnen nach seiner Entfernung, die ihnen eine fremde Stütze entzog, den heiligen Geist, der über sie werde ausgegossen werden, ihre Abhängigkeit von ihm werde mit seinem Tode aufhören, sie werden in sich selbst den Führer in alle Wahrheit finden und Söhne Gottes sein : inwieweit diese Hoffnung ihres Lehrers in Erfüllung gehen konnte, wird sich weiterhin zeigen. [Das Bewußtsein der Freiheit und die göttliche Harmonie, die Beseelung aller Lebensgestalten durch die Gottheit allein nennt Jesus das Licht und das göttliche Leben der Menschen, ihre Har- monie bei ihrer Mannigfaltigkeit nennt er ein Königreich, eine Herrschaft, denn welche andre Einigkeit konnten Juden fassen als die Einheit durch Herrscher.? Diese Benennung bringt etwas He- terogenes in die göttliche Vereinigung der Menschheit, denn sie zeigt immer noch Getrenntes und Widerstreitiges, das aus der Schönheit und dem göttUchen Leben eines reinen Menschenbundes ganz entfernt sein muß.] Liebe a) Eingeschränkt auf wenige, b) Tätig. Die Christen mit- einander; Aufhebung des Eigentums; Gemeinschaft der Weiber; Essen und Trinken; Beten, nicht Tätigkeit; also nur im Begriffe 192 G.W. F. HEGEL vereinigte Glaubende, Liebende; andre in ihrem Gott nicht le- bendig vereinigt. Schicksal Jesu. Entsagung den Beziehungen des Lebens: a) bür- gerlichen, zivilen; b) politischen; c) Zusammenleben mit andern Menschen; Familie, Verwandte, Ernährung. Das Verhältnis Jesu zu der Welt teils Flucht, teils Reaktion, Be- kämpfung derselben. So lange Jesus die Welt nicht verändert hatte, so weit mußte er sie fliehen. Mit dem Mute und dem Glauben eines gottbegeisterten Mannes, der von den klugen Leuten ein Schwärmer genannt wird, trat Jesus unter dem jüdischen Volke auf. Er trat nur in eignem Geiste auf; die Welt lag vor ihm, wie sie werden sollte, und das erste Verhältnis, in das er sich selbst zu ihr setzte, war, sie zum Anders- werden aufzurufen. Er fing damit an, allen zuzurufen: Ändert euch, denn das Reich Gottes ist nahe. Hätte in den Juden der Funke des Lebens geschlafen, da hätte er eines Hauchs bedurft, um zur Flamme aufzulodern, die alle ihre armseligen Titel und Ansprüche verbrannt hätte. Hätte das Bedürfnis nach etwas Rei- nerem bei ihrer Unruhe und Unzufriedenheit mit der Wirklichkeit in ihnen gelegen, so hätte der Zuruf des Jesus Glauben gefunden, und dieser Glaube hätte das Geglaubte in demselben Augenblick ins Dasein gebracht. Mit ihrem Glauben wäre das Reich Gottes vor- handen gewesen. Jesus hätte ihnen eigentlich nur ausgesprochen, was unentwickelt und unbewußt in ihrem Herzen lag; und mit dem Finden des Worts, mit dem Insbewußtseinkommen des Be- dürfnisses wären die Bande abgefallen, vom alten Schicksal hätten sich nur noch Zuckungen des erstorbenen Lebens geregt und das Neue wäre da gestanden. So aber wollten die Juden zwar etwas anderes als das Bisherige, aber sie gefielen sich zu sehr in dem Stolze ihrer Knechtschaft, um das, was sie suchten, in dem zu finden, was Jesus ihnen anbot. Ihre Gegenwirkung, die Antwort, die ihr Genius auf den Anruf des Jesus gab, war eine sehr unreine Aufmerksamkeit. Einige wenige reine Seelen schlössen sich mit dem Triebe, gebildet zu werden, an ihn an. Mit großer Gutmütig- keit, mit dem Glauben eines reinen Schwärmers nahm er ihr Ver- langen für befriedigtes Gemüt, ihren Trieb für Vollendung, ihre Entsagung einiger bisherigen Verhältnisse, die meist nicht glän- DAS LEBEN JESU 193 zend waren, für Freiheit und geheiltes oder besiegtes Schicksal; denn bald nach seiner Bekanntschaft mit ihnen hielt er sie für fähig und sein Volk für reif, einer ausgebreiteteren Ankündigung des Reichs Gottes zu folgen. Er schickte seine Schüler paarweise im Land umher, um seinen Ruf vervielfältigt erschallen zu lassen. Aber der göttliche Geist sprach nicht in ihrer Predigt; nach viel längerem Umgang lassen sie noch sehr häufig eine kleine, wenig- stens ungereinigte Seele blicken, von der wenige Äste nur das Göttliche durchdrungen hatten. Ihre ganze Instruktion, außer dem Negativen, das sie enthält, war, die Nähe des Reiches Gottes zu verkündigen. Sie sammeln sich bald wieder zu Jesu und man erblickt keineWirkung der Hoffnung Jesu und ihres Apostolisierens. Die Gleichgültigkeit der Aufnahme seines Aufrufs verwandelte sich bald in Haß gegen ihn, dessen Wirkung auf ihn eine immer steigende Erbitterung gegen sein Zeitalter und sein Volk war, vor- züglich gegen die, in welchen der Geist seiner Nation am stärksten und leidenschaftlichsten wohnte, gegen die Pharisäer und die Führer des Volks. Sein Ton ist kein Versuch, sich mit ihnen zu versöhnen, ihrem Geiste etwas anzuhaben, sondern der heftigste Ausbruch seiner Erbitterung gegen sie, die Enthüllung ihres ihm feindseligen Geistes. Er handelt gegen diesen nicht einmal mit dem Glauben der Möglichkeit einer Linderung. Wenn ihr ganzer Charakter ihm widerstand, so konnte er bei Veranlassungen, über religiöse Gegenstände mit ihnen zu sprechen, nicht auf eine Wi- derlegung und Belehrung ausgehen. Er bringt sie nur durch ar- gumenta ad hominem zum Schweigen ; das ihnen entgegengesetzte Wahre richtet er an die andern gegenwärtigen Menschen. Mir scheint, nach der Rückkehr seiner Jünger zu ihm (Matth. XII) entsaojte er seinem Volke und hat gefühlt, daß Gott sich nur dem einfachen Menschen offenbare, und er beschränkt sich jetzt auf Wirksamkeit auf einzelne und läßt das Schicksal seiner Nation unangetastet stehen, indem er sich selbst von ihm absondert. Weil alles, auch die schönsten Formen des Lebens befleckt waren, so konnte sich Jesus mit keiner einlassen. In seinem Reiche Gottes konnte es keine Beziehung geben, als die aus der Schönheit und Freiheit selbst hervorginge. Die Verhältnisse des Lebens waren unter seinem Volke unter der Sklaverei der Gesetze und Hegel, Das Leben Jesu 13 194 G.W. F. HEGEL des selbstsüchtigen Geistes. Er scheint von seinem Judengeschlecht keine allgemeine Wegwerfung seines Joches erwartet zu haben, und darum sah er einen Kampf des Heiligen mit dem Unheiligen voraus, vor dessen ganzer Gräßlichkeit er sich fürchtete. «Ich kam nicht, sagt er, um der Erde Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Ich kam, den Sohn gegen seinen Vater zu entzweien.» Zustand der jüdischen Religion. Das jüdische Volk, das schlechterdings alle es umgebenden Völker verabscheute und verachtete, wollte für sich hocherhaben, allein in seiner Art, seinen Sitten, seinem Dünkel beharren. Jede Gleichstellung mit andern war ihm eine greuelhafte Abscheulichkeit und doch stand es durch die Lage seines kleinen Landes, durch Han- delsverbindungen, durch die Vereinigung der Völker, welche die Römer stifteten, in mannigfaltigen Beziehungen mit andern. Dem Drange der Völker, sich zu vereinigen, mußte die jüdische Sucht, sich zu isolieren, unterliegen und nach Kämpfen, die um so ent- setzlicher waren, je eigner dies Volk war, waren sie auch unter- legen, und durch die Unterwerfung des Staats unter eine fremde Gewalt tief gekränkt und erbittert worden. Um so hartnäckiger hielt dies Volk fernerhin auf seine statutarischen Gebote der Re- ligion. Es leitete seine Gesetze unmittelbar von einem ausschließ- lichen Gott ab. In seiner Religion war die Ausübung einer un- zähligen Menge sinn- und bedeutungsloser Handlungen w^esent- lich und sein pedantischer, sklavischer Geist hatte noch den gleichgültigsten Handlungen des täglichen Lebens eine Regel vor- geschrieben und der ganzen Nation das Ansehen eines Mönchs- ordens gegeben. Der Dienst Gottes und der Tugend war ein zwangvolles Leben in toten Formularen. Dem Geist blieb nichts als der hartnäckige Stolz auf diesen Gehorsam der Sklaven gegen jene nicht selbstgegebenen Gesetze übrig. Dieser Zustand der jüdischen Religion mußte in Menschen von besserem Kopf und Herzen, die ihr Selbstgefühl nicht zu toten Maschinen und zugleich zur Wut des Knechtsinns herunterbeugen konnten, das Bedürfnis einer freiem Tätigkeit und reinern Selb- ständigkeit, als mit mönchischer Geschäftigkeit eines geist- und DAS LEBEN JESU 195 wesenlosen Mechanismus kleinlicher Gebräuche ein Dasein ohne Selbstbewußtsein zu leben, das Bedürfnis eines edlern Genusses, als in diesem Sklavenhandwerk sich groß zu dünken und für das- selbe zu rasen, erwecken. Die Natur empörte sich gegen diesen Zustand und trieb die mannigfaltigsten Reaktionen hervor: die Ent- stehung vieler Räuberbanden, vieler Messiasse, das strenger und mönchischer gemachte Judentum der Pharisäer, die Verbindung von Freiheit und Politik mit demselben in dem Sadduzäismus, das brüderliche, von den Leidenschaften und Sorgen ihres Volks fer- ne Eremitenleben der Essener, die Aufhellung des Judentums durch schönere Blüte der tiefern menschlichen Natur im Plato- nismus, endhch das Erheben und offene Predigen des Johannes an alles Volk, und zuletzt die Erscheinung des Jesus, der das Übel seines Volks an der Wurzel angriif, nämlich an seiner hochmü- tigen und feindseligen Aussonderung von allen Nationen, es also zum Gotte aller Menschen, zu allgemeiner Menschenliebe, zur Entsagung lieb- und geistlosen Mechanismus, ihres Gottesdienstes führen wollte, dessen neue Lehre eben deswegen mehr noch zur Religion der Welt als seines Volkes wurde, — ein Beweis, wie tief er die Bedürfnisse seines Zeitalters aufgegriffen hatte und wie die Juden in rettungsloser Abwesenheit des Guten und Wut der Geistesknechtschaft versunken waren. Wie die Bildung des Jesus gereift ist, über diese interessante Frage sind keine Nachrichten auf uns gekommen. In seinem männlichen Alter erst tritt er auf, frei von der eingeschränkten Trägheit, die an die gemeinen Bedürfnisse und Bequemlichkeiten des Lebens ihre einzige Tätigkeit verwendet, wie von Ehrgeiz und andern Leidenschaften, deren Befriedigung ihn genötigt haben würde, in den Vertrag der Vorurteile und der Laster einzutreten. Seine ganze Manier hat das Ansehen, daß er zwar unter seinem Volk erzogen, aber fern von ihm, und wohl länger als vierzig Tage, von dem Enthusiasmus des Reformators beseelt wurde. Zugleich aber trägt seine Art zu handeln und zu sprechen keine Spuren irgend einer damals vorhandenen Bildung, eines andern Volkes oder Religion an sich. Er tritt auf einmal jugendlich, mit aller freudigen Hoffnung und zweifellosen Zuversicht des Erfolges auf. Der Widerstand, der ihm von den eingewurzelten Vorur- 13* 196 G.W. F. HEGEL teilen seines Volkes kommt, scheint ihm unerwartet. Den er- töteten Geist freier Religiosität, die hartnäckige Raserei des Knecht- sinns seiner Nation schien er vergessen zu haben. [Er unternahm es, Religion und Tugend zur Moralität zu er- heben und die Freiheit derselben, worin ihr Wesen besteht, wieder- herzustellen; denn so wie jede Nation eine hergebrachte National- tracht, eine eigne Manier zu essen und zu trinken und in ihrer übrigen Lebensart eigne Gewohnheiten hat, so war Moralität von der ihr eigentümlichen Freiheit zu einem System solcher Ge- bräuche herabgesunken. Er rief die moralischen Prinzipien, die in den heiligen Büchern seines Volkes lagen, demselben ins Ge- dächtnis zurück. Die höchsten Grundsätze der MoraHtät fand Jesus vor und stellte keinen neuen auf; (Matth. XXII, 37 cf. Deut. VI, 5 ; Matth. V, 43 cf Lev. XIX, 18 ; Matth. V, 48 cf. Lev. XI, 44: Seid heilig wie ich, und XVIII, 5 ; Matth. VII, 1 2 hat einen zu weiten Umfang und ist auch für den Lasterhaften als Maxime der Klugheit zu gebrauchen, als daß es einen moralischen Grundsatz abgeben könnte); und wirklich wäre es sonderbar gewesen, wenn eine Reli- gion wie die jüdische, die die Gottheit zu ihrem politischen Gesetz- geber machte, nicht auch rein moralische Prinzipien enthalten hätte.] Fasten, Matth. IX, 14; menschliches Leben und Liebe darüber erhaben ; Fasten muß von der Stimmung des Gemüts zu Freude oder Leid abhängen ; 16 — 17, Unverträglichkeit des Alten mit dem Neuen ; Gefahr, die der Selbstbestimmung der Moralität durch das Positive droht. Matth. XII, I — 8, Entheiligung des Sabbats; entgegengesetzt das Beispiel ihrer Priester (die Nichtnotwendigkeit) und die Ge- setzgebung des Menschen; 11 — 12, Vorzug des Bedürfnisses des Menschen; XV, 2, Händewaschen vor dem Brotessen; den Phari- säern entgegengesetzt das Übertreten des Gebots durch die Phari- säer selbst, durch ihre objektiven Gebote; 11 — 20, dem übrigen Volke die Gesinnung, die Subjektivität des Menschen, nichts Ob- jektives rein, keine gegebene Reinheit. XVII, 25, Steuer; der König nimmt sie nur von Fremden; so sind die Söhne frei; daß sie sich aber nicht ärgern (axovoa/.iCH'.v). XIX, I, die Liebe, die Gesinnung über das Gesetz, in Ansehung der Ehe. DAS LEBEN JESU 197 Moralität erhält, sichert nur die Möglichkeit der Liebe und ist daher ihrer Handlungsart nach nur negativ. Ihr Prinzip ist die Allgemeinheit, d. h. alle als seinesgleichen, als gleiche zu behan- deln; die Bedingung der Liebe, das Vermögen des Allgemeinen ist die Vernunft. Ein durchaus nur moralischer Mensch ist ein Geiziger, der sich immer Mittel zusammenscharrt und bewahrt, ohne je zu genießen. Die moralische Handlung ist immer eine beschränkte, weil sie eine Handlung ist und die Gesinnung ist einseitig und unvollständig, weil sie der Handlung entgegengesetzt ist. Bei Moralität ohne Liebe ist zwar in der Allgemeinheit die Entgegensetzung gegen einzelne Objekte aufgehoben, — eine Synthese Objektiver; aber das Einzelne ist als ein ausgeschlossenes Entgegengesetztes vorhanden. Immoralität hebt die Möglichkeit der Liebe auf durch Mißhand- lung Lebendiger. Rückkehr zur Moralität durch die Rückwirkung des Gesetzes, durch Schicksal und Strafe, ist Furcht vor dem Ob- jekt, vor dem, was man mißhandelt hat. Rückkehr zur Legalität, d. h. zur objektiven Regel, zur Moralität nur durch die Liebe, deren Bedürfnis für sich gefühlt, ihre Befriedigung durch Immo- ralität sich unmögHch gemacht hat und das Lebendige achtet. Das Gesetz als Herrschendes durch Tugend aufgehoben; die Beschränkung der Tugend durch Liebe; aber Liebe ist Empfin- dung, mit ihr die Reflexion nicht vereinigt. Die Gottheit; so unendlich das Objekt, so unendlich die Passi- vität; durch Moralität und Liebe diese vermindert, aber nicht zur vollendeten Selbständigkeit gebracht; diese Passivität besteht durch Streit gegen das Objektive, und auf diese Art keine Religion möglich; das Objekt nicht verneinen, sondern versöhnen. Liebe die Blüte des Lebens; Reich Gottes der ganze Baum mit allen Modifikationen, Stufen der Entwickelung. Die Modifikatio- nen sind AusschUeßungen, aber nicht Entgegensetzungen; d. h. es gibt keine Gesetze, das Gedachte ist dem Wirklichen gleich ; es gibt kein Allgemeines, keine Beziehung ist objektiv, zur Regel ge- worden. Alle Beziehungen sind lebendig aus der Entwicklung des Lebens hervorgegangen; kein Objekt an ein Objekt gebunden, nichts ist fest geworden. Keine Freiheit der Entgegensetzungen, kein freies Ich, kein freies Du. Aus der Entgegensetzung durch 198 G.W. F. HEGEL Freiheit entspringen Rechte. Freiheit ohne Entgegensetzung ist nur eine MögUchkeit. Die Menschen sind so, wie sie sein sollen; das Seinsollen muß freilich dann ein unendliches Streben sein, wenn das Objekt schlechthin nicht zu überwinden ist, wenn Sinn- Uchkeit und Vernunft, oder Freiheit und Natur, oder Subjekt und Objekt, so schlechterdings entgegengesetzt sind, daß sie absolut sind; durch die Synthese: kein Objekt, kein Subjekt, oder kein Ich, kein Nicht-Ich, wird ihre Eigenschaft als Absolute nicht auf- gehoben. Gesetz ist eine Beziehung der Objekte aufeinander; im Reich Gottes kann es keine Beziehung geben, weil es keine Ob- jekte füreinander gibt. Eine gedachte Beziehung ist fest und blei- bend, ohne Geist, ein Joch, eine Zusammenkettung, eine Herr- schaft und Knechtschaft. Tätigkeit und Leiden; Bestimmen und Bestimmtwerden. Matth. IV, 17 Msxavoshc • rjf'./.sv -jap r^ pco'.Xii'a tiöv oöpavüjv. Dies ist der erste Aufruf und Versicherung, das Himmelreich sei da. Matth. V, i7.z>.r,pu)3a!. ergänzen, vollständig machen durch die Gesinnung, durch Hinzufügung des Innern zum Äußern — V, 20; Rechtschaffenheit seiner Anhänger müsse mehr sein, als die der Pharisäer und Gesetzverständigen; es müsse außer dieser auch noch das hinzukommen, daß das Gesetz, dem sie folgen, ihr eig- nes sei — V, 21, 23 ; zu dem objektiven Verbot des Mordes wird die Mißbilligung des Zorns über seinen Bruder gefügt, zum Ver- söhnopfer wirkliche Versöhnung usw. — V, 33; dem Gebot, daß nicht falsch geschworen werden soll, dem Herrn der Eid gehalten werden soll — gar nicht schwören, nicht bei etwas Fremdem, nicht beim Himmel, denn er ist nur der Thron Gottes usw., nicht bei unserm Haar, das nicht ganz in unserer Gewalt ist, bei nichts Fremdem also überhaupt, an diesem nicht hängen, sondern wir selbst sein. Ein anderer Maßstab entgegengesetzt, die Gesinnung, und nach diesem leidenschaftliche Handlungen, die in dem Be- stehen des andern nichts ändern, ebenso verurteilt als die Stö- rung eines für sich bestehenden Lebens, und zum Prinzip Ver- söhnlichkeit, d. h. die Geneigtheit, die Trennung aufzuheben, an- gegeben. Aber wenn der Mensch nun eins mit sich selbst ist, jede Ab- hängigkeit, jeden Bund mit den Objekten verschmäht, so muß er DAS LEBEN JESU 199 doch mit der Not einen Bund machen; VI, 25 ff. : «Seid unbeküm- mert über die Not.» Mit der eignen Knechtschaft hört auch die Herrschaft, die man durch die Idee der morahschen Gebote über andre ausübt, auf; VII, I ff., eigne Freiheit gesteht andern gleichfalls Freiheit zu. Sittenrichterei erkennt nichts für sich Bestehendes, nur alles unter einem Gesetz, unter einer Herrschaft stehend, nicht das Wesen und das Gesetz eins, in einer Natur. «Das Prinzip eures Ver- hältnisses gegen andre ist, ihre Freiheit zu ehren, und was ihr also von ihnen wollet, nur darum zu bitten.» Jesum charakterisiert als den Stifter einer neuen Religion unter einem verdorbenen Volke die Entsagung den Bequemlichkeiten des Lebens und die gleiche Forderung desselben an seine Gehülfen, auch das Entreißen sonstigen Verhältnissen und heiligen Bezie- hungen des Lebens. Antwort, die er seinem Anhängergab, der seinen Vater begraben wollte, (Matth. VIII, 22). Matth. VIII, 10; die erste Äußerung über Kälte bei den Juden und ihre Verwerfung. IX, 15; Fasten nicht zu einem Zwecke, sondern nach den Umständen. IX, 36 — 38, X, I ff. ; Schicken der Apostel ins Land. Mark. VI, 7; Jesus schickt sie fort; VI, 30 sammeln sie sich wieder zu ihm. Luk. IX, 6 und IX, 10 zurück. Nicht die Menschen zu versöhnen und das Menschengeschlecht zu Freunden zu machen; die Allgemeinheit seiner Reformation aufgegeben. Matth. X, 21: «Ein Bruder wird den Bruder, der Vater das Kind zum Tode geben, Kinder die Eltern.» id. 34: «Ich kam nicht, um Frieden auf die Erde zu werfen, sondern das Schwert. Ich kam, den Mann gegen seinen Vater, die Tochter gegen die Mutter, die Braut gegen die Schwieger zu entzweien. Die Hausgenossen werden die Feinde des Mannes sein. Wer Vater oder Mutter, Sohn oder Tochter mehr liebt, als mich, ist meiner nicht würdig.» Gräßliches Zer- reißen aller Bande der Natur, Zerstörung aller Natur. Steigende Erbitterung gegen seine Zeit, Matth. XI, 12 ff. — id. 25: «Du hast dies den Verständigen und Klugen verborgen und den Einfältigen geoffenbart ; so war dein Belieben. » — XII, 8 ff. ; 200 G.W. F. HEGEL der Mensch höher als der Sabbat — id. i6; er verbot den Ge- heilten, dies auszusagen — id. 3 1 ; Sünde gegen den Menschen- sohn wohl vergeben, aber nicht die Sünde gegen den heiligen Geist — id. 48: «Wer ist meine Mutter und mein Bruder.'' Diese», indem er sich zu seinen Anhängern wendete — XIII, 54 — 5 5 : «Ist dieser nicht der Sohn des Zimmermanns?» Unglaube an Menschen- natur, Verachtung aller menschlichen Verhältnisse. Daher seine Entfernung von denselben, weil sie nicht geheiligt waren. — V, 57; ein Prophet gilt in seinem Vaterlande nichts; dazu oben X, 36 ; Reinheit durch alles verunreinigt, nicht wiederherzustellen. Es kann dem Schicksal nicht entgangen werden. Wenn die Schön- heit aus allem entflohen ist, so gab er alles auf, um sie allein zu- erst wiederherzustellen. Mark. XVI, 17. Zeichen, die die Gläubigen begleiten werden; übernatürliche Kräfte. Was die Natur vermochte, war vorhanden, war da als Erscheinung, als Tat; es war geschehen; alle Seiten der menschlichen Natur waren Sitte, Gewohnheit, Lebensweise der Völker, objektiv geworden ; Taten, die als Taten göttlich sein sollten, mußten übernatürlich sein. Göttlich ist aber nichts, was geschieht, sondern was ist; etwas Göttliches, was geschieht, ist größer, als was andere tun, und wäre also nur relativ. Die Tat an sich ist der Zusammenhang der aufeinander folgenden Objek- tiven ; so viel in dem einen Objekt Leiden, so viel in dem andern Tätigkeit, und jedes Objekt ist ein Allgemeines eben darum, weil es unter einem Gesetz steht. Jesus fing seine Predigt damit an, zu verkündigen, das Reich Gottes sei da. Die Juden erwarteten die Wiederkehr der Theo- kratie. Sie sollten es glauben, und das Reich Gottes kann im Glauben da sein. Was aber im Glauben vorhanden ist, ist der Wirklichkeit und dem Begriff von ihr entgegengesetzt ; das All- gemeine drückt ein Soll aus, weil es ein Gedachtes ist, weil es nicht ist, aus dem gleichen Grunde, warum Dasein nicht bewiesen werden kann. Das Reich Gottes ist der Zustand, wenn die Gottheit herrscht, also alle Bestimmungen, alle Rechte aufgehoben sind. Diese Ver- hältnisse zu Vater, Familie, Eigentum konnten nicht zu schönen Verhältnissen werden ; also sollten sie gar nicht da sein, damit DAS LEBEN JESU 201 wenigstens nicht das Gegenteil da wäre. Daher zumjünghng: «Verkaufe das Deinige; es ist schwer, daß ein Reicher ins Reich Gottes eingehe.» Daher Entsagung allen Besitzungen und aller Ehre, entweder durch einen Sprung oder durch sukzessive Auf- hebung der einzelnen Bestimmungen, durch Auflösung. Jenes, die Begeisterung, versuchte Jesus; er versicherte, das Reich Gottes sei da ; er sprach das Dasein einer Sache aus. Nach dem Tode Christi sagten zwei seiner Anhänger (Luk. XXIV, 21): «Wir hoff- ten, er sei der, der Jerusalem befreien werde.» Die Juden erwar- teten mit dem Reich Gottes, daß vieles geschähe, daß sie von der Herrschaft der Römer befreit würden, ihr Priestertum in seinem alten Glanz wiederhergestellt würde usw., das heißt, daß außer ihnen viele Veränderungen vorgingen. Solche Juden konnten nicht glauben, das Reich Gottes sei da, wenn Jesus es ihnen ver- kündigte. Die aber in sich selbst beruhten, vollendet waren, konn- ten es glauben, nicht als Isolierte, denn Gott ist in nichts Isolier- tem, sondern in lebendiger Gemeinschaft. Glaube an die Mensch- heit ist Glaube ans Reich Gottes ; Glaube ist das Individuelle gegen das Lebendige; nicht die Gesetze Gottes herrschen, denn Gott und seine Gesetze sind nicht zweierlei; Leben und Rückkehr zum Leben, aber keine Regel darüber (Luk. XV, 32). Am interessantesten wird es sein, zu sehen, wie sich Jesus und was er unmittelbar dem Prinzip des Beherrschtwerdens und dem unendlichen Herrscher der Juden entgegenstellt. Hier, im Mittel- punkt ihres Geistes, mußte der Kampf am hartnäckigsten sein; denn hier wurde alles in einem angegriffen. Der Angriff auf die einzelnen Zweige des Judengeistes trifft zwar auch das Prinzip, aber es ist noch nicht im Bewußtsein, daß dieses angegriffen ist. Erst wenn immer mehr gefühlt wird, daß dem Streit um Einzel- nes ein Widerstreit der Prinzipien selbst zugrunde liegt, dann tritt Erbitterung ein. Zwischen den Juden und Jesu kam bald seine Entgegensetzung gegen ihr Höchstes zur Sprache. Der Idee der Juden von Gott als ihrem Herrn und Gebieter über sie setzt Jesus das Verhältnis Gottes zu den Menschen als eines Vaters gegen seine Kinder entgegen. Moralität hebt die Beherrschung in den Kreisen des zum Be- wußtsein Gekommenen, Liebe die Schranken der Kreise der Mo- 202 G.W. F. HEGEL ralität auf. Aber die Liebe selbst ist noch unvollständiger Natur. In der glücklichen Liebe ist kein Raum für Objektivität; aber jede Reflexion hebt die Liebe auf, stellt die Objektivität wieder her und mit ihr beginnt wieder das Gebiet der Beschränkungen. Re- flexion und Liebe vereint, beide verbunden gedacht, Religiöses ist also das xXrjpwjia der Liebe. Die Anschauung der Liebe scheint die Forderung der Vollständigkeit zu erfüllen, aber es ist ein Widerspruch: das Anschauende, Vorstellende ist ein Beschränken- des und nur Beschränktes Aufnehmendes, das Objekt aber wäre ein Endliches ; das Unendliche kann nicht in diesem Gefäße ge- tragen werden. Wenn Jesus so sprach: «Der Vater ist in mir, ich im Vater; wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen; wer den Vater kennt, der weiß, daß meine Rede Wahrheit ist; ich und der Vater sind eins,» so klagten ihn die Juden der Gotteslästerung an, daß er, der ein Mensch geboren sei, sich zum Gotte mache; wie hätten sie an einem Menschen etwas Göttliches erkennen sollen, sie, die Armen, die in sich nur das Bewußtsein ihrer Erbärmlichkeit und ihrer tiefen Knechtschaft, ihrer Entgegensetzung gegen das Gött- liche, das Bewußtsein einer unübersteigbaren Kluft zwischen menschlichem und göttHchem Sein trugen? Nur der Geist erkennt den Geist. Sie sahen in Jesu nur den Menschen, den Nazarener, den Zimmermannssohn, dessen Brüder und Verwandte unter ihnen lebten. So viel war er; mehr konnte er ja auch nicht sein; er war nur einer, wie sie, und sie selbst fühlten, daß sie nichts waren. Am Haufen der Juden mußte sein Versuch scheitern, ihnen das Bewußtsein von etwas Göttlichem zu geben. Denn der Glaube an etwas Göttliches, an etwas Großes kann nicht im Kote wohnen. Der Löwe hat nicht Raum in einer Nuß, der unendliche Geist nicht Raum in dem Kerker einer Judenseele, das All des Lebens nicht in einem dürrenden Blatt. Der Berg und das Auge, das ihn sieht, sind Subjekt und Objekt, aber zwischen Mensch und Gott, zwischen Geist und Geist ist diese Kluft der Objektivität nicht; einer ist dem andern ein andrer nur darin, daß er ihn erkennt. Ein Zweig der objektiven Annahme des Verhältnisses des Sohnes zum Vater, oder vielmehr die Form derselben in Rücksicht des Willens ist in dem Zusammenhang, der bei Jesu zwischen der ge- DAS LEBEN JESU 203 trennten menschlichen und göttUchen Natur gedacht und verehrt wird, auch für sich selbst einen Zusammenhang mit Gott zu finden, eine Liebe zwischen ganz Ungleichem, eine Liebe Gottes zu dem Menschen zu hoffen, die höchstens ein Mitleid sein könnte. Das Verhältnis Jesu als Sohnes zum Vater ist ein kindliches Verhältnis, denn der Sohn fühlt sich im Wesen, im Geiste eins mit dem Vater, der in ihm lebt, und hat keine Ähnlichkeit mit dem kindischen Verhältnis, in welches sich der Mensch mit dem reichen Ober- herrscher der Welt setzen möchte, mit dem er nur durch die geschenkten Dinge, durch die Brocken, die von des Reichen Tisch fallen, zusammenhängt. Christus hatte zwölf Apostel. Die Zahl zwölf war eine fest blei- bende Zahl. Der Jünger mehr, aber die Apostel waren die, die seines vertrauten Umgangs genossen, die sich aller andern Ver- hältnisse entschlagen hatten und nur seinen Umgang, seinen Un- terricht genossen, ihm so viel als möglich in allem ähnlich zu werden sich bestrebten, sich durch die Länge der Zeit, des Unter- richts und seines lebendigen Beispiels, seines Geistes sich zu be- mächtigen suchten. Und wie eingeschränkt jüdisch, wie ganz irdisch anfangs ihre Erwartungen, Hoffnungen, Ideen waren, und wie lange sie ihren Blick und ihr Herz von einem jüdischen Mes- sias und Stifter eines Reiches, wo General- und Marschallstellen zu vergeben sein würden, und von dem Eigennutz, der zuerst an sich denkt, nicht erheben, nicht erweitern konnten zu dem bloßen Ehrgeiz, ein Mitbürger des Reiches Gottes zu werden ! Es genügte dem Christus nicht. Jünger zu haben, wie Nathanael, Joseph von Arimathia, Nikodemus und dergleichen, d. h. mit Männern von Geist und vortrefflichem Herzen Gedankenkorrespondenzen ge- habt zu haben, etwa einige neuen Ideen, einige Funken in ihre Seele geworfen zu haben, die, wenn das Zeug, wo sie hinfallen, nicht gut ist, selbst Brennstoff enthält, ohnedem verloren sind. Solche Männer, teils glückUch und zufrieden lebend im Schöße ihrer Familie und nützlich tätig in ihrem Wirkungskreise, teils bekannt mit der Welt und ihren Vorurteilen, daher tolerant gegen sie, obzwar streng gegen sich, wären für die Anforderung, eine 204 G.W. F. HEGEL Art von Abenteurern zu werden, nicht empfänglich gewesen — Christus sagt: «Das Reich Gottes zeigt sich nicht mit äußerlichen Geberden.» Es scheint also, seine Schüler haben ihn bei dem Be- fehl: «Gehet hin in alle Welt usw. und taufet sie» insoweit miß- verstanden, daß sie diese Taufe, ein äußeres Zeichen, für allgemein notwendig hielten, welches um so schädlicher ist, da Unterschei- dung durch äußere Zeichen Sektiererei, Entfernung von andern nach sich zieht, überhaupt der Unterschied durch das Moralische dadurch, daß ihm noch ein anderer Unterschied zugegeben wird, geschwächt, gleichsam schon von seiner Bedeutung verliert. Chri- stus sagt: «Wer da glaubt» ; es heißt aber nicht gerade: «Wer an mich glaubt». Es sei nun darunter zu verstehen oder nicht, so nahmen es die Apostel einmal so und das Schiboleth ihrer Freunde, der Bürger ihres Reiches Gottes war nicht: Tugend, Rechtschaffen- heit, sondern: Christus, Taufe usw. Wäre ihnen Christus nicht ein so guter Mann gewesen — (s. Nathan). ^^) Sokrates hatte Schüler von allerlei An, oder vielmehr er hatte keine; er war nur Lehrer und Meister, wie es jeder durch sein Beispiel der Rechtschaffenheit und durch vorzügliche Vernunft sich auszeichnende Mann für jeden ist, wenn man ihn schon nicht vom Katheder oder von einem Berg herunter predigen hört. Wie hätte es überhaupt einem Sokrates in Griechenland einfallen sol- len, zu predigen? Er ging darauf aus, die Menschen zu belehren, über das, was ihr höchstes Interesse erwecken soll, aufzuklären und dafür zu beleben. Er ließ sich für seine Weisheit nicht bezahlen; er jagte ihr zuliebe sein unfreundliches Weib nicht aus dem Hause, daß er nichts mit ihr hätte zu schaffen haben wollen, sondern blieb ohne Widerwillen, seiner Weisheit unbeschadet, in den Verhält- nissen als Mann, als Vater. ANMERKUNGEN des Herausgebers ^ S. 28. Vgl. Iphig. auf Tauris V, 3: Es hört sie jeder, Geboren unter jedem Himmel, dem Des Lebens Quelle durch den Busen rein Und ungehindert fließt. ^ S. 72. «Memorabilien, eine philosophisch -theologische Zeit- schrift der Geschichte und Philosophie der Religionen, dem Bibelstudium und der morgenländischen Literatur gewidmet», herausgegeben von H. E. G. Paulus, Bd. I, erstes, zweites und drittes Stück, Leipzig, 1791 ; Bd. II, viertes, fünftes und sechstes Stück, 1793 ; Bd. III, siebentes und achtes Stück, 1795. Vgl.: H. E. G. Paulus und seine Zeit, von K. A. Freiherrn von Reich- lin-Meldegg, Stuttgart 1853, 2. Bd., erster Band S. 184 — 189. Der betreffende Aufsatz (von Paulus selbst) führt den Titel: Antiquarisches Problem über das Annageln der Füße bei Ge- kreuzigten (4. Stück, S. 36 — 65). ^ S. 83. Hier ist im Manuskript ein Blättchen eingefügt, welches folgende Auszüge aus der Ilias enthält: Fatum. IL B. 830—834. Töv ■^px' 'AdpTjoTÖs TS xal 'Aiicpios XtvoO-cöpYj^, ufs 80(1) Msponog Ilepxcoaioü, og nspl uävxwv ■qb&e liavToauvag, ou8h oug TiaiSos laaxsv azslyzi^ ic, uöXsiiov cp^-toT^vopa • X(b Ss ol oöxi netO-daö-irjv • Kfipsq yäp S.yo'v (xsXavos d'aväxoto. B. 858—860. Muawv öe Xpöiitg -^pxs xal 'Ewonog olcüvioxi^s' dXX' oüx olcovolatv ipüaaaxo K^pa [isXaivav, dXX' sSajirj ut:ö x^P^^ t^oScüxsoi; AlaxtSao. C. loi— 102. 'Huscüv S'ÖTiTtoxdptp O-avaxog xac [lolpa xexuxxat, xsö-vaiT). C. 165 — 166. Ouxi |Jioi alxtT) iaai, 9-sod vü |jLOt ai'xio! siaiv, ol p.01 icpojpiATjaav toXeiiov noXüSaxpuv 'AxaiMv. 2o6 ANMERKUNGEN C. 308 — 309. Zsü; [iiv Tzou t6 yz ol5& xai äO-ävotTO'. d'Eoi äXXot, ÖTCrtoxiptp S-avctToto teXo; TzenpwiJiivov eaxiv. D. 406 — 409. Utielg xal 9T,ßrj? I5o?; EÜXojiev kTiza.Tii}Xoio, :iaupdT£pov Xaöv äyaY'^''^' ^^^ "^sly^^S "Apsiov, Ttsid-d^ievo'. -cepäeoai ^smv xai Zyjvö? dpcüy^- xelvGi Se acpeTdpTjoiv dTaaS-aXiijotv SXovto. E. 62 — 64. °0j xai 'AXe^ivSpü) Texnr^vaTO vf^a; itoog dpxexäxoug, a? :iao'. xaxöv Tpusooi y^^o^'^°) ot x'auTcp, ijiei oüv. O-eöv Ix 0-sacpaxa ^5yj. S. 92. Vgl. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 1793, viertes Stück, zweiter Teil, § 3 «Von einem tungusischen Schaman, bis zu dem Kirche und Staat zugleich regierenden europäischen Prälaten, oder (wollen wir statt der Häupter und Anführer nur auf die Glaubensanhänger nach ihrer eignen Vorstellungsart sehen), zwischen dem ganz sinnlichen Mogulitzen [Ausgabe 1794: Wogulitzen], der die Tatze von einem Bärenfell sich des Morgens auf sein Haupt legt, mit dem kurzen Gebet: «Schlag mich nicht tot!» bis zum sublimierten Puritaner und Independenten in Konnecticut ist zwar ein mächtiger Abstand in der Manier, aber nicht im Prinzip zu glauben ; denn, was dieses betrifft, so gehören sie insgesamt zu einer und derselben Klasse, derer nämlich, die in dem, was an sich keinen bessern Menschen ausmacht (im Glauben statutarischer Sätze, oder Begehen gewisser willkür- licher Observanzen) ihren Gottesdienst setzen.» S. 94. Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, i. Teil, I. Buch, drittes Hauptstück: «Es ist sehr schön, aus Liebe zu Menschen und teilnehmendem Wohlwollen ihnen Gutes zu tun, aber das ist noch nicht die echte moralische Maxime unseres Verhaltens, die unserm Standpunkte, unter vernünf- tigen Wesen, als Menschen angemessen ist, wenn wir uns an- maßen, gleichsam als Volontäre, uns mit stolzer Einbildung über den Gedanken von Pflicht wegzusetzen, und, als vom Gebote unabhängig, bloß aus eigener Lust das tun zu wollen, wozu für uns kein Gebot nötig wäre. Wir sind zwar gesetz- ANMERKUNGEN 207 gebende Glieder eines durch Freiheit möglichen, durch prak- tische Vernunft uns zur Achtung vorgestellten Reichs der Sitten, aber doch zugleich Untertanen, nicht das Oberhaupt desselben. Hiermit stimmt aber die Möglichkeit eines solchen Gebots, als: Liebe Gott über alles und deinen Nächsten als dich selbst, ganz wohl zusammen. Denn es fordert doch, als Gebot, Achtung für ein Gesetz, das Liebe befiehlt, und über- läßt es nicht der beliebigen Wahl, sich diese zum Prinzip zu machen. Aber Liebe zu Gott als Neigung (pathologische Liebe) ist unmöglich; denn er ist kein Gegenstand der Sinne. Eben dieselbe gegen Menschen ist zwar möglich, kann aber nicht geboten werden ; denn es steht in keines Menschen Vermögen, jemanden bloß auf Befehl zu lieben. Also ist es bloß die prak- tische Liebe, die in jenem Kern aller Gesetze verstanden wird. Gott lieben, heißt in dieser Bedeutung, seine Gebote gerne tun ; den Nächsten lieben, heißt, alle Pflicht gegen ihn gerne aus- üben. Das Gebot aber, das dieses zur Regel macht, kann auch nicht diese Gesinnung in pflichtmäßigen Handlungen zu haben, sondern bloß danach zu streben gebieten. Denn ein Gebot, daß man etwas gerne tun soll, ist in sich widersprechend, weil, wenn wir, was uns zu tun obliege, schon von selbst wissen, wenn wir uns überdem auch bewußt wären, es gerne zu tun, ein Gebot darüber ganz unnötig, und, tun wir es zwar, aber eben nicht gerne, sondern nur aus Achtung fürs Gesetz, ein Gebot, welches diese Achtung eben zur Triebfeder der Maxime macht, gerade der gebotenen Gesinnung zuwider wirken würde. Jenes Gesetz aller Gesetze stellt also, wie alle moralische Vor- schrift des Evangelii, die sittliche Gesinnung in ihrer ganzen Vollkommenheit dar, so wie sie als ein Ideal der Heiligkeit von keinem Geschöpfe erreichbar, dennoch das Urbild ist, welchem wir uns zu nähern, und in einem ununterbrochenen, aber unendlichen Progressus gleich zu werden streben sollen. Könnte nämlich ein vernünftig Geschöpf jemals dahin kommen, alle moralische Gesetze vöUig gerne zu tun, so würde das so- viel bedeuten, als, es fände sich in ihm auch nicht einmal die Möglichkeit einer Begierde, die es zur Abweichung von ihnen reizte; denn die Überwindung einer solchen kostet dem Sub- 2o8 ANMERKUNGEN jekt immer Aufopferung, bedarf also Selbstzwang, d. h. innere Nötigung zu dem, was man nicht ganz gern tut. Zu dieser Stufe der moralischen Gesinnung aber kann es ein Geschöpf niemals bringen.» S. 104. Vgl. Romeo und Julia, II, 2. Julia: My bounty is as boundless as the sea, My love as deep : the more I give to thee, The more I have, for both are infinite. S. 173. Alle folgenden Bruchstücke gehören dem 11. Bande des Nachlasses an (Theologica 1793 — ^79^)- S. 176. Von Haym schon mitgeteilt (Hegel und seine Zeit S. 473—474)- S. 184. Vgl. Matth. XIX, 8. Asys*. aOTors • Sti Mwüj^s ^^p^s '"i"' jxXr^poxapSiav üfimv lusxps'4'ev u[ilv dT^oXOaa'. läc; y'J^*^^*? jjiwv. S. 204. Vgl. Nathan II, i. Sittah: Du kennst die Christen nicht, willst sie nicht kennen. Ihr Stolz ist: Christen sein, nicht Menschen. Denn Selbst das, was, noch von ihrem Stifter her, Mit Menschlichkeit den Aberglauben würzt. Das lieben sie, nicht weil es menschlich ist: Weil's Christus lehrt, weil's Christus hat getan. Wohl ihnen, daß er ein so guter Mensch Noch war! Wohl ihnen, daß sie seine Tugend Auf Treu' und Glauben nehmen können. 10 INHALT Vorwort S. V Einleitung S. VII Das Leben Jesu S. i Theologische Fragmente S.75 Das Judentum. Auftreten Jesu. Jesus bekämpft die objektiven Gesetze der Juden. Versöhnung des Schicksals und Oifen- barung des Götthchen durch die Liebe S. 75 Aufhebung der objektiven Gebote durch die Gesinnung. Ver- vollständigung der Gesinnung durch die Liebe . . . S. 83 Verhalten Jesu gegen die Objektivität der jüdischen Gesetze. Schrankenlosigkeit der Liebe. Das Abendmahl eine Hand- lung der Liebe S. 86 Vereinigung aller Gegensätze in der Liebe. Die Liebe als Verzicht auf Individualität. Die Scham eine Wirkung der Liebe. Gütergemeinschaft S. 100 Historische Entwickelung des Judentums. Knechtschaft der Juden. Jesus isoliert sich von seinem Volk. Sein nega- tives Verhältnis zur Welt. Vereinigung der Gemeine im Glauben an Jesum. Darstellung der Liebe in objektiver Form. Entwickelung der Liebe zur Objektivität der Re- ligion. Vergötterung des auferstandenen Jesus. Beigesel- lung des Götthchen und des Wirklichen. Anbetung auch des Ungöttlichen. Das Wunder. Gegensatz der christ- lichen Religion und des Lebens S. 106 Der Gottes- und Menschensohn. Vereinigung der Menschen mit Gott im Glauben. Die Taufe. Das Königreich Gottes ein Reich der Liebe. Die Gemeine der Jünger. Be- schränkung ihrer Liebe auf gemeinschaftlichen Glauben und gemeinschaftliche religiöse Handlungen. Abwendung der Gemeine von gewöhnlichen Lebensformen . . . S. 124 Das Schicksal und seine Versöhnung S. 144 Jesus isoliert sich von seinem Volke. Hilflosigkeit seiner Jünger nach seinem Tode. Ihre Einigkeit in der Anbetung des Auferstandenen wieder dargestellt S. 159 Moral Jesu ; die Bergpredigt. Religion ; Einigkeit der Men- 210 INHALT sehen im Anschauen Gottes. Geschichte; das Verhähnis Jesu zur Welt; Ausbreitung seiner Lehre; Parabeln . S. 164 Moral Jesu. Heuchelei der Pharisäer. Beten und Fasten, Verachtung der Reichtümer usw. Gesetzlosigkeit der Liebe S. 169 Das Schicksal und seine Versöhnung. Das Judentum. Wieder- herstellung schöner Harmonie durch die Liebe und die Vergebung der Sünden. Aufhebung aller Einseitigkeiten der einzelnen Tugenden durch die Liebe. Ergänzung der Gesetze und Pflichtgebote. Wegfall aller Bestimmtheiten im Glauben. Das Göttliche als reines Leben. Der Gottes- und Menschensohn. Der heilige Geist S. 173 Verhältnis Jesu zur Welt. Haß gegen ihn S. 191 Knechtschaft der Juden. Moral Jesu. Reich Gottes. Ver- vollständigung der Gesetzlichkeit durch die Gesinnung. Steigende Erbitterung Jesu gegen seine Zeit. Religion das Komplement der Liebe. Einheit der menschUchen und der götthchen Natur S. 194 Die Apostel. Verhältnis des Sokrates zu seinen Schülern S. 203 Anmerkungen S. 205 DRUCK VON DER OFFIZIN F. A. LATTMANN IN GOSLAR ADDENDA ET CORRIGENDA S. 13 Z. 5 V. u. lies: Schönheit, S. 15 Z. 20 V. o. [Die allgemeine Regel der Klugheit ist: «Was ihr wollet, daß es euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch», die Regel der Sittlichkeit:] «Was ihr wollen könnet usw. S. 22 Z. II V. o. lies: wem aber S. 22 Z. 8 V. u. lies: Früchte trägt. S. 22 Z. 4 V. u. lies: kam sein Feind S. 32 Z. 6 V. o. Hes: bis auf siebzigmal siebenmal. S. 34 Z. IG V. o. lies: bestimmt zu verstehen haben. S. 38 Z. 5 V. o. lies: an hergebrachte Meinungen und Gebräuche S. 39 Z. 8 V. o. lies: Baum; S. 43 Z. IG V. u. lies: den einen, S. 53 Z. 16 V. u. lies: In Beziehung hierauf S. 54 Z. I V. o. lies: der Regenten S. 64 Z. 8 V. o. lies: Du S. 72 Anm. lies: ^). S. 73 Anm. lies: A.q(uv «cps-:: tStoiuv S. 82 Z. 14 V. u. lies: stellet. S. 83 Z. 5 V. o. lies: uuo S. 83 Z. 6 V. o. lies: lyzw oti S. 86 Z. IG V. u. und reine Entgegensetzung, offener Krieg ent- steht, S. 86 Z. 6 V. u. sich von seinen Wellen ohne Bewußtsein fort- tragen zu lassen, S. 93 Z. 17 V. u. lies: ja, ja, nein, nein; S. 105 Z. 1 1 V. o. lies: das das andere S. III Z. 9 V. o. lies: rücksichtslosesten S. III Z. 12 V. u. lies: isolierte S. 112 Z. 18 V. u. lies: Zerrüttung S. 125 Z. 13 V. o. Das Einzelne, Beschränkte, als Entgegengesetz- tes, Totes, ist zugleich ein Zweig des unendlichen Lebensbaumes; jeder Teil usw. S. 1 3 5 Z. 1 5 V. o. mit dem ihr nichts gemein habet und mit wem ihr die Gemeinschaft aufhebet; was ihr usw. EUGEN DIEDERICHS VERLAG IN JENA HEGELS RELIGIONSPHILOSOPHIE. In gekürzter Form, mit Einführung, Anmerkungen und Erläuterungen herausgegeben von Arthur Drews. Brosch. Mk. 13. — , geb. Mk. 15. — Monatsschrift für 'kirchliche Praxis: Drews g^ibt den Text in verkürzter Form, wozu ihn schon die Eigenart dieser Schrift Hegels als eines Nachlasses und von H. nicht selbst de- finitiv redigierten Werkes berechtigt. Anmerkungen und zum Teil kritische Erläuterungen sind hinzugefügt. Eingeleitet wird die Aus- gabe durch eine Skizze über den Entwicklungsgang der neueren Philosophie, die in eine Charakteristik des Systems H.s mit besonderer Berücksichtigung seines allmählichen Werdens ausmündet. Drews erwartet, ohne sich mit H.s Auffassung von der Religion und Philo- sophie zu identifizieren, doch vom Anschluß an den ideaHstischen Mo- nismus H.s die Gewinnung einer aus unserem eigenen (germanischen) Geist herausgeborenenr. Religion, die die fremdrassigen Elemente des Christentums sieghaft abstößt. H. konnte diese ihm ursprünglich vor- schwebende Aufgabe nicht lösen, weil er allzu nachgiebig gegen die kirchliche Religion war. So vermittelt diese Ausgabe nicht bloß die Bekanntschaft mit H.s Religionsphilosophie, sie lehrt auch einen \"er- such zur Weiterbildung der Religion oder \''ersöhnung von Glauben und Wissen kennen, der auch die von Drews als philosophisch un- haltbar charakterisierte christliche Theologie interessiert. O. S. ARTHUR DREWS, DIE RELIGION ALS SELBSTBEWUSST- SEIN GOTTES. Eine philosophische Untersuchung über das Wesen der Religion. Brosch. Mk. 12. — , in Halbfranz ge- bunden Mk. 14. — Gegenüber der modischen rein empirischen und psychologischen Auffassung der Religion faßt der bekannte Hochschulprofessor in Karlsruhe das Problem der Religion als ein wesentlich metaphy- sisches auf, gegenüber dem Theismus der bestehenden Religionen vertritt er den Standpunkt des Pantheismus. Dabei wendet sich das Werk besonders auch gegen die herrschende Richtung der pro- testantischen Theologie, die, unter Verwerfung des christlichen Dog- mas, das gesamte Christentum zu einem Kultus der rein menschlichen Persönlichkeit Jesu verdünnen möchte. Es zeigt, daß eine Weiter- entwicklung der Rehgion und eine Gesundung der religiösen Zustände nicht durch ein Zurückschrauben der bisherigen Entwicklung zu ihrem Ausgangspunkt, wie Harnack und seine Anhänger möchten, sondern durch Fortbildung der in jenen enthaltenen Keime aus dem innersten Wesen der Religion heraus möglich ist. UC SOUTHERN REGIONAL LIBRARY FACILITr A 000 647 050 4